Der Marathonläufer
DER MARATHONLÄUFER
Eine Erzählung, frei nach der Geschichte des haitianischen Marathonläufers Dieudonne Lamothe.
„Ti Zwazo kote ou prale/ Mwenn prale kay fiyét lalo…" Leise vor sich hin summend läuft Alain mit der umgehängten großen Briefträgertasche die Rue Magny hinauf, kreuzt hastig von Straßenseite zu Straßenseite, um Geschäftsbriefe, Rechnungen, Liebesbriefe oder Postkarten bei den Adressaten in die Briefkästen einzuwerfen. Von der Rue Magny biegt er rechts in die Rue Chavannes ein, dann links in die Rue Geffrard und vorbei an der Église St-Pierre in die Rue Grégoire. Ganz Pétionville, der kühle 800 Meter über Port-au-Prince gelegene Villenort, gehört zu seinem Zustellbezirk, der dann noch weiter in die Berge, beinahe bis ins doch schon recht kalte Kenscoff reicht. Alain läuft schnell, barfuß. Schuhe hat er noch nie besessen. Er muss schnell laufen, denn die Anwohner seines Zustellbezirks sind einflussreiche Leute. Und sie erwarten von ihm nicht nur Briefe, Rechnungen oder bunte Postkarten, die er während des Laufens manchmal betrachtet. Ohne seinen Schritt zu vermindern, träumt er dann von nie gesehenen Ländern, malt sich aus, wie die Menschen dort wohl lebten.
Eigentlich könnte er seine tägliche Arbeit viel rascher, vermutlich schon nach fünf, sechs Stunden beenden, wenn er nur die Post austragen müsste. Nicht jeder Haushalt erhält jeden Tag einen Brief oder eine Postkarte. Weil seine Kunden in Pétionville aber nicht nur die heimischen Zeitungen, den "Haiti Observateur", "Le Nouvelliste" oder "Le Petit Samedi Soir", sondern auch ausländische Zeitungen lesen, "Le Monde", "Le Matin" oder den "Miami Herald", muss er ihnen auch diese Tageszeitungen möglichst früh an die Haustür bringen. Einmal hatte er versucht, sich die Arbeit zu erleichtern. Er hatte die Post, Zeitungen und Werbesendungen, die für die etwas entlegeneren Briefkästen bestimmt waren, einfach nicht täglich ausgetragen. Er hatte sie drei oder vier Tage gesammelt, so dass es sich auch lohnte, diese Umwege zu machen. Aber da hatten sich Postkunden beim Chef beschwert, sie bekämen die Zeitungen so spät. Verständnislos hatte er seinen Kopf geschüttelt. Auch Céline, seine Frau, hatte sich gewundert, als er ihr zuhause von der Rüge erzählte, dass die Leute es so eilig hatten, ihre Zeitungen zu lesen. Sie waren doch ohnehin schon einen oder gar zwei Tage alt. Darum jedenfalls muss er sich gewaltig sputen. Schließlich muss er jeden Tag über zwanzig Kilometer zurücklegen, und natürlich will er seinen Job nicht verlieren.
Am meisten halten ihn die Postwurfsendungen auf. Damit muss er zu jedem Briefkasten, darf aber jeweils nur ein Exemplar der Postwurfsendung einwerfen. Alain hasst diese Prospekte, auf denen für Dinge geworben wird, die er nie im Leben besitzen wird, deren Sinn und Zweck er oftmals nicht einmal erkennen kann. Manchmal betrachtet er die bunten Bilder, auf denen komplizierte technische Apparaturen angepriesen werden, Maschinen, die in seiner bescheidenen Hütte ohne Strom völlig fehl am Platz wären: Radiogeräte oder Fernsehgeräte, Apparate, mit denen man sich ohne Wasser und Seife rasieren kann. Seltsame Maschinen sind das, die sehr viel Geld kosten. Nicht einmal für einen ganzen Jahreslohn könnte er sich so etwas kaufen.
Er weiß, dass die meisten Leute sie nicht einmal lesen, sondern sofort in den Abfall werfen. Dennoch muss er diese Werbebroschüren, die seine Brieftasche so erheblich beschweren, in jeden Briefkasten werfen, sogar in jene, auf denen der Vermerk "keine Werbung" angebracht ist. Er darf kein Haus dabei auslassen, auch nicht das entlegenste, so wie jene einsame Villa, die er nur über diese lange, gewundene Auffahrt von mindestens tausend Metern erreicht.
Einmal, nur wenige Wochen nach dem Zwischenfall mit den Zeitungen, hatte er sich einen Teil des Weges gespart, indem er in jeden Briefkasten einfach zwei oder gar drei der Werbebroschüren gesteckt hatte. So war er die gesamte Postwurfsendung schon auf halbem Weg losgeworden. Doch auch damals hatte es Beschwerden gehagelt. Manche Leute hatten ihrem Ärger, dass ihre Briefkästen "mit solchem Müll vollgestopft" waren, mit erbosten Anrufen bei dem Werbeträger Luft gemacht. Daraufhin hatte er vom Chef seine zweite Rüge erhalten. "Eigentlich müsste ich dich feuern", hatte der Boss gewütet, "Faulpelz" hatte er ihn geschimpft. Nur weil er sonst so zuverlässig und schnell arbeite, würde er "diesmal, und das ist das letzte Mal", von einer Entlassung absehen. Nach dieser Sache hatte er sich nie wieder etwas zu Schulden kommen lassen.
Er hatte gezittert und um seinen Job gebangt. Er weiß schließlich, wie glücklich er sich preisen kann, eine geregelte Arbeit zu haben. Auch wenn das Einkommen kaum für den Unterhalt seiner Familie reicht, liebt Alain seine Arbeit. Er hat es besser als die meisten seiner Nachbarn in Carrefour Feuilles, die arbeitslos den ganzen Tag beim Dominospiel vertrödeln. Er hat Arbeit, und diese Arbeit ist sauber. Er wird nicht täglich von Ruß und Rauch eingeschwärzt, wie die wenigen seiner Nachbarn, die wenigstens gelegentlich etwas Arbeit in der Herstellung von Holzkohle finden, aber noch weniger verdienen als er und zudem einen Teil ihrer geringen Einkünfte auch noch an die Polizisten abgeben müssen, so dass diese den illegalen Holzeinschlag nicht melden.
Alain ist auch stolz auf seine Arbeit. Vor drei Jahren hatte er den Job bekommen, weil er lesen und schreiben, somit die Adressen auf den Briefen lesen kann. Das hatte ihm vor vielen Jahren, als er noch unten beim Hafen in Cité Soleil lebte, Pater Martens beigebracht, der belgische Priester, der sich dort um die Erziehung von Slumkindern kümmerte. Inzwischen, so hat Alain neulich erfahren, ist Pater Martens gestorben. Er war es auch gewesen, der ihm zu der Anstellung verholfen hatte. Im Großen und Ganzen ist Alain mit sich und der Welt zufrieden.
Er kennt alle Hausmädchen oben in Pétionville, und sie helfen ihm. Immer geben sie ihm etwas Wasser zu trinken, aus durchsichtigen Plastikflaschen, in denen das Wasser wunderbar klar und blau aussieht, nicht so wie in Carrefour. Weil seine armselige Hütte dort - so wie alle Hütten in Carrefour - nicht an das Wasserversorgungsnetz angeschlossen ist, muss Céline jeden Tag das Wasser mit einem Eimer aus einem verschmutzten Brunnen holen. Es ist trübe und von einer milchig gelblichen Färbung. Oft stecken ihm die Hausbediensteten auch etwas zu essen zu, "für die Kleinen", wie sie lächeln, ein Stück Brot, eine Orange, manchmal gar einen Knochen, an dem noch etwas Fleisch hängt. Wenngleich er immer Hunger verspürt, bringt er diese Kostbarkeiten immer Julie mit, seinem kleinen Wirbelwind, wie er sie nennt, und Pierrot, dem Kleinen.
Mit einer dieser Hausangestellten trifft er sich regelmäßig. "Ich bin Éstelle, und wie heißt du", hatte sie ihn vor zwölf Monaten freundlich angelacht und ihm ein Glas Wasser gereicht. Sie war gerade aus Marche Juste gekommen, einem ziemlich unzugänglichen Ort, etwa 140 Kilometer westlich von Port-au-Prince, zu dem nur ein schmaler Weg führte. Von ihrem Dorf musste man zunächst etwa zehn Kilometer über Wiesen und Felder und durch Plantagen gehen, um bei Virgile die Straße zu erreichen, die über Miragoâne und Petit-Goave nach Port-au-Prince führt. Seither fegt sie jeden Morgen um die Zeit, da er auf seiner Tour vorbeikommen muss, die asphaltierte Garagenauffahrt im Hof ihrer Herrschaften. Sie mag Alain, er gefällt ihr, und dass er verheiratet ist, stört sie nicht im Geringsten.
Auch Alain genießt die junge Geliebte. Sie ist jung, jünger als Céline, hübsch, hübscher als Céline, ihre Haut ist hell, heller als üblich, heller als Célines Haut, und sie ist stets bester Laune. Sie gibt ihm mehr als einen Apfel, ein Tütchen Reis oder eine Handvoll Bohnen. Sie gibt ihm ihren Körper, ihren wunderbaren, jungen, festen Körper.
Céline's Körper hingegen beginnt bereits zu verwelken. Zudem ist sie immer damit beschäftigt, emsig die Hütte sauber zu halten, unten am Fluss auf großen runden Steinen die Wäsche zu waschen, dann in einem alten Plastikzuber, dessen Rot längst einem blassen, schmutzigen Rosa gewichen ist, auf dem Kopf nach Hause zu tragen, und die Hemden, Hosen, Röcke, Slips und Unterhosen anschließend an langen Plastikleinen vor der Hütte aufzuhängen, energisch die Kinder zu artigem Benehmen anzuhalten oder stundenlang mit den Nachbarinnen zu palavern. Wenn er nach Hause kommt, stellt sie ihm meist wortlos etwas Reis hin, sofern die Kinder nicht schon alles gegessen haben, und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Alles ist zu Routine erstarrt, sogar der Beischlaf, den er früher dreimal und heute nur noch zweimal in der Woche mit ihr pflegt, und der ihren Bauch jedes Jahr erneut anschwellen lässt.
Éstelle hingegen, ist einfallsreich, voll ausgelassener Phantasie, besonders wenn sie sich lieben. Wann immer er vorbeikommt auf seinem Weg - auch wenn er sich verspätet hat -, wartet sie auf ihn, um ihm mit dem bezauberndsten Lächeln, das er je gesehen hat, Wasser zu reichen. Wenn die Herrschaften verreist, weit fort sind, in Amerika oder in Europa, in exotischen Ländern, die er sich kaum vorstellen kann, kommt er nach Beendigung seiner Tour für eine oder zwei Stunden und manchmal sogar noch länger bei ihr vorbei. Dann zeigt sie ihm das Haus und erklärt ihm viele Dinge, Dinge, die gelegentlich in den Prospekten zu sehen sind, deren Bedeutung er aber bis dahin nicht gekannt hatte. So führte sie ihm einmal ein Gerät vor, das laut brummend den Staub und Schmutz vom Boden saugt und in einem Sack schluckt. Ein andermal schüttete sie Wasser und braunes Kaffeepulver in ein Gerät, aus dem dann wohlriechender Kaffee floss. Eine größere Maschine wäscht sogar das Geschirr, ohne dass sich Éstelle die Hände nass machen muss. Da steht eine Maschine, die Wäsche wäscht, eine andere, die sie trocknet. Manchmal schaltet sie das Fernsehgerät ein oder spielt ihm sanfte Merengue Musik vor. Nicht im Radio, wie nebenan in Carrefour bei Max - der, seit sein linkes Bein vor Jahren im Hafen unter einer abstürzenden Verladepalette zerquetscht worden war, zu nichts mehr taugt. Nein, er kann ihr einen Wunsch, einen Titel nennen, und dann legt sie kleine, silberne Scheiben in ein anderes dieser unbekannten Geräte, und schon ertönt die gewünschte Musik.
Am liebsten aber schaut er die Bücher an, die in langen Regalen an der Wand in exakten Reihen aufgestellt sind. Éstelle muss sie jeden Tag abstauben und verlangt immer, dass er sich die Hände wäscht, bevor er sich ein Buch herausgreift. Dann blättert er durch die Seiten und liest Éstelle vor, die ihm bewundernd lauscht. Viel hat er da schon gelernt. Dass auch Haiti Helden hatte. Toussaint Louverture, der an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt hatte. Doch die Franzosen verrieten ihre Ideale und Toussaint und ließen ihn in einem Gefängnis hoch in ihren Bergen erfrieren. Dessalines, der die Truppen des großen Generals Napoleon vernichtete, ihre Fahne zerriss und Haitis Unabhängigkeit erklärte. Er liest vom Aufbau und vom Niedergang großer Imperien, wo die Menschen schon vor tausend Jahren mehr wussten, als er jemals in der Lage sein wird, zu lernen. Er liest von Amerika und Russland, von Kontinenten und vom Universum, von unverständlichen Wissenschaften, die den Fortschritt der Menschheit garantieren, und vom Elend in Afrika. Alain könnte immerfort lesen, so spannend erscheinen ihm all die phantastischen Ereignisse und Dinge, die in diesen Büchern geschildert sind. Er kennt das Wort nicht, in anderen Gesellschaftskreisen aber würde er wohl als Bücherwurm belächelt.
Wenn zwar nicht Alain aber Éstelle genug von dieser Art Fortbildung hat, dann zieht sie ihn mit ihrem unwiderstehlich verführerischen Lächeln in ihre winzige Kammer, die so sauber ist, dass ihn jedesmal eine gewisse Scheu überkommt, sie zu betreten. Doch lachend wischt Éstelle mit einem Hinweis auf die Waschmaschine all seine Bedenken beiseite, drängt ihn auf die schmale Matratze, die den ganzen Raum auszufüllen scheint, flüstert ihm schöne Worte ins Ohr, führt seine Hände an ihre runden, festen Brüste, bedeckt sein Gesicht mit warmen, feuchten Küssen und drängt ihren schönen, grazilen Körper an ihn, so dass er die Bücher schnell vergisst.
Wenn die Herrschaften wieder zurück seien, so waren sie an einem dieser Nachmittage übereingekommen, wollten sie sich an Éstelles freiem Abend treffen. Seither sehen sie sich jeden Donnerstag nach Einbruch der Dunkelheit gleich hinter Pétionville in dem Wald an der Route de Delmas nach Kenscoff. Zumeist bleibt er dort dann die ganze Nacht, auch wenn sie längst in ihr kleines Kämmerchen zurückgekehrt ist. Dann liegt er da auf seiner kleinen Lichtung, die ihr Liebesbett geworden ist, einen Grashalm zwischen den Zähnen, immer noch von Éstelle's wunderbarem Duft umfächelt, träge und verträumt in die Sterne starrend, bis er zufrieden einschläft. Céline fragt nie, wo er die Nacht verbracht habe. Sie fragt ihn nie etwas. Sie weiß ohnehin, dass ihr Mann eine Geliebte hat, alle wissen es. Klatsch verbreitet auch die bestgehüteten Geheimnisse.
* * *
Hinter seinem großen, schweren Schreibtisch aus dunklem Mahagoniholz in seinem hellen, lichtdurchfluteten, klimatisierten Arbeitszimmer in dem weißen Nationalpalast mit dem gepflegten Rasen davor, den hohen Fahnenmasten und den alten gusseisernen Kanonen aus Dessalines‘ Zeiten verfolgt Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier enthusiastisch die olympischen Ausscheidungskämpfe der amerikanischen Leichtathleten im Fernsehen. Er ist beeindruckt von den Zahlen. "Weltrekord, neuer Weltrekord", kommentiert ein Reporter begeistert die Zeit der 100-Meter-Sprintstaffel.
Baby Doc drückt auf eine Taste an der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch, die ihn mit dem Vorzimmer verbindet. "Ich wünsche, dass wir auch eine Mannschaft zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles schicken", ruft er in die Sprechanlage. "Rufen Sie den Sportminister."
Auf ein zaghaftes Klopfen an der Tür, drückt Baby Doc einen verborgenen Knopf, der unter der Schreibtischplatte angebracht ist. Geräuschlos schwingt die Tür auf, in unterwürfig gebeugter Haltung tritt ein Beamter ein, hüstelt verlegen.
"Wann kommt der Sportminister", fragt Baby Doc, ohne den Blick von der Mattscheibe abzuwenden.
"Ja, äh, hm, also, das ist so, äh, also wir haben keinen Sportminister", ringt sich der Beamte endlich zu der gefährlichen Aussage durch.
"Wir haben keinen Sportminister", zieht Baby Doc die Augenbrauen hoch. "Dann muss ich sofort einen berufen." Er versinkt in Nachdenken, trommelt mit einem goldenen Kugelschreiber auf die Tischplatte. "Wir haben doch einen hervorragenden Tennisspieler, wie heißt er noch?"
"Ronald Aginor", erwidert der Beamte, "er zählt zu den besten Tennisspielern der Welt."
"Er hat also gute Aussichten, eine Medaille zu gewinnen", stellt Baby Doc zufrieden fest. "Rufen Sie sofort den Vorsitzenden des Tennisclubs in Pétionville an. "Ach ja", ruft er dem Beamten nach, der sich schon zur Tür wendet, "rufen Sie auch den Arbeitsminister. Der müsste doch auch noch von ein paar Talenten wissen. Also gehen Sie schon, machen Sie sich an die Arbeit."
Später, am Nachmittag, geht eine Pressemitteilung über die Ernennung des neuen Sportministers an die Zeitungen und Rundfunkstationen, verbunden mit einem Aufruf "an alle Sportler des Landes", sich auf die olympischen Spiele vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Arbeitsminister überdenkt der gerade ernannte Sportminister das Problem, talentierte Sportler zu finden. "Wir müssen den Bildungsminister heranziehen", meint er, "der müsste doch wissen, an welchen Universitäten in Amerika oder auch in Frankreich Landsleute von uns studieren. An den amerikanischen Universitäten treiben sie viel Sport, vielleicht findet sich dort jemand, der den Qualifikationsbedingungen genügt."
"Ich werde mal unter meinen Beamten Umschau halten lassen", erwidert der Arbeitsminister. "Wir können ja nicht nur Baseball-Bälle herstellen. Da müssten doch auch ein paar gute Spieler sein."
"Baseball ist keine olympische Disziplin", wendet der Sportminister ein. "Vielleicht aber finden wir unter den Bauarbeitern einige starke Männer, die fürs Ringen oder Gewichtheben infrage kämen." Den ganzen Nachmittag telefonieren sie mit sämtlichen Behörden, rufen bei den großen Unternehmen an.
* * *
Von Politik versteht Alain nichts, er hält sich raus aus der Politik. Er weiß, das bringt nur Scherereien, manchmal mehr. So wie bei Georges, seinem Nachbarn, der sich mit seiner Kirchentätigkeit schon einmal verdächtig gemacht hatte. Es sei nicht Gottes Wille, dass es ihnen so schlecht gehe, hatte er erzählt, die Aufgabe der Regierenden sei, das Volk aus seiner Unwissenheit und seinem Elend zu führen und nicht, große Feste mit Feuerwerk, teuren Weinen und schönen Frauen zu begehen, die mehr kosteten, als alle in Carrefour Feuilles jemals verdienten. Ein Feuerwerk sei doch etwas Schönes, hatte Jean-Baptiste, sein Schwager, damals eingewandt. Davon werde niemand satt. Anstatt das viele Geld zu verfeuern, sollte die Regierung Schulen bauen, hatte sich Georges erregt. Am andern Tag waren die Tontons Macoutes gekommen, große Männer, die mit ihren dunklen Sonnenbrillen aussehen wie Zombies und in allen Straßen und Orten des Landes gefürchtet werden.
Sie hatten Georges abgeholt. Jeder in Carrefour hatte gewusst, dass es mit Georges einmal so enden würde. Aber nach vier Tagen war er zurückgekommen. Ein Bekannter hatte ihn im Gebüsch an der Ausfallstraße nach Gonaive gefunden und nach Hause gebracht. Sein Gesicht war von vielen Schlägen ganz geschwollen, sein Rücken mit aufgeplatzten Striemen übersät, ein Arm gebrochen gewesen, der nie wieder gerade zusammenwuchs. Das Hemd war blutverschmiert. Tagelang hatte sich Georges in seiner Hütte verkrochen, ließ sich nicht blicken. "Er zittert immer", berichtete Mylène, seine Frau. "Er darf nicht mehr sprechen, sonst schneiden sie ihm die Zunge heraus." Georges selbst erzählte nie, was ihm bei den Tontons Macoutes widerfahren war und schleppte nur noch wortlos seinen zweirädrigen Karren durch die Straßen, beladen mit Holzkohle, mit Baumaterialien oder Abfällen.
Wie so oft ist auch an diesem Tag wieder einmal kaum Essen im Haus. Céline hat das spärliche Mahl auf vier ausgefranste Plastikteller verteilt. Es ist zu wenig, darum isst sie heute nichts. Nachdenklich die Stirn runzelnd betrachtet Alain die Handvoll Reis, die heute nur mit etwas Salz gewürzt ist. Auch Alain verteilt seinen Anteil an die Kinder. "Sie brauchen es mehr als ich", schüttelt er den Kopf. "Ich werde unterwegs ein paar Mangos pflücken. Vielleicht finde ich ja bei den Reichen etwas zu essen. Sie werfen oft noch gutes Essen weg." Er steht auf, um sich auf den Weg zu machen.
Plötzlich erstarrt Alain vor Schreck, als ein großer Chevrolet "Cherokee Chief" Geländewagen mit dunkel getönten Scheiben vor seiner Hütte hält, dem vier Männer entsteigen. Die beiden ersten tragen sehr elegante weiße Anzüge; einer davon ist sein Chef, stellt er erstaunt fest, der ihn schon zweimal gerügt hat, weil er die Zeitungen nicht pünktlich geliefert oder Prospekte nicht korrekt verteilt hatte. Aber das ist schon zwei Jahre her, seither hat er seine Arbeit immer ganz korrekt durchgeführt. Die zwei anderen Passagiere tragen beigefarbene Uniformen mit langen Ordensreihen an der Brust, mit breiten, goldgewirkten Laubkränzen geschmückte Schirmmützen und dunkle Sonnenbrillen, in deren Spiegelglas Alain sich seltsam verzerrt sehen kann. Er muss sofort an Georges denken. Wird nun auch ihm so etwas zustoßen? Man musste in Haiti nicht unbedingt gegen das Gesetz verstoßen haben, um von den Sicherheitskräften abgeholt zu werden. Alain kannte einige aus der Nachbarschaft, die einfach eines Tages abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht waren. Andere waren plötzlich spurlos verschwunden - und niemand wusste, warum, oder was mit ihnen geschehen war.
"Was wollen Sie? Ich habe nichts Falsches getan", stammelt Alain mit zitternder Stimme, als die beiden Herren in ihren Maßanzügen auf ihn zutreten. Er traut sich kaum, sie anzusehen. Die beiden Uniformierten beobachten ihn gelangweilt an den Wagen gelehnt.
"Nein, nein, das wissen wir", legt der Chef lächelnd und beinahe vertraulich die Hand auf seine Schulter. "Nein, wir sind gekommen, aus dir einen Sportler zu machen. Du kannst doch gut laufen, oder?"
Verwirrt schaut Alain zu Boden. So hat ihn der Chef noch nie angesprochen. Sonst lässt er ihn ja nur kommen, wenn er etwas falsch gemacht hat. "Na ja, ich trage eben die Briefe aus, oben in Pétionville", murmelt Alain unsicher.
"Eben, und da hast du ja eine Menge Training", lächelt ihn der Chef an. Alain versteht nicht, er weiß nicht, was Training ist. "Dieser Herr ist vom Ministerium, er ist verantwortlich für die sportliche Bildung an den Schulen, und für den Sport insgesamt. Er möchte sich mit dir unterhalten."
"Also, wir möchten, dass du Marathon trainierst. In einem Jahr ist Olympiade, und da wollen wir ein Team nach Los Angeles schicken, verstehst du? Für die Zeit des Trainings wirst du von der Arbeit freigestellt", erklärt jener, den der Chef als Minister oder eine andere wichtige Persönlichkeit vorgestellt hat.
Alain blinzelt ratlos in die Sonne. "Was ist das, 'Los Angeles'", fragt er.
"Das ist eine große Stadt in Amerika", lacht der Mann. "Dort finden die nächsten olympischen Spiele statt, dort werden sich die besten Sportler der Welt treffen. Und wenn du gut trainierst, werden wir dich auch dorthin schicken." Alain wird beinahe schwindelig. Er versteht immer weniger. Er ist kein Sportler. Er hat noch nie Sport getrieben. "Du bekommst auch Schuhe", ergänzt der Ministeriale mit einem Blick auf Alain's nackte Füße. "Turnschuhe, die sind ganz weich und erleichtern das Laufen erheblich. Wir erwarten dich morgen früh auf dem Sportplatz an der Rue Lambert, in Pétionville, acht Uhr, oder", er blickt auf die Uhr, "nein, besser, gegen neun Uhr. Dort erfährst du alles Weitere", wendet er sich zum Gehen.
"Ich komme auch dorthin", klopft ihm sein Chef jovial auf die Schulter. "Möchte doch dabei sein, wenn mein bester Briefträger berühmt wird."
Nachdenklich schaut Alain den Abfahrenden nach. Er würde jetzt gerne in den Büchern bei Éstelle nachschauen, was Training ist, was Marathon, wo Los Angeles liegt. Er muss noch viel lesen, denkt er. Die Bücher fehlten ihm in den letzten Wochen. Lesen beruhigt ihn ungemein. Vielleicht könnten die Bücher jetzt seine Unruhe beseitigen. Auch ein Gespräch mit Éstelle würde ihm jetzt helfen. Er muss unbedingt zu Éstelle. Morgen, ja, gleich morgen früh. Aber nein, das geht ja nicht. Er soll ja schon um neun Uhr auf dem Sportplatz erscheinen. Vielleicht, dass er vorher noch schnell nachschaut, ob sie schon die Hofeinfahrt fegt. Bedrückt geht er schließlich zurück zu seiner Frau. "Ich bin der beste Briefträger, hat der Boss gesagt." Seine Frau blickt nicht einmal auf, sie säubert gerade den Kleinen mit einer alten Zeitung. "Ich bin berühmt."
Nun schaut sie doch auf. "Berühmt? Was soll das heißen?"
"Das hat er gesagt, der Boss. Und Schuhe wollen sie mir geben."
"Und was sollst du dafür tun?"
"Das weiß ich nicht. Ich muss auf den Sportplatz kommen."
"Baseball spielen? Du hast doch noch nie Baseball gespielt. Und deine Arbeit? Wir brauchen das Geld."
"Nein nicht Baseball spielen, laufen. Ja, laufen, haben sie gesagt", murmelt Alain nachdenklich. Aber Céline hat recht. Er kann nicht einfach seine Arbeit im Stich lassen. Er muss darüber mit seinem Chef reden.
Anderntags steht Alain früh auf. Er will noch sehen, ob er Éstelle treffen kann. Doch sie ist nicht im Hof, und klingeln? Das wagt er sich nicht, die Herrschaften könnten Anstoß daran nehmen. Also geht er pünktlich wie verabredet zum Sportplatz. Aber niemand ist da. Die Männer haben sich verspätet. Endlich gegen halb elf kommen sie vorgefahren. Diesmal sind die Soldaten nicht mitgekommen, dafür ist ein anderer Mann dabei, den er noch nie gesehen hat, älter, nicht so elegant gekleidet wie der Chef und der Mann vom Ministerium, eher nachlässig, so wie die Jungen in der Nachbarschaft in Carrefour; er trägt nur eine rote Bluse über einem T-Shirt mit dem Aufdruck "L'Équipe Olympique d' Haiti" und fünf bunten Ringen. Die Hose schlabbert um seine Beine, stellt Alain fest.
Er geht zu seinem Chef: "Boss, wer trägt jetzt die Briefe aus", fragt er verlegen. "Ich kann meine Arbeit nicht verlieren", sprudelt es plötzlich aufgeregt aus ihm heraus. "Die Kinder, sie haben sonst nichts zu essen. Und die Kleine, sie kann zwar nicht zur Schule, weil es für die Schuluniform nicht reicht, aber ich bringe ihr jeden Nachmittag lesen und schreiben bei, so dass sie etwas lernt." Erschrocken hält er inne. So lange hat er das Wort noch nie unaufgefordert an den Boss gerichtet. Er hat ihm noch nie von seinen familiären Sorgen erzählt. Womöglich fühlt sich der Boss nun belästigt. Er hat das früher schon gelegentlich beobachtet. Immer wieder hatten Kollegen gewagt, dem Boss von ihren Problemen zu erzählen, wie schwierig es sei, die Familie zu ernähren. Um Gehaltsaufbesserung hatten sie gebettelt, oder um einen Vorschuss, weil sie schon nach zwei Wochen kein Geld mehr hatten. Und jedesmal war der Boss wütend geworden, hatte sie angebrüllt, das sei nicht sein Problem, wenn sie zu viel herum fickten und bei jeder Fotze Bälger ansetzten, jawohl so hatte sich der Boss ausgedrückt. Und dann hatte er sie gefeuert. Es gäbe genug, die bereit seien, für noch viel weniger zu arbeiten, hatte er gesagt. Ja, da konnte man nichts machen, wusste Alain. Georges hatte zwar einmal, früher, bevor sie ihn zum Schweigen gebracht hatten, davon gesprochen, dass man sich organisieren müsse. Das täten die Arbeiter in allen Ländern, auch die Briefträger. Aber jeder wusste, dass so etwas in Haiti verboten und sehr gefährlich war.
"Na, darum mach dir mal keine Sorgen", klopft ihm der Chef gutmütig auf die Schulter. "Das regeln wir schon. Wenn du gut trainierst und gewinnst, dann brauchst du dir wohl nie mehr Sorgen zu machen. Dann bekommst du auch ein neues Haus, mit fließend Wasser und Strom, und einen Orden vom Präsidenten." Alain ist noch verwirrter. Ein neues Haus, ein Orden? Er versteht nicht, warum.
"Kann er mal laufen", unterbricht der Ältere in den Jogginghosen. "Lauf doch mal bis Kenscoff und zurück, so schnell du kannst, okay?"
"Kenscoff", staunt Alain. Soll er nach Kenscoff versetzt werden?
"Ja, Kenscoff, das ist doch nicht so weit, fünfzehn Kilometer hin und fünfzehn Kilometer zurück. Das läufst du doch jeden Tag."
"Sie wollen sehen, wie schnell du laufen kannst", erklärt ihm sein Chef. "Also, beeil dich. Versuch, so schnell zu laufen wie du kannst." Mit einem Klaps schickt er ihn los, während der Ältere in der nachlässigen Kleidung einen kurzen Blick auf eine Stoppuhr wirft.
Sich noch einmal unsicher umblickend läuft Alain zögerlich los. "Schnell, lauf so schnell du kannst", ruft ihm der Boss noch einmal nach, "bis Kenscoff und dann zurück."
Noch einmal kehrt Alain um und fragt: "Wohin soll ich laufen in Kenscoff?"
Fragend schaut sein Chef auf den Älteren, der aber nur gelangweilt mit den Achseln zuckt. "Also, bis zum Ortseingang", ordnet sein Chef an, "dann zurück. Nun aber los." Mit einem Blick auf seine goldene Armbanduhr fügt er leise hinzu, so dass Alain, der schon gestartet ist, nichts hören kann: "Hoffentlich beeilt er sich. Ich habe keine Lust, hier stundenlang in der Hitze herumzustehen."
"Na, ein kleines Opfer müssen Sie schon bringen", lacht der Ministeriale, der sich mit dem Zeigefinger unwohl zwischen Hemdkragen und Hals fährt, "für den olympischen Ruhm, meinen Sie nicht?" Mit einem missbilligenden Blick wendet sich der Ältere ab, setzt sich unter den Sonnenschirm an einen Tisch des Vereinslokals und legt die Stoppuhr vor sich. Er hält die ganze Angelegenheit für Unsinn, den Unsinn eines infantilen und brutalen Diktators, die neueste Spielerei eines dummen, verzogenen und gelangweilten Wichtigtuers. Selbst fett und unbeweglich, und dann von olympischen Ehren träumen. Er würde den beiden Schleimern und auch dem Idioten im Nationalpalast gerne einmal die Meinung geigen, aber das ist zu gefährlich, könnte tödlich sein. Das einzige, was ihm zu tun bleibt, ist, den jungen Briefträger vor allzu großem Schaden zu bewahren. Am besten, er sagte ihnen gleich, dass er nicht den Hauch einer Chance haben wird, dass er zwar ein guter Briefträger sein mag, dass dies jedoch noch lange keinen Marathonläufer aus ihm mache. Dann ist die Sache abgehakt und vorbei. Sollen die beiden doch sehen, wo sie ihre Olympiasieger her bekommen!
Was ihn dazu befähigen soll, ein Marathontraining zu leiten, bleibt ihm unklar. Als einzige Qualifikation - wenn man es denn so nennen kann - wäre vielleicht seine einstige Mitarbeit bei einer internationalen Hilfsorganisation anzuführen. Damals hatte er in Ausbildungsprogrammen Kinder und Heranwachsende aus den Elendsvierteln in Schulen und Werkstätten unterrichtet. Um eine Art spielerischen Ausgleich zu schaffen, hatte er dreimal wöchentlich mit den Jugendlichen etwas Sport getrieben, Baseball, Fußball, Basketball hatten sie gespielt, sich einige Male wohl auch etwas in Leichtathletik versucht. Mehr nicht.
* * *
Alain läuft und läuft, er läuft, so schnell er kann die Route de Delmas hinauf. Er schwitzt und keucht, schließlich geht es bergauf. Er begreift den Sinn dieser Lauferei nicht. Es wäre ihm nie eingefallen, ohne seine gefüllte Posttasche zu laufen. Aber eigentlich kann ihm das ja gleich sein. Wenn sie ihm dafür sogar ein neues Haus geben wollen, dann läuft er eben auch, ohne Post auszutragen. Er hätte sein Hemd vorher ausziehen sollen, denkt er. Es klebt schon am ganzen Körper, von seinem Kinn läuft unaufhörlich der Schweiß, seine Haare sind nass. Aber unverdrossen läuft Alain. Er will schließlich keinen Ärger mit dem Boss und den anderen wichtigen Leuten. Nein, er will ein neues Haus. Es wäre schön, auch für Céline und die Kinder. Céline müsste nicht mehr jeden Tag zweimal das brackige Wasser vom Brunnen holen. Dann hätten sie auch einen Wasserhahn, den man nur aufdrehen müsste, und schon liefe das Wasser kühl und sauber heraus - wie in den Häusern in Pétionville. Vielleicht wollen sie ihm ja dort ein Haus geben, dann müsste er nicht immer schon in den frühen Morgenstunden, wenn es noch dunkel ist, die zehn Kilometer aus Carrefour Feuilles zur Poststation nach Pétionville, um dort seine Arbeit anzutreten. Nicht einmal die "tap-taps" konnte er benutzen, sie fuhren zu dieser frühen Stunde noch gar nicht. In Pétionville aber müsste er nur über die Straße gehen, höchstens eine oder zwei Straßen weiter. Dann könnte er morgens gut eine Stunde länger schlafen. Und Éstelle, vielleicht könnte er Éstelle dann häufiger sehen. Schon die Gedanken, das herrliche Leben, das er sich in dem neuen Haus ausmalt, beschleunigen Alain's Schritte. Er läuft im Schatten der Bäume entlang der Allee, die nach Kenscoff führt. Dennoch keucht er, schwitzt er, aber er fühlt es nicht, er fühlt keine Anstrengung, die Steigung nimmt er überhaupt nicht wahr, seine Füße bewegen sich beinahe von alleine, monoton, wie eine gut geölte Maschine.
Die Menschen, die ihm gemächlich die Straße herunter entgegenkommen, bleiben stehen, schauen ihm verwundert nach. Sie kennen ihn, sehen ihn jeden Tag in Pétionville die Post austragen. Sie wissen, dass er immer hastig, schnell von Haustür zu Haustür eilt, von Briefkasten zu Briefkasten. Dass er es aber so eilig hat, das haben sie noch nie gesehen. Heute muss er ganz sicher einen äußerst wichtigen Brief zu einer höchst bedeutenden Persönlichkeit bringen. Na, hoffentlich bekommt er dafür eine Extra-Belohnung, lächeln zwei Frauen mitleidig, die kunstfertig zwei Körbe voller Mangos auf ihren Köpfen balancieren. Gelegentlich schließen sich ihm ein paar Kinder an, laufen neben ihm her, schauen bewundernd zu ihm auf, fragen, warum er es so eilig habe, necken ihn, ob Éstelle schon auf ihn warte. Doch nach ein paar Dutzend Metern geben sie auf, halten an, wenden sich wieder ihren Spielen zu und lassen ihn alleine weiter laufen.
Er erreicht Kenscoff. Unschlüssig bleibt er kurz stehen. Soll er hier umkehren? Bis zum Ortseingang, haben sie gesagt. Das ist hier. Also muss er jetzt umkehren. Interessiert betrachten ihn ein paar Jugendliche, die arbeitslos und gelangweilt am Straßenrand herumhängen. Als er sich umwendet, um zurückzulaufen, springt einer der Halbstarken in einem blauen Hemd und einem zerbeulten Hut auf und mimt unter dem Gelächter seiner Kameraden den Läufer. Alain kümmert sich nicht darum. Nun geht es abwärts, hinunter, bergab. Das ist leichter. Er nähert sich dem Sportplatz, biegt in die Einfahrt ein, durchläuft das Tor, überquert die Aschenbahn und läuft quer über den ausgetrockneten Rasen, den zahlreiche erdig, sandige Flecken wie braune Narben verunstalten, auf die Gruppe der Männer zu.
"Nicht über den Rasen", ruft ihm der Boss schon von weitem zu, "du musst auf der Aschenbahn laufen." Der Ministeriale tritt einen Schritt zurück, so als fürchte er, Alain's Schweiß könnte auf seinen weißen Anzug spritzen.
Nur der Ältere sagt nichts, schaut auf seine Stoppuhr, dann auf Alain und wieder zurück auf die Stoppuhr. Erstaunt zieht er die Augenbrauen hoch. Die Zeit ist weit besser, als er je erwartet hätte. "Eine Stunde, 51 Minuten", murmelt er schließlich und wendet sich an Alain: "Das war sehr gut, einseinundfünfzig." Plötzlich packt ihn ein seltsamer Ehrgeiz. Jawohl, er wird aus diesem jungen Briefträger einen Marathonläufer machen. "Also gut", wendet er sich endlich seinen beiden Begleitern zu, "wann soll ich anfangen?"
"Sie können sofort beginnen", sagt Alain's Chef, "ich brauche ihn nicht. Solange er trainiert, ist er vom täglichen Dienst freigestellt. Soviel kann die Post ja zur Ehre des Landes beitragen."
"Okay, dann können Sie jetzt gehen", wendet sich der Ältere grußlos ab. "Nein, du bleibst hier", tritt er an Alain heran und reicht ihm die Hand. "Marcel Beauvoir", stellt er sich vor. "Nenn mich einfach Marcel. Komm', setz dich. Wir haben viel zu besprechen."
"Also, du tust alles, was dir Monsieur Beauvoir befiehlt, verstanden", ordnet Alain's Chef an, ehe er sich zum Gehen wendet, "er ist während der nächsten Monate dein Boss. Streng dich also an. Wie gesagt, es wird sich auch für dich lohnen, denk an das neue Haus." Endlich gehen die beiden.
Marcels freundlicher Ton beruhigt Alain, doch immer noch fühlt er diese Unsicherheit, so als entgleite ihm gerade sein Leben, seine Ordnung. Er sehnt sich nach Céline, nach den Kindern, nach seiner geregelten Arbeit, nach Éstelle. Wird er sie auch weiterhin treffen können? Wenn er nicht mehr jeden Morgen an ihrem Haus vorbeigeht. Er muss unbedingt mit ihr reden, so bald wie möglich.
"Also, nun will ich dir mal erklären, worum es eigentlich geht", unterbricht Marcel seine Gedanken. "Du bist tatsächlich ein guter Läufer, ein Naturtalent. Ich werde dich vorbereiten, trainieren, dass du noch schneller wirst. Dann wirst du jeden schlagen können. Du musst nur an dich glauben, an deine Stärke glauben, du darfst dich nicht vom Auftreten der Andern einschüchtern lassen. Du wirst sehen, dass sie reicher sind, die Andern werden nicht nur einen Trainer haben, sie werden auch einen Arzt, einen Masseur, einen Manager mitbringen. Sie werden dir so wichtig erscheinen, wie dein Chef. Aber sie sind nicht besser als du. Das darfst du nie vergessen. Ich werde bei dir all diese Funktionen übernehmen, ich werde dich trainieren, massieren, werde dein körperliches Befinden beobachten. Du musst nur immer meinen Anweisungen folgen, dann wirst du besser sein, als all die Andern. Los sag' es!"
"Was? Was soll ich sagen", fragt Alain ratlos.
"Dass du besser bist, sag: Ich bin besser als die Andern. Ich kann sie schlagen."
Zögernd wiederholt Alain die Worte: "Ich bin besser als die Andern, ich kann sie schlagen."
"Lauter! Du musst überzeugt davon sein."
Laut sagt Alain noch einmal: "Ich bin besser als die Andern, ich kann sie schlagen." Es ist ihm peinlich. Er weiß nicht, wozu das gut sein soll. Wird er darum schneller laufen können?
"Na ja, schon besser", nickt ihm Marcel aufmunternd zu. "Das wirst du jeden Morgen vor Beginn des Trainings zu mir sagen, okay?"
Alain nickt. "Und wenn ich fertig bin, ich meine mit dem Training? Was mache ich dann?"
"Wie, wenn du fertig bist", wundert sich nun Marcel. "Dann gehst du nach Hause, wie sonst auch, wenn du fertig bist mit deiner Arbeit."
"Nein, nein", schüttelt Alain den Kopf, "wenn ich bei den Wettbewerben fertig bin. Was soll ich dann machen?"
Marcel lächelt. Er mag diesen netten, unschuldigen, bescheidenen, jungen Briefträger. Er muss ihm mehr Selbstbewusstsein beibringen. "Nun, das hängt von deinem Abschneiden ab. Wenn du gewinnst, wirst du wohl eine gute Arbeit im Ministerium bekommen. Vielleicht wirst du dann an weiteren Rennen teilnehmen. Und wenn du nicht siegst, na, dann gehst du eben wieder zurück in deinen alten Job. Gefällt er dir?"
"Wer? Was", fragt Alain verwirrt.
"Na, dein Job als Briefträger."
"Ja, oh ja", strahlt Alain. "Ich bin dankbar, dass ich diese Arbeit habe."
"Das ist auch gut so. Bleib auch weiterhin auf dem Boden der Tatsachen", legt ihm Marcel die Hand auf die Schulter. "Ich werde dir jetzt erst mal alles erklären. Morgen fangen wir dann an, okay?" Und dann erzählt ihm Marcel von den Griechen, den olympischen Spielen, dass diese alle vier Jahre ausgetragen werden, dass daran die besten Sportler teilnehmen, in allen Disziplinen, Boxen, Reiten, Schwimmen, Fechten, Rudern, Werfen und Laufen. Sportler aus allen Ländern werden dabei sein, aus Amerika, aus Russland, aus China, Frankreich, Brasilien, Mexiko, und eben auch aus Haiti. Weil Haiti ein so armes Land sei, könne es nur eine kleine Mannschaft schicken. Vier Teilnehmer seien ausgesucht, und er, Alain, sei einer davon. Er solle den Marathon laufen. Alain staunt, ganz seltsam wird ihm zumute, alles scheint sich zu drehen. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal zu den besten Sportlern der Welt gezählt zu werden und bei olympischen Spielen teilzunehmen. Das musste er unbedingt Éstelle berichten. Und mit Céline besprechen.
"Weil es so heiß ist, werden wir besser schon sehr früh morgens mit dem täglichen Training beginnen", fährt Marcel in seinen Ausführungen fort. "Über Mittag machen wir eine Pause, um dann vielleicht noch am späten Nachmittag ein paar Übungen zu machen."
Zuhause schüttelt Céline nur verwundert den Kopf, als er ihr von seiner neuen Arbeit erzählt, von Marcel, der als Chef viel netter sei, von dem Haus, das er nach Abschluss der Arbeit bekommen soll, ein Haus mit einem Wasserhahn, aus dem reines, sauberes Wasser sprudele. Sie, Céline, müsse die Wäsche dann nicht mehr am Fluss waschen; und die Kinder würden ein eigenes Zimmer haben, was ja auch besser sei, vor allem, wenn sie älter würden, dann könnten sie nachts nicht rüber schielen, wenn er sie liebte. Was nur war mit Alain los, dachte Céline. Er war so verändert, redete nur noch von dem neuen Haus, dass er nach Amerika gehen werde. "Nur für zwei Wochen", hatte er gesagt, und dann bekomme er das neue Haus. So ein Unsinn!
Am nächsten Tag wartet Alain schon vor sechs Uhr auf dem Sportplatz. Wenige Minuten später erscheint auch Marcel. Er kommt mit dem Fahrrad, steigt ab, legt das Rad auf den Rasen, stellt ein paar Flaschen Wasser, die er mitgebracht hat, in den Schatten und geht, Alain zu begrüßen. "Guten Morgen, bist du bereit?" Alain nickt. "Gut, dann fangen wir doch gleich an. Am besten, du läufst erst mal zwei, drei Runden auf der Aschenbahn, und dann läufst du sechs, sieben Kilometer, okay? Also los, lauf schon, ganz locker, du musst nicht schnell laufen, eher joggen, Dauerlauf." Alain dreht seine Runden.
"Gut, das genügt", ruft ihn Marcel zurück. "Jetzt wirst du sieben Kilometer laufen, schnell laufen, wie gestern, komm." Marcel schwingt sich auf sein Fahrrad. "Ich fahre nebenher." Es geht wieder Richtung Kenscoff, zunächst bergauf. Alain läuft. Doch schon nach etwas über drei Kilometern, fordert ihn Marcel zur Umkehr auf, "und nun zurück". Weniger als zehn Minuten später kommen sie wieder auf dem Sportplatz an. Marcel reicht ihm Wasser, "trink, aber nicht zu viel." Und nachdem Alain ein paar Schluck genommen hat: "So, und nun lauf noch mal drei Runden um den Platz, ganz gemächlich, im Dauerlauf."
Nach drei Runden fordert ihn Marcel auf, sich zu setzen. "Nun stretchen, du musst nach jeder Übung, nach jedem Lauf deinen Körper dehnen. Das ist wichtig, das lockert die Muskulatur, die durch die Anstrengung verspannt ist." Alain wundert sich, er hat sich nicht anstrengen müssen. "Hier so", führt ihm Marcel Übungen vor. Er setzt sich auf den Rasen, das linke Bein angewinkelt, das rechte weit ausgestreckt. "Und nun beuge deinen ganzen Körper vor. Du hältst dich am Knie fest und beugst den ganzen Rumpf nach vorne, so dass du mit der Stirn das Knie berühren kannst, das mach zehnmal, und danach die andere Seite, das rechte Bein anwinkeln und über das ausgestreckte linke Bein beugen."
Nach einer kurzen Verschnaufpause ordnet Marcel weitere Übungen an. Im Liegen das ausgestreckte Bein so weit wie möglich über den Kopf ziehen, auf dem Rücken liegend beide Beine in der Luft ausstrecken und anziehen, ausstrecken und anziehen, "und das hundertmal". Oder mit den Beinen kreisen. Bei gespreizten Beinen mit den Händen die Fußspitzen berühren, "die linke Fußspitze mit der rechten Hand und die rechte Fußspitze mit der linken Hand", Rumpfbeugen, Kniebeugen, hundert an der Zahl, Armstützen, zwanzig. Nach einer Stunde winkt Marcel ab.
"Das wirst du unaufgefordert nach jedem Lauf tun, das ist wichtig", erklärt er, und Alain hört aufmerksam zu. "Das hilft der Muskelkater und Krämpfe zu vermeiden, erhöht die Beweglichkeit und Kontraktionsfähigkeit der Muskulatur, verstehst du das?" Alain schüttelt den Kopf, geduldig erklärt Marcel die fremden Begriffe, die Alain noch nie gehört hat.
Marcel hat sich gut vorbereitet, so gut er konnte. Über einen Bekannten bei den Vereinten Nationen hat er ein Regelwerk für die Vorbereitung zum Marathonlauf bekommen, wenngleich kein wissenschaftliches Werk, so doch wenigstens eine brauchbare Anleitung. Die Aufbauphase wird sich über zwanzig Wochen hinziehen, anschließend wird er die Trainingseinheiten zur Vorbereitung auf den Marathonlauf zwanzig weitere Wochen lang kontinuierlich erhöhen. Dann müsste Alain austrainiert sein, dann muss er ihn nur noch auf dem erreichten Leistungsniveau halten, bis zu dem entscheidenden Lauf. Mehr kann er nicht tun.
"Wir werden die ganze Woche trainieren", erklärt er Alain, "und dabei langsam die Laufdistanzen erhöhen, von sechs, sieben Kilometern am Tag, so wie heute, auf schließlich 35 Kilometer. Dazwischen gibt es natürlich auch Ruhetage. Die letzten Wochen vor den Olympischen Spielen wirst du täglich konstant fünfzehn bis zwanzig Kilometer laufen. Daneben müssen wir natürlich auch noch einiges für den Rest deiner Muskulatur tun, Gewichtheben, das wirst du jeden zweiten Tag machen. Denn auch die Oberkörpermuskulatur muss gestärkt werden, um zu vermeiden, dass dir beim Laufen der Kopf schwer wird. Bei den Vereinten Nationen haben sie einen Fitnessraum. Den können wir benutzen. Ruhetage heißt natürlich nicht, dass wir überhaupt nichts tun. Dann wirst du nicht laufen. Um deinen Körper aber im gewohnten Rhythmus zu halten, wirst du Ersatzübungen machen, Übungen, die deine Beinmuskulatur nicht oder nur wenig beanspruchen, zum Beispiel schwimmen. Schwimmen ist eine der gesündesten Sportarten, weil es die Sauerstoffaufnahme, Muskelstärke und Ausdauer erhöht und gleichzeitig entspannend wirkt. Hast du ein Fahrrad?" Alain verneint. "Dann gebe ich dir eines, so dass du mit dem Rad hierher kommen kannst. Radfahren ist ohnehin gut, weil es die Bindegewebe am Knie, in den Hüft- und Knöchelregionen stärkt."
Ohne zu murren folgt Alain allen Anweisungen Marcels. Es ist ein einfacher, ein leichter Job, diese neue Arbeit. Er bekommt jetzt etwas mehr Geld. Aber er kauft nicht die "Schokoriegel, Fruchtsäfte, Sportgetränke, reich mit wichtigen Mineralien und Karbohydraten versehen", die Marcel ihm aufgetragen hat, zu trinken. Von dem Geld kauft er Nahrungsmittel für die Kinder, Bohnen und Reis, aus denen Céline "moros y cristianos" zubereitet, nach einem Vierteljahr hat er so viel gespart, dass sie sich sogar ein ganzes Huhn leisten können. Das ist ein Fest. Céline ist zwar immer ein wenig mürrisch, wenn er ihr von seiner neuen Arbeit erzählt. Aber woher soll sie schon wissen, was Herzkranzgefäße, Bindegewebe, Achilles- oder Kniesehne, Bizeps oder Trizeps sind, warum er plötzlich am Meer schwimmen geht, warum er neuerdings sogar zuhause mit einem Expander übt, jede Woche ohne Postbeutel 40 bis 60 Kilometer, nach acht Monaten sogar über 70 Kilometer läuft?
Éstelle hingegen, Éstelle bewundert ihn, lauscht seinen Ausführungen über olympische Spiele, über sein Training, mit leuchtenden Augen. Wenngleich es eine etwas traurige Erzählung ist, gefällt ihr am besten die Geschichte des Mannes, der von Marathon bis Athen gelaufen war, um seinen Landsleuten die Kunde vom Sieg zu bringen, und dann tot umfiel. Immer wieder unterbricht sie ihn, lässt sich die Fremdwörter erklären, dann zeigt er ihr an ihrem schönen Körper, wo die Achillessehne ist, kitzelt sie an der Kniesehne, streichelt ihre Brust, unter der die Herzkranzgefäße sind, vergleicht seinen gewachsenen mit ihrem, zugegebenermaßen etwas unterentwickelten Bizeps. Schon sieht ihn Éstelle als umjubelten Sieger, mit einem Lorbeerkranz auf der Stirn, ihr zuwinkend, wohl wissend, dass sie seinen Lauf im Fernsehgerät der Herrschaften verfolgen wird. Sie träumt von seinem Ruhm, von dem neuen Haus.
Das käme Céline nie in den Sinn, denkt Alain etwas ungehalten. Sie hält die ganze Veranstaltung für ein riskantes Abenteuer. "Und was machst du, wenn du nicht gewinnst", pflegt sie jede Diskussion schnell zu beenden, um sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Dann kommen Alain auch immer wieder Zweifel, bis er sich einen Ruck gibt und energisch vor sich hin spricht: "Ich bin besser als die Andern. Ich kann sie schlagen. Ich werde sie schlagen. Ich werde gewinnen."
Er muss gewinnen. Für diesen Sieg, für das Haus, das sie ihm versprochen haben, tut er alles. Verbissen trainiert er, er quält sich. Manchmal muss Marcel seinen Ehrgeiz etwas bremsen. Einmal, befahl er ihm sogar, zwei Tage völlige Ruhe. "Du bist übertrainiert", erklärte er, "deine Zeiten werden schlechter." Zuerst hatten sie versucht, ihm das Laufen in Turnschuhen beizubringen. Aber seine Füße waren keine Schuhe gewöhnt. Sie schmerzten, drückten, erschwerten ihm das Laufen. Er hatte sich nicht verbessern können, im Gegenteil, seine Zeiten waren zunehmend schlechter geworden. Schließlich hatte Marcel ihm die Turnschuhe weggenommen und angeordnet, dass er wieder barfuß laufe. "Die Afrikaner tun das auch", hatte er Alain erklärt. "Die laufen auch oft barfuß, und die sind sehr, sehr gut. Aber du kannst sie schlagen."
* * *
Dann rückt der Tag der Abfahrt näher. Zusammen mit seinem Trainer geht er noch einmal zu einer Mambo, sie soll Babalu Aye anrufen, ihm Kraft zu geben, so dass er siegt. Gemeinsam bitten sie Ministre Azacca -Mede, dass er Alain auf seiner Reise beschützen möge. Noch einmal verbringt Alain einen wunderschönen Abend in ihrem kleinen Wäldchen mit Éstelle. Sie hat heimlich die Schlüssel mitgenommen, so dass sie später unbemerkt von den Herrschaften in ihr Kämmerchen zurückschlüpfen kann. So bleibt sie diesmal länger bei ihm, die ganze Nacht, bis hinten, über den Bergen der erste Morgenschimmer dämmert. Sie geben ihm eine Uniform, eine schwarze, gebügelte Hose und einen blauen Blazer, auf dessen Brusttasche das Wappen Haitis mit dem Wahlspruch „Stärke durch Einheit“ prangt, auch eine rote Turnhose mit blauen Streifen an beiden Seiten, drei Paar blaue Socken, zwei weiße Hemden, die sogar gestärkt sind. Céline faltet alles sorgfältig zusammen und verstaut es in der eleganten Sporttasche, die seine Ausrüstung vervollständigt.
In einer Woche soll es losgehen. Die letzten beiden Wochen hat er wie besessen trainiert, ist 75 und dann 60 Kilometer gelaufen. Einmal ist er die Marathonstrecke sogar in zwei Stunden 19 Minuten gelaufen, wofür ihn Marcel sehr gelobt hat. "Das ist wirklich Weltklasse! Nun hast du das Schlimmste hinter dir", erklärt Marcel. "Ich werde nicht mitkommen. Das sei nicht nötig und verursache nur unnötige Kosten, sagen sie."
Alain erschrickt. Er hat sich auf Marcel verlassen, Marcel ist sein Freund geworden, sein Vertrauter, seine Stütze. Ohne Marcel ist er allein, ganz allein, auf sich gestellt. "Das ist kein Grund zur Aufregung", beruhigt ihn Marcel. "Du musst nur meinen Anordnungen folgen, dann wird es schon gut gehen. Schau, der Marathonlauf wird am letzten Tag der olympischen Spiele ausgetragen. Kommende Woche, in Los Angeles, wirst du das Training stark reduzieren, so dass du auf den Tag genau fit bist. Am Sonntag läufst du fünfzehn Kilometer", gibt ihm Marcel die letzten Anweisungen, "am Montag kein Laufen, nur Schwimmen, ein paar Dehnungsübungen, ein bisschen Fitnessraum, am Dienstag läufst du zehn Kilometer, am Mittwoch wieder Gewichte und Schwimmen, am Donnerstag noch einmal sechs oder sieben Kilometer laufen, und am Freitag einige Runden schwimmen und ein paar leichte Gewichtsübungen, und natürlich nach jedem Training Dehnübungen, vergiss das nicht. An den Tagen vor dem Lauf gehst du täglich nur noch ins Schwimmbad und in den Fitnessraum, kein Laufen, wenn du Gelegenheit hast, fahr ein paar Kilometer mit dem Rad. Hast du verstanden?"
Alain nickt. Aber er hat kaum zugehört, was soll er nur ohne Marcel tun. Er kennt die Andern überhaupt nicht, er wird allein sein, völlig alleine auf sich gestellt sein. Wie in einem Schraubstock presst sich sein Herz zusammen. Am liebsten möchte er aufgeben, hier bleiben, einfach wieder seine Briefe austragen. "Komm' schon, denk immer daran: Ich bin besser als die Andern, ich kann sie schlagen. Ich werde bei dir sein, hier, im Fernsehen werde ich deinen Lauf verfolgen", muntert ihn Marcel auf. Für Alain ist es wenig Trost, die Beklemmung weicht nicht.
Je näher der Tag der Abreise rückt, umso nervöser wird Alain. Er war noch nie fort, nicht einmal einen Tag, er ist noch nie geflogen. Und jetzt soll er fort, gleich für mehr als zwei Wochen, und mit dem Flugzeug. Einen Tag vor seiner Abfahrt, Alain kommt gerade vom Schwimmen zurück, taucht plötzlich sein Chef in Carrefour auf. Alain sieht ihn, vorsichtig auf Zehenspitzen zwischen dem Schlamm und den Pfützen auf dem schmalen, unbefestigten Weg balancieren. Er hält sich ein weißes Tuch vor das Gesicht, wischt sich damit über die Stirn. „Ich will mich doch noch von meinem Mitarbeiter verabschieden, ehe er sich auf den Weg macht, berühmt zu werden“, ruft er ihm schon aus zehn Metern Entfernung zu. Herzlich schüttelt er Alain’s Hand. „Hier lebst du also. Na, da wird es ja auch Zeit, dass du dich verbesserst.“
Alain nickt. „Bekomme ich wirklich ein Haus mit fließendem Wasser, Boss“, will er sich noch einmal vergewissern.
„Klar, wenn du gewinnst, wirst du ein prächtiges Haus bekommen, und einen Orden vom Präsidenten“, verspricht der Boss. Doch plötzlich wird sein Gesicht hart. „Wenn du aber versagst, brauchst du gar nicht zurückzukehren. Wenn sich die Nation deiner schämen muss, wirst du deine Familie nie wieder sehen. Aber, du wirst das schon schaffen“, gibt sich der Boss zuversichtlich und wirft einen Blick auf seine Uhr. „Tja, ich muss weiter. Also, mache uns und unserem Land Ehre“, verabschiedet er sich von seinem Briefträger, „und vergiss nicht: Versager haben bei den Olympischen Spielen und bei uns nichts verloren.“ Damit wendet er sich ab und balanciert zurück in seine saubere, asphaltierte Welt.
Alain fühlt sich, als zöge er in den Krieg. Tränen laufen ihm über die Wangen, als er sich schließlich am Tag des Abflugs von Julie verabschiedet, als er Pierrot in die Arme schließt. Sogar Céline, bei der er noch nie irgendwelche Gefühle entdeckt hat, bekommt feuchte Augen. "Und wenn du nicht gewinnst, dann trägst du eben wieder Briefe aus", flüstert sie ihm zu. Er hat ihr nichts von der seltsamen Drohung des Bosses gesagt.
Ein Bus fährt vor. Alle Nachbarn sind aus ihren Hütten getreten, um zuzuschauen. Aufgeregt schnattern die Frauen, die Männer werfen ihm aufmunternde Worte zu. Soviel Aufregung gab es noch nie in Carrefour Feuilles. Scheu winkt Alain den Umstehenden zu und steigt ein: "In zwei Wochen bin ich zurück."
Die vorderen Plätze sind besetzt von wichtigen Leuten, wie er sehen kann. Auch der Mann aus dem Ministerium ist da und begrüßt ihn: "Da kommt ja unsere Medaillenhoffnung", stellt er ihn den Andern vor, während der Bus anrollt. Alain bückt sich, um durch die dunkel getönten Scheiben hinaus zu sehen, noch einen Blick von Céline und den Kindern zu erhaschen. "Er wird uns im Marathonlauf vertreten", hört er den Mann weiterreden. Dann sucht er sich einen Platz. Er geht ganz nach hinten, wo niemand Platz genommen hat. Durch die Rückscheibe sieht er Leute winken, dann biegt der Bus ab auf die Hauptstraße. Carrefour Feuilles entschwindet seinen Blicken. Er fühlt sich schon jetzt in der Fremde.
Zunächst fährt der Bus vor dem Nationalpalast vor. Die Sportler und Funktionäre werden die breite Treppe aus weißem Marmor hinauf geführt. Mit großen Augen bestaunt Alain die Pracht, hohe, weiße Wände, hohe, weiße Säulen, große Laternen, an denen unzählige Lichter brennen. Aber es ist kalt, so kalt, wie es Alain noch nie erlebt hat. Er friert. Eine Tür öffnet sich. Der Präsident erscheint, neben ihm seine wunderschöne Frau Michèle. Noch nie hat Alain eine so schöne Frau gesehen, sie ist sogar schöner als Éstelle, aber - so erkennt Alain - sie hat nicht dieses lebensfrohe Leuchten und Funkeln in den Augen, das sein Herz bei Éstelle immer so erwärmt. Diese Frau hat kalte, gefühllose Augen. Alain erschauert, und er weiß nicht, ob es von der Kälte kommt. Sie kommen auf ihn zu, begrüßen die Funktionäre. Dann stellt sie der Mann vom Ministerium vor. "Alain Audin", hört er plötzlich die Stimme, "er wird Haiti im Marathonlauf vertreten." Mechanisch ergreift er die gereichte Hand. Dann fühlt er auch noch die weiche Hand der Frau des Präsidenten in seiner, ihre kalten Augen scheinen ihn spöttisch zu mustern.
"Haiti ist ein armes Land", beginnt der Präsident dann seine Rede. "Dennoch haben wir keine Mühen und Kosten gescheut, Sie ein Jahr lang auf die olympischen Spiele in den Vereinigten Staaten vorzubereiten. Wir haben Ihnen Sporteinrichtungen zur Verfügung gestellt und Trainer an die Seite gegeben, nun können wir nichts mehr tun. Nun liegt es an Ihnen, die in Sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Sie werden Haiti, diese Perle in der Karibik, repräsentieren. Ich hoffe, Sie werden Ihr Bestes geben, das Möglichste aus sich herausholen - zur Ehre unseres Landes. Mit Siegen können Sie ein weiteres ruhmreiches Blatt in die Annalen unserer Heimat schreiben. Denken Sie an Toussaint Louverture, an Dessalines, Henry Christophe, an meinen Vater François, der als 'Papa Doc' von allen geliebt wurde. Schreiben Sie diese Tradition fort. Ich wünsche Ihnen nun viel Erfolg. Vertreten Sie unser Land würdig." Mit diesen Worten tritt der Präsident zurück, wendet sich und verschwindet durch eine hohe Türe, die ein livrierter Diener in gebeugter Haltung geöffnet hält.
Sie werden wieder hinaus geführt, um mit dem Bus zum Flughafen zu fahren. In der Abflughalle haben sich viele Menschen versammelt, Angehörige und Freunde der andern Mannschaftsmitglieder, Journalisten. Regungslos steht Alain im Blitzlichtgewitter der Photographen. Er ist bisher nur einmal in seinem Leben fotografiert worden, vor wenigen Tagen, als ein Mann vom Ministerium auf den Sportplatz gekommen war, um ein Foto für seinen Pass, den Mannschaftsausweis und das Visum zu machen. Ob er eines haben könnte, fragt Alain zaghaft. Er könne es ja aus der Zeitung ausschneiden, wendet sich der Photograph bereits einem anderen Teammitglied zu, morgen würde es dort erscheinen.
"Wie gut schätzen Sie Ihre Aussichten ein", hält ihm eine junge Journalistin ein Mikrophon entgegen. Alain weiß nicht, was er sagen soll, ein Mikrophon hat er noch nie gesehen. "Glauben Sie, dass Sie gewinnen können", fragt die Journalistin beharrlich nach.
Unsicher blickt Alain auf die junge Frau. "Ich bin besser als die Andern, ich kann sie schlagen", fällt ihm dann plötzlich ein.
"Sie sehen, Alain Audin, der als einer unserer größten Hoffungsträger nach Los Angeles fährt, glaubt an die Goldmedaille", überträgt die Journalistin an ihre Radiostation. Endlich ist Alain allein. Er ist froh, dass sich die Leute hauptsächlich für die Anderen im Team interessieren. Er wüsste nicht, was er noch sagen sollte.
Schließlich sollen sie einchecken. Nur widerwillig gibt Alain seine Sporttasche ab. "Die können Sie nicht als Handgepäck in die Kabine mitnehmen, Sie müssen sie als Reisegepäck aufgeben", insistiert eine junge Frau. "Sie erhalten sie bei Ankunft ja wieder", lächelt sie schließlich freundlich, als sie Alain's Widerstand begreift. "Viel Glück, ich drücke Ihnen die Daumen."
Schließlich sind sie in der Luft. Beim Start hatte Alain zwar noch etwas Angst, war sogar ein wenig ins Schwitzen geraten und hatte sich so fest an die Armlehnen geklammert, dass seine Handknöchel beinahe weiß hervortraten. Doch nun fliegt die Maschine ruhig in der vorgeschriebenen Flughöhe. Sie scheint sich überhaupt nicht zu bewegen. Es ist ein herrliches Gefühl, so über den Wolken zu schweben. Und manchmal, wenn die Wolken aufreißen, sieht man das Meer tief unten, viele kleine, grün schimmernde Inseln sind zu erkennen. Es ist phantastisch. Sogar den Grund des Meeres kann er sehen. Er wird Céline und den Kindern viel zu erzählen haben, und Éstelle.
In Los Angeles werden sie gleich zu ihren Unterkünften im olympischen Dorf an der Universität gefahren. Alain wird in ein kleines Zimmer geführt. Er staunt. Hier also soll er die nächsten beiden Wochen wohnen. Keine Kartons, Holzkisten oder Plastiktaschen, in denen Céline die Wäsche verstaut, hier stehen Schränke, große Schränke mit Schubladen bereit, in denen er seine Uniform, seine Hemden, Trikots und Shorts verstauen kann. Und das Bett, mit weißer, völlig weißer Wäsche ist es bezogen, wie bei Éstelle, so weiß wie der herrliche Sandstrand bei Petit Goave, von dem ihm Éstelle einmal erzählt hat. Noch nie hat er in einem solchen Haus gewohnt. Er hat in seinem Beruf ja schon viele schöne, große Häuser gesehen, manchmal hat er auch einen Blick hineinwerfen können. Da hat er dann gesehen, dass die Böden in den großen Häusern nicht gestampfter Lehm sind, sondern aus Stein oder Holz. Und jetzt lebt er selbst in einem solchen Haus! Zunächst traut er sich kaum, die Einrichtung zu benutzen. Sachte berührt er die Kissen, vorsichtig setzt er sich einmal darauf, legt sich lang hin - und schläft ein.
Dann kommt der Tag, von dem ihm Marcel immer erzählt hatte. Zusammen mit Sportlern aller Länder marschiert er mit seiner Mannschaft, den anderen drei Mannschaftsmitgliedern und den Funktionären, Masseuren und Ärzten, ins Stadion ein. Eine sehr schöne blonde Frau trägt vorneweg ein Schild "Haiti", dahinter marschiert Ronald Agenor, der Haiti im olympischen Tennisturnier vertreten wird, mit der schwarz-roten Fahne. Wenn ihn so Céline sehen könnte, stellt sich Alain vor. Doch niemand in der Nachbarschaft besitzt ein Fernsehgerät, nicht einmal Max, aber vielleicht sieht sie das Bild im "Nouvelle Observateur", das der Photograph auf dem Flughafen von ihm gemacht hat. Er hätte ihr auftragen sollen, die Zeitung zu kaufen. Alain gefallen die Aufführungen, es ist wie ein großes Fest, Musik, Fahnen, Reden. Sogar ein Mann taucht auf, der fliegen kann. Die Stunden werden Alain nicht lang, obwohl manche über zu große Hitze klagen. Aber das kennt er ja nicht anders.
Und später, im Restaurant im olympischen Dorf, in der Universitätsmensa, wo die Sportler verköstigt werden! So muss es im Paradies sein. Es ist unvorstellbar. Lange Theken voll köstlichster Speisen warten da, herausgenommen zu werden, gegessen zu werden, Speisen, wie er sie noch nie gesehen hat. Es riecht und duftet phantastisch. Und alles umsonst! Man schenkt ihm das Essen. Er muss die gefüllten Platten, Teller und Schälchen einfach aus den Glasregalen nehmen. Er muss nicht einmal fragen. Hier kann er endlich satt werden. Zunächst, zaghaft noch, holt sich Alain eine Reisplatte mit einem Hühnchenschenkel. Genüsslich isst er alles auf, lässt kein Reiskorn zurück, nagt die Knochen fein säuberlich ab, so dass nicht einmal die kleinste Fleischfaser zurückbleibt. Verlangend blickt er hinüber zu den Tresen. Herrliche Nudeln, Salate, Eiscremes, die diversesten Fruchtsäfte, Limonaden und Wasser leuchten dort verlockend und appetitanregend. Alain holt einen zweiten Teller, diesmal ein großes Steak und einen Salat. Er braucht Eisen und Vitamine, das hat ihm Marcel gesagt. Er genießt das Essen, gierig, beinahe wollüstig schlingt er Fleisch und Salat hinunter, trinkt einen Orangensaft, dann ein Glas Wasser, Wasser müsse er immer genug trinken, hatte ihm Marcel eingeschärft. Aber der Orangensaft ist so wunderbar süß, Alain trinkt noch einen. Schließlich beendet er sein ausgiebiges Mahl mit einer weiteren, kleinen Salatplatte, "das sind pure Vitamine" hatte ihm Marcel Salate empfohlen. Hier endlich kann er sie sich leisten. Zum ersten Mal in seinem Leben ist Alain satt, hat er das Gefühl, dass er nichts mehr, nicht einmal mehr ein einziges Reiskorn essen könnte. Zufrieden geht er zurück in sein Zimmer und legt sich schlafen.
Irgendwann wacht er auf, es ist längst dunkel draußen. Wie viel Uhr mag es sein? Langsam erhebt sich Alain. Er verspürt schon wieder Hunger. Er geht, beinahe unbewusst tragen ihn seine Schritte wieder zu der Mensa, zu dieser grenzenlosen Anhäufung paradiesischer Speisen. Doch die Räume sind dunkel, verschlossen. Es ist bereits spät in der Nacht. Enttäuscht wendet sich Alain und geht zurück. Noch lange liegt Alain wach auf seinem Bett, lässt all die Dinge noch einmal vor seinem Geist passieren, die er zuhause erzählen wird. Er wird viel zu erzählen haben. Er stellt sich schon vor, wie er vor seiner Hütte sitzt, umringt von den Nachbarn, und von seinen Abenteuern erzählen wird. Den Kindern wird er einige dieser Köstlichkeiten aus der Kantine einpacken, denkt er, Schokoriegel, Gummibärchen hat er gesehen. Ohne Zucker stand darauf, aber sie waren dennoch wunderbar süß. Céline wird sich sicher über ein, zwei Flaschen dieses herrlichen Traubensaftes freuen. Und Éstelle? Er wird ihr auf jeden Fall einige dieser Postkarten vom olympischen Dorf, von den Stadien, der Leichtathletik-Arena bringen, vom Velodrom, der Sporthalle und von der Stadt, auch etwas Schokolade. Zufrieden schläft er schließlich ein.
Am nächsten Morgen wird er nach dem Frühstück abgeholt und zu einem kleinen Stadion gefahren. Er hat gut gegessen, Spiegeleier mit Schinken, einmal hat er Nachschlag geholt. Und drei Gläser Orangensaft hat er getrunken. Er fühlt sich hervorragend, fit, topfit. Er läuft drei, vier Runden um das Oval des Platzes, dann hinüber durch das Ausgangstor auf die Straße. Zehn Kilometer muss er heute laufen, hat ihm Marcel aufgetragen. Also läuft er und läuft, barfuß, eine lange breite Straße entlang, auf der sich lange Autoschlangen bewegen, lautlos. Sie hupen nicht, fällt ihm auf. Wie lange muss er laufen, bis er zehn Kilometer zurückgelegt hat, fragt sich Alain. Von Pétionville bis Kenscoff, das sind 15 Kilometer, hatte ihm Marcel gesagt. Dort kennt er sich aus. Aber hier, alle Häuser sehen gleich aus, sie sind schön, alle haben einen kleinen Garten und daneben ein kleineres Haus für das Auto. Er läuft weiter, kommt an eine große Straße, viel breiter, breiter sogar als die Straße von Port-au-Prince nach Cap-Haïtien. Hier sind hohe Häuser, 100 Meter hoch sind sie, nicht aus Steinen oder Holzbrettern, aus dunkeln Spiegeln scheinen sie gebaut. Schließlich wendet er, um zurückzulaufen. Er läuft, müsste längst wieder im Stadion angekommen sein. Aber immer noch sieht er nichts davon. Dann, endlich, inzwischen muss er mindestens zwanzig Kilometer gelaufen sein, taucht plötzlich das Stadion vor ihm auf. Angekommen macht er seine Dehnungsübungen, so wie ihn Marcel das gelehrt hatte. Nach jedem Training muss er diese Lockerungsübungen machen.
Er freut sich schon wieder auf die Mahlzeit. Seit er in diesem Paradies so viel essen kann, wie er will, fühlt er sich besser als je zuvor. Vergangen ist dieses nagende Gefühl im Bauch, das er aus langer Gewohnheit schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Aber es war immer dagewesen, hatte ihn nie verlassen - bis heute. Er ist fit, er fühlt sich stärker als je zuvor. Die reichhaltige Nahrung scheint ihm gut zu tun. Ja, er ist besser als die Anderen, er wird gewinnen. Jeden Tag schlägt sich Alain in diesem Schlaraffenland den Bauch voll, nimmt heimlich sogar noch einige Schokoriegel und andere Delikatessen aufs Zimmer, um so auch in der Nacht versorgt zu sein, wenn die Mensa verschlossen ist.
Er muss ja nicht mehr so viel trainieren, nur wenige Kilometer am Tag laufen, ein wenig schwimmen, Gewichte heben, ein paar Lockerungsübungen. Während sich die anderen Sportler nach wissenschaftlich ausgeklügelten Trainings-, Erholungs- und Speiseplänen vorbereiten, die Läufer Dehnungsübungen machen, die Schwimmer routinemäßig ihre Bahnen ziehen, die Boxer an der verrückten Birne oder am Sandsack ihre Schlagkraft und -technik verbessern oder sich auch nur die Muskeln massieren lassen, isst Alain. Er verspürt nicht, registriert nicht die stetige Gewichtszunahme. Er bemerkt nicht, wie er konditionell abbaut. Er realisiert nicht, dass er langsamer wird. Er fühlt sich ja gut. Er ist satt.
Schließlich kommt der Tag der Entscheidung. Zusammen mit zahlreichen Anderen startet Alain zum wichtigsten Lauf seines Lebens. Wenn er gewinnt, wird er ein neues Haus bekommen. Er läuft schnell an. Marcel hatte ihn gewarnt, nicht zu schnell anzugehen, sich seine Kräfte einzuteilen. Sogar berühmten Läufern sei dies schon passiert, hatte Marcel gewusst, dass sie zu schnell angingen, so dass ihnen am Ende die Luft wegblieb, dass sie auf den letzten Kilometern nichts mehr zuzusetzen hatten, nur noch abbauten, manchmal völlig ausgelaugt, ausgetrocknet einbrachen und nicht einmal ins Ziel gelangten. Aber er fühlt sich gut, stark, fit, er läuft leicht, ohne Anstrengung. Er weiß, dass er noch schneller laufen kann. Aber diese Kraft will er sich für den Schlussspurt aufheben.
Zuhause, in Port-au-Prince, fiebert Marcel vor dem Fernsehgerät. Wenn Alain unter die ersten zehn, zwanzig käme, wäre das ein sensationeller Erfolg. Verstohlen wirft Éstelle in Pétionville jedesmal, wenn sie den Herrschaften ein Getränk servieren muss, einen Blick auf den Fernseher, wo NBC die olympischen Spiele direkt überträgt. Sie erkennt einen Pulk von Läufern, Alain aber kann sie nicht entdecken.
Da sieht Marcel Alain. Sein Gesicht wirkt voller. Marcel staunt, schaut genauer hin, er möchte den Film anhalten, ehe Alain wieder aus dem Bild verschwindet. Wieder fährt die Kamera das Läuferfeld entlang. Marcel starrt auf den Monitor, bis er Alain im Pulk der Läufer wieder entdeckt, und erschrickt. Das ist nicht mehr der schlaksige, drahtige, beinahe unterernährt wirkende Alain, den er neun Monate lang auf diesen Lauf vorbereitet hat. Marcel schlägt sich mit der Hand vor die Stirn, daran hatte er nicht gedacht. Alain hat zu viel gegessen, erkennt er und steht auf. Er will das nicht ansehen, er weiß, Alain hat nicht die Spur einer Chance, wahrscheinlich wird er nicht einmal ins Ziel kommen. Marcel geht vor die Tür und tritt auf die Straße. Er muss sich beruhigen, wandert ziellos die Rue John Brown hoch, während Alain in Los Angeles Läufer um Läufer an sich vorbeiziehen lässt. Die gehen das Rennen ja noch schneller an, denkt er, sie machen genau jenen Fehler, vor dem ihn Marcel so eindringlich gewarnt hat. Er wird sie dann alle im Spurt überholen.
Er hat Durst, schwitzt, es scheint heute heißer als üblich zu sein. Endlich kommt die erste Verpflegungsstation in Sicht, hastig trinkt Alain eine Flasche Wasser, schüttet sich eine andere über den Kopf, greift nach zwei Orangenscheiben und läuft weiter. Mehr Läufer überholen ihn, einmal gerät er beinahe ins Stolpern. Aber er läuft leicht, er ist stärker als die Andern, er wird gewinnen. Wieder eine Verpflegungsstation, gierig trinkt Alain eine und noch eine Flasche Wasser, eine weitere schüttet er sich über den heißen Kopf. Es tut gut, dieses köstlich kalte Nass. Er schnappt sich zwei Schokoriegel und läuft weiter. Die Andern, die Konkurrenten sind längst nicht mehr zu sehen. Jetzt muss er langsam die Geschwindigkeit erhöhen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sonst könnte er sie nicht einmal im Spurt mehr überlaufen. Zum ersten Mal kostet es Alain Anstrengung, er keucht, sein Kopf ist heiß, scheint zu platzen. "Hopp, hopp, hopp, hopp", hört er Anfeuerungsrufe, einer schüttet ihm einen halben Eimer Wasser ins Gesicht, welche Wohltat. Ein Motorrad fährt langsam an ihn heran. "Können Sie noch", hört er eine Stimme, "es geht ja um nichts mehr." Gilt sie ihm?
Warum? Was heißt das? Es geht ja um nichts mehr? Er will gewinnen; wenn er gewinnt, wird er ein neues Haus bekommen, eines mit Strom und Wasser, soviel Wasser, dass er sich einfach darunter stellen kann, so dass es ihm kühl und erfrischend über den Körper läuft. Er darf ja nicht verlieren, sonst würde er Julie und Pierrot nie wieder sehen, haben sie gedroht. Und Céline, und Èstelle. Seine Beine werden schwer, Alain wundert sich, warum er plötzlich die Beine spürt. Sonst liefen sie immer wie von selbst, wie eine Maschine. Er schnauft, sein Mund ist weit geöffnet. Sein Tempo wird langsamer. Aber er merkt es nicht, er träumt vom Triumph des Sieges, von dem neuen Haus mit viel kühlem Wasser.
Bei der Tankstelle in der Rue John Brown kehrt Marcel um, wütend, verzweifelt, enttäuscht. Zuhause will er sich wenigstens die letzten Kilometer des Marathonlaufs anschauen. Vielleicht hat er sich ja getäuscht, vielleicht schneidet Alain ja wider Erwarten gut ab. Dort laufen schon die Ersten ins Stadion ein, der Führende, ein Portugiese zieht plötzlich gewaltig an, so wie sich Marcel das von Alain gewünscht hätte. Aber von Alain ist noch nichts zu sehen. Zwei Stunden, neuneinhalb Minuten, die Siegerzeit. Eine gute Zeit, denkt Marcel. Wo aber bleibt Alain? Was ist passiert? Hat er aufgegeben? Den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, wartet Marcel, bis auch die letzten der Läufer durchs Ziel gegangen sind. Aber kein Alain. Er hat aufgegeben, seufzt Marcel. Um sich zu beruhigen schaut er noch das Springreiten an, mit dem die sportlichen Wettbewerbe dieser Olympiade abgeschlossen werden.
Éstelle steht unter der Tür zur Wohnhalle, in der die Herrschaften mit einigen Gästen der Übertragung des Marathonlaufes folgen. Unauffällig beobachtet sie die im Stadion ankommenden Läufer, lauscht den Namen, die der Reporter nennt. Alain erwähnt er nicht. Ist das nicht der Lauf, an dem Alain teilnehmen sollte, wundert sich Éstelle. Der Sieger steht längst fest, Silber- und Bronzemedaille ebenfalls. Wo ist Alain? Éstelle's Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Es wird ihm doch hoffentlich nichts zugestoßen sein.
Alain hat Mühe, seine Beine wollen nicht seinem Willen folgen. Wie Blei hängen sie gefühllos an ihm. Wieder stolpert er, torkelt, richtet sich wieder auf und läuft weiter. Endlich sieht er das Stadion vor sich, der Anblick gibt ihm neue Kraft, er setzt zum Spurt an, läuft, betritt das Stadion, Beifall brandet auf, Jubel, er winkt, noch eine Runde, eine Runde auf der Aschenbahn, dann ist er im Ziel. Der Beifall trägt ihn, er wird wieder schneller, das ist der Spurt, mit dem er die Andern noch überlaufen wird. Doch da ist niemand mehr, den er überlaufen könnte.
"Da kommt noch einer", hört Marcel die Stimme eines Fernsehreporters, der die Übertragung des Weitsprung-Wettkampfes unterbricht. "Der Marathonlauf ist doch längst vorüber? Wer ist das? Ah, jetzt kann ich es erkennen, Haiti! Haiti kommt jetzt - er blickt auf die Uhr - ja, es ist Haiti, Haiti kommt also beinahe, Moment, beinahe eine dreiviertel Stunde nach dem Sieger hier ins Ziel. Mein Gott. Da wendet man das olympische Motto 'dabei sein ist alles' wohl doch etwas zu großzügig an. Vielleicht sollten sich die Organisatoren überlegen, auch im Marathonlauf Qualifikationsnormen einzuführen. Solche Sportler haben doch unter den Weltbesten nichts zu suchen. Dies sollte hier eben noch am Rande angemerkt werden. Ich gebe nun zurück zum Weitsprung.“
Erschüttert vergräbt Marcel sein Gesicht in den Händen. Warum nur ist Alain weiter gelaufen, auch als er längst weit hinter allen Zeitnormen lag. Es wäre besser gewesen, er wäre nicht ins Ziel gekommen, dann hätte niemand von seinem Versagen besondere Notiz genommen. Doch dieser Auftritt, dieser Einlauf ins Stadion vor der gesamten Weltöffentlichkeit! Er wird mit den Kerlen vom Ministerium sprechen. Wo waren sie, diese Wichtigtuer?
Als der letzte der Marathonläufer durchs Ziel gegangen ist, wendet sich Éstelle wieder ihren Pflichten zu, füllt leere Gläser und kleine Schalen mit Getränken und Snacks. Schade. Aber so wichtig schien ihr Alain's Sieg nie gewesen zu sein. Zwei Wochen hatte sie weniger auf seinen Sieg als vielmehr auf seine Rückkehr gewartet. Jetzt wird er sie bald wieder besuchen, ihr aus Büchern vorlesen, viele Geschichten erzählen und sie lieben. Lärm in der Wohnhalle lockt sie aus der Küche zurück, um einige Getränke nachzufüllen und unauffällig dem Geschehen auf dem Bildschirm zu folgen. Dort sieht sie Alain, hinter dem Ziel ist er zusammengebrochen, ein paar Helfer sind zu ihm hinüber geeilt. Éstelle zuckt zusammen, wendet sich dann aber erleichtert wieder ab, als sie sieht, wie sich Alain wieder erhebt und langsam mit gesenktem Kopf aus dem Bild geht, das desinteressiert ab- und wieder zu den Springreitern geschaltet wird. "Welche Blamage", fuchtelt der Elektrohändler aus Kenscoff wild mit seinen Armen. "Wer hat denn den dorthin geschickt", empört sich ein Anderer. "Wir werden eine Untersuchungskommission einsetzen", verspricht der gutaussehende - wie Éstelle sich einräumt - Bruder ihrer Chefin und Parlamentsabgeordnete, der ihr allerdings schon lange höchst unsympathisch ist, weil er immer den Mädchen in der Küche unter die Röcke fasst, jetzt ist er ihr geradezu zuwider. Was kann Alain dafür? Er hat sich nicht um diese Arbeit gerissen.
Endlich darf er dieses kalte Nass genießen, stellt sich Alain unter die Dusche. Minutenlang lässt er das kalte Wasser über seinen gepeinigten Körper strömen. Bis plötzlich die Türe auffliegt. Er habe total versagt, schimpft der Ministeriale, hinter dem sich die andern Funktionäre aufgebracht drängen. "Du hast Haiti's Ehre beschmutzt! Du hast nicht nur dich, sondern uns alle, dein Land der Lächerlichkeit preisgegeben! Du hast den Präsidenten beleidigt!" werfen sie ihm vor. Die Teamkameraden meiden ihn, flüstern in seiner Gegenwart nur noch. Er ist ein Aussätziger. Alain begreift nichts. Er versteht nicht, warum er verloren hat. Er hat sich doch so gut gefühlt, besser als je zuvor. Was wird Céline sagen? Kein neues Haus, das ist ihm klar. Er hat versagt. Was wird Marcel sagen? Éstelle?
Niemand redet mit ihm auf dem Rückflug. Sofort nach der Landung in Port-au-Prince muss er seine Schuhe, die Uniformjacke und die Krawatte abgeben. Sie fahren ihn nicht nach Hause. "Bringt ihr mich nicht zu meiner Frau und meinen Kindern", bittet Alain.
"Du kannst doch so gut laufen", lassen sie ihn einfach stehen und fahren davon. Müde trottet er durch die schmutzigen, lärmigen Straßen von Port-au-Prince. Als er in Carrefour Feuilles in den kleinen Weg an dem schmalen Kanal einbiegt, in dem sich wie immer die seifig-bläuliche Brühe der Abwasser staut, laufen ihm die Kinder der Nachbarschaft laut rufend entgegen. Sie freuen sich, dass er wieder da ist. Nachbarn klopfen ihm auf die Schultern. Seine Niederlage hat sich längst herumgesprochen. Doch hier ist das nicht wichtig. Sie hatten ohnehin nicht so recht verstanden, was die ganze Veranstaltung sollte. Olympiade? Das sei doch nur etwas für die Reichen, hatte Georges schon vor Monaten einmal bei einer der seltenen Gelegenheiten, zu denen er sich noch äußerte, zu bedenken gegeben.
Céline muss er nicht viel sagen. Dass er kein neues Haus bekäme. Er habe verloren, obwohl er so schnell gewesen sei wie noch nie. Er habe sich noch nie so wohl gefühlt, wie bei diesem Lauf. Nur gegen Ende habe er etwas Schwierigkeiten gehabt, doch der Spurt sei ihm wieder gelungen. Er wisse nicht, was passiert sei. Die anderen Läufer müssten auf Vogelschwingen getragen worden sein. "Was ist schon dabei", zuckt sie unbeeindruckt die Schultern. Sie blieb auch in der Niederlage gelassen, hatte ohnehin noch nie Zeit gehabt für Träume, schon gar nicht für derart realitätsferne Träume wie die vom eigenen Haus mit Strom und Wasser. "Du bist ein Postbote, kein Sportler. Du musst morgen eben wieder Briefe austragen." Er nickt.
PS: Vier Jahre später – Haiti’s Diktator Jean-Claude Duvalier war inzwischen gestürzt und ins französische Exil ausgereist – unternahm Dieudonne Lamothe noch einmal einen Versuch. Bei den Olympischen Spielen in Seoul lief er im Marathon in 2:16:15 Stunden auf den 20. Platz.