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Der Menschenfresser von Paris
Der Mann ist etwa fünfzig, das Gesicht oval, die rasierten Wangen schimmern bläulich. Er hat eine Glatze. Die Augen sind von strahlendem Blau, der Blick offen, die Lippen sinnlich. Sicher haben ihn die deutschen Fernsehjournalisten gebeten, ein paar Worte in die Kamera zu sprechen. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, sagt er: "'allo, isch bin der Mensenfresser von Pari".
Eine betroffen dreinblickende Nachrichtensprecherin kommt ins Bild und bombardiert die Zuseher mit Fakten, Fakten, Fakten: "Grausige Geständnisse aus dem Mund des Pariser Haubenkochs Jean Paul Jardin, bekannt als Monsieur Pierre, der in seinem Restaurant Le Canard über Jahre Menschenfleisch zubereitet haben soll. Die Pariser Polizei vermutet einen direkten Zusammenhang mit dem Verschwinden von sechzehn Touristinnen."
Bildwechsel zu Karl Lagerfeld, der wild gestikulierend Wortkaskaden von sich gibt: "...warjaganzvorzüglich ...immerfreundlichundleger ...aberdassessogekommenist ..."
Zuhören ist nicht einfach, wenn die Gedanken abschweifen. Ist unser kulturelles Niveau so weit abgesunken, dass wir nichts dabei finden, wenn einer seine Mitmenschen ermordet und sie als Schmorbraten in Weinsauce mit Blattsalat auf den Tisch bringt?
"Einspruch!" rief der Verteidiger,
"Mein Mandant würde n-i-e-m-a-l-s so zartes Fleisch, das so viele Möglichkeiten der Zubereitung offen lässt, SCHMOREN und dann in Weinsauce servieren. Das ist eine bösartige Verleumdung, die der Staatsanwalt an den Haaren herbeigezogen hat. Außerdem, hohes Gericht, ist der Gegenstand dieser Verhandlung nicht Kannibalismus, sondern Mord und Störung der Totenruhe."
"Ha!" rief der Staatsanwalt und sprang theatralisch auf, "Sie wollen uns doch nicht einreden, dass er kein einziges Mal gekostet hat!"
Die Regenbogenpresse folgte der Verhandlung, als wäre es das Endspiel der Fußball-WM. Anfangs war die französische Öffentlichkeit empört, dann beruhigte sich die Stimmung, als man erfuhr, dass keine Französinnen unter den Opfern waren - um wie die Flamme im Gasherd einer Großküche aufzuflammen, als Jardin im Kreuzverhör gestand, dass er das Fleisch der Einheimischen für minderwertig hielt, weil diese zu viele Tabletten schluckten.
Das öffentliche Interesse wandte sich einer Welt der Sinnlichkeit und der Perversion zu, einer Welt der Düfte und der Gaumenfreuden avec un parfum de la mort, serviert mit guten Weinen auf weißen Tischtüchern bei Kerzenschein. Jardin war ja schon lange als Exzentriker bekannt, als einer, der behauptete, für Jupiter im Olymp gekocht zu haben. Manchmal soll er in Rüschenhemd und Perrücke in die Küche gekommen sein und erklärt haben, Ludwig XIV. habe ihm persönlich die Speisenfolge diktiert.
Die deutschen Fernsehzuschauer schüttelten bei solchen Meldungen den Kopf und nahmen begierig alle Informationen zu dem Fall auf, die sie bekommen konnten.
"Man darf die Fleisch nischt nehme von die Tier, wo (wie sagt man?) bewege su-viel." sagte ein Mitherausgeber des Gault Millau im ARD-Morgenmagazin.
Deshalb hatte Monsieur Pierre sich immer auf die Busse voller dicker Touristen gefreut, die bis in die kleinste Gasse auf dem Montmartre fuhren, damit die Insassen nur ja keinen Schritt zu Fuß gehen mussten. Freilaufende Menschen sind zu sehr von Muskelmasse durchzogen, was die Möglichkeiten der Zubereitung beschränkt.
Es war erstaunlich, wie wenig sich die Öffentlichkeit für die Opfer interessierte, bis eine holländische Mutter ganz aufgelöst von ihrer 15-jährigen Tochter erzählte. Diese Bilder waren der Tagesschau immerhin einen zweiminütigen Beitrag wert. Die Frau sagte, dass ihre Tochter ein sanftes Kind war, dass sie nie geraucht oder getrunken hatte und jeder sie mochte. Ein Foto von einem pummeligen Mädchen als stumme Anklage neben der Föhnfrisur eines Nachrichtensprechers. Ein holländischer Privatsender wollte den Unhold damit konfrontieren. Die Justiz erlaubte ein Interview. Der Effekt war leider nicht der gewünschte.
Wir sehen wieder das ovale Gesicht von Monsieur Pierre. Was sagt er? Er stößt einen Schwall Französisch aus. Endlich erscheint die Übersetzung als Untertitel: "Sagen Sie dieser Frau ..."
Ja, was? Was willst Du einer Mutter sagen, deren einziges Kind du umgebracht hast?
Die Untertitel laufen weiter: "Sagen Sie dieser Frau, dass ihre Tochter eine Göttin war. Sagen Sie ihr, dass sie einen wundervollen Körper hatte. Versichern Sie ihr, dass ich ihr herrliches Fleisch mit dem gebührenden Respekt behandelt habe: einen vollen Tag lang eingelegt in Milch, das schwöre ich bei allen Heiligen! Ihren Bauch habe ich mit frischem Oregano und Knoblauch knusprig gebraten und dann an mit Walnussöl parfümiertem Ruccolasalat serviert. Sagen Sie ihr, dass ihre Tochter für meine Gäste ein Vorgeschmack auf ein duftendes Paradies war, dass sie eine Freude war, dass alle sie geliebt haben!"
Auch ihm liefen die Tränen über die Wangen: "Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe."
Rein juristisch gesehen war es nur ein weiterer Fall von Kannibalismus. Warum machte die französische Justiz die Morde nicht zur Hauptsache, sondern konzentrierte sich so sehr darauf?
Der Journalist Alfred Bloch, die liebenswürdige Stimme Frankreichs über dem gern gesehenen Doppelkinn, erklärte dem deutschen Publikum, dass es wohl daran lag, dass Menschenfresserei ein so seltenes und abscheuliches Verbrechen sei.
"Im Strafgesetzbuch sucht man sie vergeblich."
"Das macht es ja so interessant. Die Justiz betritt Neuland und Sie werden zugeben, die Behandlung der Opfer macht die Sache delikat."
Den nächsten Skandal in der Sache gab es, weil die Staatsanwaltschaft die Geständnisse Jardins nicht verwerten konnte. Alle schienen sich darin einig zu sein, dass der Mann "eben ein Künstler" war. Weil es sonst keine stichhaltigen Beweise gab, endete das Verfahren mit einem Freispruch. Die Beweismittel waren ja durch die Bäuche der Haute Volee gegangen und durch die Tonne mit Schlachtabfällen ganz hinten in der Küche von Le Canard. Die Angehörigen der Opfer lassen sich aber nicht so einfach abspeisen und haben Ed Fagan engagiert, damit er eine Sammelklage vorbereitet.
Eine Frankreich-Korrespondentin kommt ins Bild und macht einen Scherz über den Menschenauflauf vor Jardins Restaurant. Es ist früher Morgen in Paris und die Kamera begleitet Monsieur Pierre auf seinem Heimweg. Seine Schritte hallen über das Kopfsteinpflaster am Montmartre. man riecht beinahe den Cafe au Lait und die Croissants in den Straßencafes. Monsieur Pierr grüßt lässig die Kellner mit den langen Schürzen und den Boulanger von nebenan: "Wie schön, Sie wiederzusehen, Monsieur!"
Aber was ist das? Vor der Tür des Restaurants steht ein Polizist, um die hungrige Kundschaft abzuweisen. Im Laufe der Verhandlung sind nämlich Verstöße gegen Hygienevorschriften in der Küche zutage getreten, besonders als Jardin die Zerteilung der Leichen schilderte und weitschweifig erklärte, was er mit den inneren Organen machte. Er verglich diesen Prozess mit dem Komponieren einer Sinfonie.
Die Korrespondentin fragt ein deutsches Ehepaar in kurzen Hosen: "Was führt SIE hierher?"
Die Frau gesteht etwas verlegen: "Naja, wir haben so viel davon gehört, da wollten wir es einfach mal probieren. Aber man bekommt ja keinen Platz mehr."