Der Moment, an dem meine Gedanken festhalten
Ich trat mit geschlossenen Augen aus dem Zug und reckte meinen Kopf in die frische Luft. Sogleich strömte mir der wunderbare Duft von blühenden Feldern in die Nase. Ich öffnete meine Augen und hörte ein: „Hier!“ Sofort drehte ich mich um und erblickte ihn. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich versuchte extra lässig zu ihm zu schlendern. Eigentlich hatte ich dies gar nicht mehr nötig, an diesem Punkt kannte er schon zu viele nicht perfekte Seiten von mir. „Hübsch siehst du aus“, meinte er schelmisch grinsend, als ich neben ihm stand. Ich blickte in seine ozeanblauen Augen. „Passend?“, wollte ich wissen. Er nickte immer noch grinsend, und schlang seine Arme um mich. Nach der Umarmung fassten wir uns wie selbstverständlich an den Händen und er zog mich hinter sich her, weg vom Bahnhof.
Der kurze Weg durch das kleine Dorf verlief schweigend. Ich beobachtete ihn stumm- wie perfekt er nicht aussah. Dann rief ich mir allerdings wieder ins Gedächtnis was mir gleich bevorsteht, und in meinem Bauch bereitete sich ein ungutes Gefühl aus. Er bemerke, dass sich mein Körper verkrampfte, drückte beruhigend meine Hand, und blieb stehen. „Wir sind da“, murmelte er und deutete mit dem Kopf auf das Haus vor dem wir standen. „Sieht hübsch aus“, antwortete ich, und musterte das Gebäude genauer. Es war ein weißes, kleineres Reihenhaus mit gepflegtem Vorgarten. Ich wollte gerade die Frage stellen, wer denn eine solche Freude an der Gartenarbeit hätte, als er plötzlich sagte: „Dazu werde ich höchstwahrscheinlich den ganzen Nachmittag keine Gelegenheit mehr haben.“ Er packte mein Gesicht mit beiden Händen, zog es zu sich, und legte seine Lippen verlangend auf meine. Nachdem sich die erste Überraschung gelegt hatte, erwiderte ich stürmisch, und zog seinen Kopf noch näher an meinen. Ich schlang gerade meine Arme um seinen Hals, als sich plötzlich jemand laut und provokant räusperte. Sofort schnellten wir auseinander. In der Tür stand eine freundlich aussehende Frau in den Vierzigern, die spöttisch eine Augenbraue hochzog. „Mama, Laura, Laura, meine Mutter “, stellte er uns mit hochrotem Kopf vor. Ich, ebenfalls rot wie eine Tomate, ging auf sie zu, schüttelte ihre Hand, und murmelte eine Begrüßung. Der Scham stand mir ins Gesicht geschrieben. „Na dann kommt mal rein“, lachte sie jedoch fröhlich und hielt uns die Tür auf.
Sie nahm mir, ganz die höfliche Gastgeberin, meine Jacke ab, verschwand in einem Zimmer und klapperte mit Geschirr. Während ich mir unsicher meine Schuhe auszog, kam sie mit einem riesen Teller voll Kuchen zurück, stellte ihn in einem Zimmer auf den Tisch, und schrie zur Treppe hinauf: „Komm runter, unser Gast ist da!“ Sie deutete uns in das Zimmer, offensichtlich das Wohnzimmer, zu gehen: „Setzt euch. Was möchtet ihr trinken? Tee?“ Ich nickte. „Gut, kommt sofort“, meinte sie. „Am liebsten hätte ich jetzt ein Glas Wodka zur Beruhigung“, meinte ich nervös lachend. „Du bist einfach unverbesserlich“, schmunzelte er und streichelte zärtlich meine Hand. „Hallo!“, schallte es plötzlich laut durch den Raum. Erschrocken drehte ich mich um. Da stand er. „Papa, Laura, Laura, mein Vater“, wurden wir uns vorgestellt. Ich stand auf, und wir schüttelten uns die Hände. Wir setzten uns und da kam auch schon der Tee.
So saßen wir nun zu viert am Tisch, schweigend, bis seine Mutter diese Ruhe brach: „Greift zu.“ Alle beluden ihre Teller mit Kuchen. „Ein Tischgebet“, sagte sein Vater plötzlich „Laura, möchtest du?“ Meine Augen weiteten sich erschrocken- Oh shit- „Ich überlasse jemand anderem den Vortritt, ich bin nicht so religiös“, murmelte ich verlegen. „Nicht religiös?“ kam es sofort erstaunt zurück „Was soll das heißen?“ Oh Mist, er hatte mir ja gesagt, dass seine Familie recht gläubig war. Unverzüglich wurde ich vor seinem Vater mit Fragen über den christlichen Glauben im allgemeinen, und meiner persönlichen Einstellung dazu im speziellen, überhäuft. Mein Freund und seine Mutter tauschten einen leicht genervten Blick aus, und sagten dann beide gleichzeitig: „Hör auf! Du kannst sie doch nicht so ausfragen!“ Seine Mutter begann ein Gebet zu sprechen, und ich seufzte erleichtert auf. Mein Freund warf mir einen beruhigenden Blick zu.
Wir begannen zu essen, und so war es eine Zeit lang still. Als alles restlos verputzt war und seine Mutter mit dem Aufräumen begann, sprang ich sofort ganz vorbildlich auf um ihr zu helfen. In der Küche wollte ich ihr noch unbedingt das Rezept für den Kuchen entlocken. „Du backst gerne?“, wunderte sie sich. Ich nickte: „Sie auch habe ich gehört.“ Sie lächelte, setzte sich auf einen Stuhl und schrieb mir das Rezept auf. Als sie mir den Zettel reichte schmunzelte sie: „Ich finde es übrigens nicht schlimm, dass du nicht so religiös bist, solange es reicht, dass ihr kirchlich heiratet.“ Ich lachte, sie wurde mir immer sympathischer: „Und jetzt wieder ab zurück ins Esszimmer.“ Ich trat durch die Tür. Mein Freund und sein Vater verstummten augenblicklich. Verunsichert blieb ich stehen. Doch dann ging ich weiter und setzte mich- selbstbewusst wirken.
Das restliche Gespräch verlief eigentlich recht gut. Wir unterhielten uns recht viel über Politik und das aktuelle Weltgeschehen. Doch darauf war ich vorbereitet, und hatte mich gestern sogar extra noch ausreichend informiert. Auch einige Wissensfragen wurden von seinem Vater eingeworfen, aber da meine Allgemeinbildung recht gut war konnte ich diese großteils zufriedenstellend beantworten.
Als es für mich Zeit war nach Hause zu fahren, begleiteten mich die drei zur Tür. Ich verabschiedete mich höflich von seinen Eltern. Meinen Freund umarmte ich „nur“ -ganz vorbildlich. „Hat doch perfekt geklappt, oder?“, flüsterte er mir zu. Ich nickte zustimmend. Das sagte sein Vater auf einmal: „Eine Frage habe ich noch.“ Er machte eine kurze Pause. „Wann habt ihr euch eigentlich verliebt?“ „Ich denke, dass war da, als du bei mir eingeschlagen hast, als wir früher Unterricht aushatten“, sagte mein Freund.
„Und woran erkennt man eine Lüge?“ Ja, genau- eine Lüge ist das. „Laura!“ Ich wurde von meiner Sitznachbarin angestupst. Ich schaute auf. Denn nur ich habe mich in dich verliebt. Nein- eine weitere Lüge denn dies passierte eigentlich schon viel früher. So schwieg ich. Alle schauten mich an- er auch. „Wo steht dir denn der Kopf? Hör endlich auf mit dem Tagträumen!“, meinte meine Lehrerin finster, und trug mir ein weiteres Minus ein. Doch ich bemerkte dies gar nicht, denn ich schaute nur ihm in die Augen. Wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Denn länger, länger hast du mich eh noch nie angesehen.