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Der Mantel
Lena hört die Tür ins Schloss fallen. Er ist weg. Durch ihre zugeschwollenen Augen beginnt sie, sich im Raum zu orientieren. Benommen nimmt sie die Möbelstücke wahr, das Fenster, die Tür. Vergeblich versucht sie, sich am Tischbein hochzuziehen. Ihr gesamter Körper scheint am kalten Küchenfußboden festzukleben. Erst jetzt bemerkt sie das Blut, das zwischen ihren Beinen hinabläuft. Dann umfängt sie gnädige Finsternis.
Sie kam gerade aus dem Eingang der Praxis, als sie mit Merle zusammenstieß. Seit der Schulzeit hatten sie sich nicht mehr gesehen.
„Hey Lena! Wie geht's?“
Sie umarmten sich, wie alte Freunde das tun, nahmen kurz Abstand, um sich gegenseitig genauer zu betrachten. „Na? Was seh' ich denn da?“, neckte Merle sie.
„Ja, bei uns ist es endlich so weit“ antwortete Lena und strich sich sanft über ihren Bauch. Stolz wedelte sie mit dem neuen Ultraschallbild.
„Kinder sind was Wunderbares!“, sagte Merle. „Ihr werdet eure Freude haben.“
Merles Augen blitzten noch immer so spitzbübisch wie vor vielen Jahren, als sie in den Ferien gemeinsam in Oma Friedas Kirschbaum saßen und die Kirschen naschten. Oder als sie dem doofen Timmy aus der 5b die Badehose geklaut hatten und er nackig nach Hause laufen musste.
Lena erinnerte sich auch sofort wieder an den Abend, als sie sich am Türsteher vorbei in den Klub geschlichen hatten. Mit zu viel Make-up im Gesicht und zu wenig Stoff am Leib.
Im Klub war es sehr voll. Es roch nach Schweiß und Zigarettenrauch. Der wummernde Bass der Musik fuhr ihr in die Eingeweide und ließ sie ihre Hüften bewegen. Aus den dunklen Ecken kamen unbekannte Geräusche, die ihr ein wenig Angst machten. Sie hatte ihre Freundin Merle aus den Augen verloren. Lena zwängte sich durch die Leiber der Tanzenden, die ihre Körper in gleichförmigen Rhythmus der Musik aneinander rieben. Wo war Merle bloß?
Da sah sie ihn plötzlich! Er stand in einer Gruppe junger Männer. Groß und schön. Ihr Traumprinz! Sie sah ihn einfach nur an. Und dann erblickte er sie. Die farbigen Lichter zuckten auf ihren Gesichtern. Die Musik war plötzlich nicht mehr ohrenbetäubend. War da überhaupt noch Musik? Er zwinkerte ihr zu und ihre Angst war verschwunden. So begann damals ihre Liebe.
Merle schnappte sich das Ultraschallbild und hüpfte vor Lena her. „Lass uns einen Cappuccino zusammen trinken!“, lachte sie und zeigte auf ein Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Freudig und aufgeregt schwatzend steuerten beide Arm in Arm darauf zu.
Als Lena ihre Mütze und ihren Schal abgenommen hatte, strich sie sich ihre Haare tief in die Stirn.
„Hey, wie geht's dir, Lena?“, fragte Merle. „Ich habe gehört, du hast dir den Traumprinzen geschnappt, für den du damals schon so geschwärmt hast?“
„Ja. Das stimmt“, antwortete Lena etwas verhalten und begann ungeduldig, nach dem Kellner zu schnippen. Sie waren die einzigen Gäste.
„Aber sag! Was ist bei dir so alles passiert?“, wollte Lena wissen und begann Merle Löcher in den Bauch zu fragen. Dabei zog sie die Ärmel ihres Mantels über ihre Hände und schlug den Kragen hoch, doch Merle hatte die blauen Flecken an den Handgelenken und am Hals längst bemerkt. Sie hörte auf, von sich zu erzählen, und betrachtete Lena aufmerksam. Bedrückendes Schweigen waberte durch den Raum. Die Uhr über der Kuchenvitrine tickte laut und feindlich. Die eingetretene Stille war beiden unangenehm.
Lena stellte erschrocken fest, wie spät es inzwischen geworden war. Er war bestimmt schon daheim. Rasch bezahlte sie ihr Getränk und wollte nach Hause eilen. Da packte Merle ihr Handgelenk, schaute Lena tief in die Augen und sagte: „Er tut dir weh! Das darf er nicht!“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Lena riss sich los.
Merle sprang Lena hinterher und hielt einen kleinen gefalteten Zettel zwischen den Fingern. „Hier ist meine Nummer draufgeschrieben. Ruf' mich an, wenn du Hilfe willst!“ Sie schob den Zettel in Lenas Manteltasche, als diese sich umdrehte und aus dem Café stürmte.
Lena hetzte die riesige geschwungene Treppe zur Wohnung hinauf. Er saß im Sessel und erwartete sie bereits. Schön und groß. Und kalt. In entschuldigendem Ton erzählte Lena von Merle, die sie zufällig auf der Straße getroffen hatte, und von ihrem Nachmittag im Café. Er saß weiterhin wie versteinert in seinem Sessel.
„Warum bist du so still?“, fragte sie.
Keine Reaktion. Er schaute sie nur mit kaltem Blick an.
Sehr langsam, wie in Zeitlupe, erhob er sich aus seinem Sessel. In seinen Augen begann etwas zu glimmen. Lena wich zurück.
Was dann geschah, hätte Lena ahnen müssen, hatte sie es doch schon einige Male zuvor erlebt. Es passierte alles sehr schnell. Ohne Vorwarnung schlug er ihr ins Gesicht. Lena fühlte sich benommen von dem Schlag an die Schläfe und taumelte rückwärts. Er packte sie bei den Haaren und zerrte sie ins Bad. Völlig überrumpelt schrie Lena, er solle sie loslassen, ihr erklären, was denn eigentlich los sei. Er stieß sie auf den Fliesenboden und Lena prallte dabei mit der Schulter gegen den Rand der Wanne. „Wo warst du den ganzen Tag?“, brüllte er sie an. Seine Augen waren blutrot.
„Das habe ich dir doch gerade erzählt“, antwortete Lena, sich vorsichtig am Badewannenrand hochziehend. Doch er schrie wie wild. „Ich komme hier nach Hause, und meine Frau treibt sich irgendwo rum! Ich lass mich nicht von dir an der Nase herumführen!“, brüllte er.
„Aber ich hab' dir doch gerade erzählt, wo ich war. Ich war mit Merle einen Cappuccino trinken.“ Sie rappelte sich hoch, wollte sich an ihm vorbeizwängen, raus aus diesem Badezimmer.
„Erzähl mir keine Lügen. Bei einem Mann warst du! Ich weiß alles.“
„Nein, das stimmt nicht!“, versuchte Lena gegen seine Lautstärke anzukommen.
Da packte er sie erneut, zerrte sie in die Küche und rammte sein Knie in ihren Bauch. Lena versagte der Atem und sie klappte zusammen. Er ließ sie zurück und warf die Tür hinter sich zu.
Sie erwacht mit einem pelzigen Geschmack im Mund. Langsam beginnt sich der Nebel in ihrem Kopf zu lichten und sie nimmt ihre Umgebung schemenhaft wahr. Das Krankenzimmer ist riesig, genau wie der Blumenstrauß auf dem Beistelltisch. Sie ist allein. Durch die geöffnete Zimmertür kann sie Menschen auf dem Krankenhausgang vorbeieilen sehen.
In diesem Augenblick betritt eine ältere Schwester den Raum. „Das ist aber schön, dass Sie endlich aufgewacht sind. Wir waren sehr in Sorge um Sie.“ Rasch richtet Sie mit geübten Handgriffen das Kopfteil von Lenas Bett auf.
„Kann ich etwas für Sie tun? Haben Sie einen Wunsch?“, fragt sie.
„Durst“, haucht Lena. Ihre rissigen Lippen schmerzen.
„Na, das haben wir gleich“, antwortet die Schwester und gießt flink etwas Wasser in ein Glas. „Ihr Mann ist sich nur kurz einen Kaffee holen“, spricht sie weiter, während sie Lena das Glas reicht. „Er wird bestimmt gleich wieder zurück sein. Er hat sich die ganze Zeit rührend um Sie gesorgt.“ Sie wirft einen beeindruckten Blick auf die prachtvollen Blumen.
„Schlimm aber auch, was Ihnen passiert ist! Die Treppe hinuntergestürzt. Gestolpert. Ach Kindchen, wie kann Ihnen denn sowas passieren? Ich kann es nicht glauben. Gut, dass Ihr Mann Sie so schnell gefunden hat“, plaudert sie weiter.
Lena bemüht sich, aus dem Wasserglas zu trinken, ohne dass die Flüssigkeit ihr sofort wieder aus den Mundwinkeln rinnt.
Die Schwester huscht aus dem Raum.
Schlagartig überfällt sie die Erinnerung. Ihre Finger krampfen sich ums Wasserglas.
Sie reißt die Augen auf. „Mein Baby!“ Das Glas rutscht ihr aus der Hand und zerschellt auf dem Boden. Die Splitter stieben auseinander.
Fahrig gleiten ihre Finger suchend über die Bettdecke, tasten ihren Körper ab. Aber da ist nichts. Lena kann ihren Babybauch nicht ertasten. Er ist verschwunden. Es ist verschwunden!
Fernab der Welt sammelt sich ein brennender Druck hinter ihrer Stirn. Ihr Kopf scheint platzen zu wollen. Ihre Augen werden warm, dann heiß. Eine einzelne Träne läuft langsam ihre Wange hinunter und brennt sich tief in die Haut ein.
Seit einiger Zeit stehen Personen um Lenas Bett herum und sprechen auf sie ein. Aber Lena hört nichts. Taubheit hat sie in ihre sanftmütigen Arme geschlossen. Taubheit aller Sinne. Sie sieht, hört und vor allem fühlt sie nichts. Keine Stimmen um sie herum, auch plötzlich keine Schmerzen mehr. Nur diese vage Erinnerung einer kleinen heißen Träne auf ihrer Haut.
Die Personen sind jetzt fort.
Sie muss weg hier!
Langsam quält sie sich aus ihrem Bett. Sie wankt zum Schrank, zieht sich ihren Mantel über und taumelt immer wieder Halt suchend aus dem Zimmer. Draußen im Gang wird ihr schwindelig und sie muss sich setzen. Sie kuschelt sich in ihren Mantel, als könne sie sich in ihm verstecken. Sie friert jetzt. Sie gräbt ihre Hände tief in die Manteltaschen. Da ertasten ihre Finger etwas. Sie zieht einen gefalteten Zettel aus der Tasche, darauf eine Telefonnummer.
Als nach mehrmaligem Klingeln abgenommen wird, weiß Lena nicht, was sie sagen soll. Sie kann nur atmen.
„Lena, bist du es?“, fragt Merles Stimme.
„Ja“, krächzt sie.
„Lena, ich komme! Wo bist du?“
Als Merle sie in die Arme nimmt, hält sie immer noch den kleinen Zettel fest zwischen ihren Fingern. Entfaltet.