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Der Mann von der Stange
Getrieben von meiner Sammelleidenschaft bin ich viel unterwegs, um Menschen mit außergewöhnlichen Hobbys kennen zu lernen. Die Aufzeichnungen über sie kann ich dann meiner Sammlung hinzufügen. Eine meiner letzten Reisen führte mich nach Berlin und als ich dort durch die Straßen schlenderte, kam mir ein mittelgroßer, dezent gekleideter Mann entgegen. Er hatte ein Gesicht von der Stange und jeder, der ihm begegnete, fand ihn vermutlich so ungewöhnlich wie eine Ampel an einer Straßenkreuzung.
Doch meinem geschulten Blick fiel der Mann (später recherchierte ich, dass er Lehmann hieß) aus irgendeinem Grund auf.
Ich beschattete also Herrn Lehmann, stellte fest, wo er wohnte und dass er in einer großen Werbeagentur angestellt war. Lange Zeit geschah nichts. Morgens verließ mein Beobachtungsobjekt schon früh das Haus, ging zur U-Bahn und vertiefte sich in sein Smartphone. Vier Stationen weiter stieg es aus und ging raschen Schrittes zum Bürogebäude Ecke Karlsstraße/Fischerstraße, das es erst gegen sechs Uhr abends wieder verließ. Ohne Umwege gelangte Herr Lehmann dann auf demselben Weg wieder zurück zu seiner Wohnung. So ging das mehrere Tage. Hatte mich meine Intuition diesmal im Stich gelassen? Ich wollte meine Observierung schon abbrechen, als Herr Lehmann eines Abends auf dem Weg zur U-Bahn völlig überraschend in eine kleine Seitenstraße einbog.
Ich folgte ihm und sah ihn nach einigen hundert Metern plötzlich stehen bleiben, in die Hocke gehen und einen Pappbecher anstarren, der vom Wind getrieben über das Pflaster rollte. Wenig später stellte er sich vor ein altes Werbeplakat, das in Fetzen von einem Zaun hing, und betrachtete es eingehend. Eine Ahnung keimte in mir auf, ohne dass ich sie in Worte fassen konnte. Herr Lehmann folgte einer faszinierenden Passion, da war ich mir nun sicher. Aber welcher? Einige Abende später beobachtete ich ihn dabei, wie er auf einer Brücke stand und einfach nur gen Westen sah, wo die sinkende Sonne den Abendhimmel erglühen ließ. Noch am selben Abend ertappte ich ihn dabei, wie er seine Nase an ein hellerleuchtetes Schaufenster presste und dort – unglaublich, aber wahr – minutenlang die Kreise und Drehungen studierte, die eine Fliege auf der Innenseite der Fensterscheibe vollführte. Was um alles in der Welt fand er daran bemerkenswert?
Am Wochenende verfolgte ich Herrn Lehmann dann zu einem Café am Wannsee, wo er sich auf der Terrasse einen Cappuccino bestellte. Doch statt zu trinken, beugte er sich über die Tasse und beäugte offenbar den Schaum auf seinem Getränk. Nicht, um die Bläschen zu zählen, da war ich mir sicher. Aber warum dann?
Ich hielt es nicht mehr aus. Jetzt wollte ich Klarheit. Also trat ich an seinen Tisch.
„Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?“, fragte ich.
„Sehe ich so aus, als hätte ich keine Zeit?“ Er lud mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen.
Nachdem ich Platz genommen hatte, kam ich gleich zur Sache. Ich erwähnte meine Sammelleidenschaft und erzählte, wie ich ihn bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet hatte, um herauszufinden, welches Hobby er ausübte. Vielleicht empfand er es als zudringlich, dass ich ihn verfolgt hatte? Meine Befürchtung erwies sich als unbegründet.
„Ich fühle mich geschmeichelt über so viel Aufmerksamkeit“, sagte er nur. „Sie folgen Ihrer Sammelleidenschaft, darin gleichen wir uns. Und? Haben Sie herausgefunden, was meine Passion ist?“
Ich musste zugeben, dass dem nicht so war.
„Aber es ist doch ganz einfach“, sagte er. „Sie müssen nur den kleinsten gemeinsamen Nenner Ihrer Beobachtungen finden. Sich fragen, was ich gesehen habe.“ Als er mein verständnisloses Gesicht sah, meinte er: „Ich helfe Ihnen mal auf die Sprünge“ und erzählte von seinen Eindrücken. Er sprach von den anmutigen, aber dennoch vollkommen chaotisch wirkenden Bewegungen des Pappbechers, der die Monotonie der Straße durchbrach, und schwärmte von den Sonnenlichtreflexen auf dem Wasser, mit denen ihm die Abendsonne kryptische Botschaften zublinkerte. Das Werbeplakat war für ihn ein Gleichnis des Lebens; einst verkündete es stolz in satten Farben seine Botschaft, doch waren die Farben allmählich verblasst. Papierfetzen wehten im Wind. „Was für eine Melancholie!“, sagte er.
Ich nickte nur. „Was ist mit der Fliege?“, fragte ich lächelnd, denn seine Antwort konnte ich mir nun bereits denken.
Die Bewegungen der Fliege auf der Fensterscheibe seien wie ein graziler Tanz gewesen, der von einer unhörbaren Melodie bestimmt wird, antwortete Herr Lehmann. Mal habe die Fliege verharrt, als hätte sie dem Rhythmus der Welt dort draußen gelauscht, dann wieder habe die Choreografie ihres Tanzes sie erneut in ihren Bann gezwungen. „Und der Schaum auf meinem Cappuccino …“, fuhr er fort.
„Halt, sagen Sie nichts“, unterbrach ich ihn. Während unseres Gesprächs hatte ich es nicht lassen können, immer wieder einen Blick auf seine Tasse zu werfen. Nun ergänzte ich eifrig wie ein Musterschüler: „Der Milchschaum auf Ihrem Cappuccino – er sinkt langsam zusammen, als würde er leisen Abschied nehmen. Jede der zahllosen Bläschen platzt in sanfter Stille, ein winziges Universum, das vergeht. Ihr zartes, schaumiges Geflecht löst sich auf, verschmilzt mit der glatten Oberfläche des Kaffees darunter. Es ist ein sachte voranschreitender Prozess, fast wie das langsame Ausatmen des Morgens, in dem das Flüchtige seinen Zauber entfaltet.“
Herr Lehmann verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen: „Ein bisschen übertrieben vielleicht, aber ja, so ähnlich hätte ich es auch formuliert.“
„Sie sammeln flüchtige Alltagspoesie!“
„So ist es. Es gibt wahrscheinlich nicht allzu viele Menschen, die das erraten hätten.“
Nun erzählte mir Herr Lehmann, dass er die Momente, in denen er diese Alltagspoesie beobachte, wie Schätze in seinem Gedächtnis aufbewahrte, um sie in ruhigen Stunden wieder hervorzuholen und zu genießen.
Hochzufrieden fuhr ich nach Hause. Seit dieser Reise gönne ich mir öfter die Muße, um zum Beispiel wirbelnde Schneeflocken im Licht einer Straßenlaterne zu bewundern oder eine besonders interessante Wolkenformation. Dann denke ich an Herrn Lehmann, den Mann von der Stange, der so alltäglich wirkte wie eine Ampel an einer Straßenkreuzung.