Der Misanthrop
Man liegt noch recht früh an einem Sonntagmorgen im Bett und verfällt in eine Art Dämmerzustand. Draußen ist es still und friedlich, vereinzelt sind der innbrünstige Gesang der Vögel in der Ferne und das leise Rauschen der Blätter zu hören. Dorfidyll.
In einer Stunde etwa würde man aufstehen müssen, sich aus seinen kuscheligen Federn erheben, widerwillig die Schlafkleidung abstreifen, die Rollladen hochziehen und etwas brummig doch routiniert den neuen Tag beginnen.
Doch soweit ist es noch nicht, das hat alles noch Zeit. Jetzt hat man erstmal das Recht, ein wenig vor sich hinzudösen und seinen eigenen süßen Träumereien nachzuhängen.
Können Sie sich das vorstellen?
Man wäre für eine Stunde im Himmel.
Doch dieses feine Idyll wird plötzlich von einem Stille zerfetzenden Geräusch gestört. Vor dem Fenster wird die Tür des Nachbarhauses aufgerissen, schwere Reitstiefel poltern laut das kleine Treppchen hinunter. Gellendes Kindergekreische und unregelmäßiges Herumgemaule folgen.
Man öffnet entnervt das eine Auge und hofft intuitiv, die Störenfriede mögen Ruhe geben. Noch ist es nicht zu spät, noch befindet man sich haarscharf an der Grenze zwischen Schlaf- und Wachzustand.
Dann verdichtet sich der Klangteppich, hinzukommen die penetrante, zeternde Stimme der Frau Nachbarin, die ihren Nachwuchs dazu bringt, halbwegs geordnet in den Wagen einzusteigen. Lautes derbes Lachen, das Knallen von Autotüren. Dann schlägt der Hund an.
Man seufzt tief und wehleidig. Man sieht die Ruhe seines Paradieses bedroht. Nahezu trotzig schließt man sein eines offenes Auge wieder, und versucht nun, sich auf Teufel komm raus, zu entspannen.
Es ist früher Sonntagmorgen, ich habe schließlich das Recht dazu!
Doch dann jault vorm Fenster der Motor aus Nachbars Schrottkarre auf. Zuerst ist es ein markerschütterndes Jaulen, dann ein Poltern, schließlich ein konstantes Knattern. Unterstützt wird die Zeremonie vom lauten Singsang der Kinder und altweibischen Geplänkel der Frau Mutter.
Der natürliche, völlig gewöhnliche Nachbarnhass kehrt sich auf einmal in einen intuitiven, nahezu misanthropischen Hass auf die gesamte Menschheit um. Man regt sich darüber auf, dass diese Dilettanten den ganzen Morgen, wenn nicht sogar den gesamten Sonntag zunichte gemacht haben. Die Gedanken beißen sich genau dort fest. Man bekommt eine Mordswut auf die plärrenden Kinder, auf die verblödete Frau, den verfluchten Köter. Seine Abscheu und den Ärger versucht man damit zu stillen, dass man die Nachbarsfamilie nun als klaren Feind definiert. Man denkt sich blutrote Szenarien der Genugtuung aus…
Das hat nun nichts mehr mit Krach oder der verletzten Nachbarschaftsordnung zu tun.
Das ist psychologische Kriegsführung.
Kennen Sie das nicht?
Man geht letztendlich in seinen Gedanken soweit, dass man sich wünscht, die Nachbarn möge der Teufel persönlich holen! Dies verschafft immerhin ein wenig Zufriedenheit, und so schafft der Geist es, wenn auch mit großem Bemühen, halbwegs zur Ruhe zu kommen.
Dann wird wieder die Stille des Morgens zerfetzt.
Diesmal ist es ein lang gezogenes, markerschütterndes Quietschen von Bremsen in der Ferne. Bevor man begreift, was passiert, erschüttert ein gewaltiger, blecherner Knall die Welt. Haustüren werden Sekunden später aufgerissen, entsetzte Nachbarn stürmen heraus, um am Unfallort zu gaffen, lautes Jammern der Augenzeugen. Der Hund schlägt wieder an, diesmal mit gar erbärmlicher Stimme. Man reißt mit einem Male die Augen auf, und versucht, mit pochendem Herzen, die Gespräche der unten auf der Straße versammelten Menschenmenge zu verarbeiten. Es herrschen Verwirrung, Schockzustand und Chaos. Bald werden gellende Sirenen in der gesamten Nachbarschaft zu hören sein. Die durch das frühe Sonnenlicht vergoldete Landschaft wird von dem kalten Blau der Krankenwagenlichter übermalt werden.
Sind sie alle tot? Drückt das schlechte Gewissen schon?
Man ist, ehe man sich versieht, hellwach.