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Der Mann im Zug und das Mädchen

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23.01.2007
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Der Mann im Zug und das Mädchen

Eigentlich möchte ich schreiben, aber mir gegenüber sitzt Jasmin. Oder Nicole. Vielleicht heißt sie auch Marie oder Annabel, ich kann es nicht so genau sagen, sie hat noch nicht mit mir gesprochen.
Sie drückt ihre schwarzen Locken ans kalte Fenster, ihre Unterlippe schiebt sich vor, es sieht aus, als würde sie schmollen, dabei schläft sie schon seit zwanzig Minuten. Die Arme vor der Brust verschränkt sitzt sie da, den Mantel hat sie nicht ausgezogen, vielleicht ist ihr kalt. Ich bin sicher, sie kuschelt gerne, drückt sich vor dem Fernseher gemütlich in die weichen Kissen, streichelt ihre Katze und zündet Kerzen an, wenn sie badet.
Ich habe mein Notebook aufgestellt. Bilde mir ein, ich könnte die Zeit nutzen, diese drei Stunden von Stuttgart nach Frankfurt, aber so weit kommt es selten. Man kann nur schreiben, habe ich gehört, wenn man nicht abgelenkt ist. Wenn man sich auf das konzentrieren kann, was man erzählen möchte.
Aber vielleicht möchte ich von Jasmin erzählen. Von ihrer zu großen Nase, vom Kondenswasser, das sich auf der Scheibe niederschlägt, wenn sie atmet und von den zwei, drei Pickeln im Gesicht, die sie zu überschminken versucht hat.
Ob ihr Schal nach Jasmin duftet? Locker wickelt er sich um ihren Hals, dunkelrote Wollfäden vermischen sich mit dunkelblauen. Vielleicht hat sie ihn selbst gestrickt und aus der gleichen Wolle auch noch Socken gefertigt, einen blau, den anderen rot. Mama würde sie abfällig betrachten, diese Farbkombination. Das würde zu ihrem Schmollmund passen, dieser kleine Protest für zu Hause, der Trotz, wenn niemand es sieht – außer Eingeweihte.
Sie kräuselt die Nase, blinzelt, und betrachtet müde die Schneelandschaft vor dem Fenster. Im Abteil klingelt ein Telefon, jemand murmelt leise, ich kann nicht verstehen, um was es geht. Kurz streift mich Jasmins Blick und ich versuche, darin zu lesen, aber da beugt sie sich schon zu ihrer Tasche und holt ein Buch hervor, legt es auf den kleinen Tisch, der sich zwischen uns befindet, schlägt es an einer Stelle auf, die mit einem gelben Post-It markiert ist und liest mit Hilfe ihres Zeigefingers Zeile um Zeile. Blättert um, kramt mit der anderen Hand einen Bleistift aus der Manteltasche, beginnt, Textstellen zu unterstreichen und legt ab und an die Stirn in Falten.
Ich zwinge mich, nach draußen zu sehen. Dörfer ziehen an uns vorbei, eine verschneite, viel zu malerische Winterlandschaft, sanfte Hügel durchfurcht von Hecken und Gestrüpp.
Meine Tasche liegt am Boden, ich bücke mich und brauche eine Weile, bis ich mein Buch hervorgeholt habe, weil ich die Zeit nutze, um ihre Schuhe zu betrachten. Graubraune Lederstiefel, an den Spitzen abgewetzt – nichts Besonderes, Alltagsschuhe. Darin stecken ihre Schenkel in dunklen Jeans und ich frage mich, ob das nicht unbequem ist in den Stiefeln, wenn die Hose Falten wirft.
Jasmin nimmt keine Notiz von mir und ich lehne mich zurück, schiebe meinen Schuh vor, nur ein paar Zentimeter, bis er ihren Stiefel berührt. Das ist wagemutig, ich weiß, aber auch nur eine zufällige Geste. Nichts, was man mir falsch auslegen könnte.
Sie wippt mit dem Fuß, das sanfte Auf und Ab überträgt sich auf mich, wandert meine Schenkel hoch in meinen Bauch. Ich bilde mir ein, die Wärme ihrer Zehen spüren zu können, durch die zwei Lagen Leder hindurch. Es ist, als hätte ich eine verbotene Verbindung hergestellt zu diesem fremden, weiblichen Wesen.
Die Zeit vergeht schneller, wenn ich lese. Draußen verändert sich die Landschaft, wir fahren durch die Vororte von Frankfurt und ich stelle fest, dass ich nicht bekommen habe, was ich wollte. Vielleicht habe ich auf eine Regung von Jasmin gewartet, auf ein Zeichen, einen Blick von ihr, der mir gesagt hätte: Sprich mich an.
In meiner Erinnerung spule ich die Zugfahrt noch einmal ab, prüfe jedes Detail, aber da war nichts. Hier ist nichts zu holen, sage ich mir und weiß gleichzeitig, dass ich nichts holen wollte, sondern auf ein Geschenk gewartet habe: Einen Blick vielleicht, ein Lächeln, eine Bestätigung - dann hätte ich sie gefragt, ob sie Lust auf Plaudern hätte, in einer gemütlichen Bar vielleicht, bei einem Glas Rotwein, der doch farblich so gut zu ihrem Schal passen würde. Sie hätte gelächelt und mir ihre Nummer gegeben und ich hätte den Abend damit verbracht, darüber nachzudenken, ob ich anrufen sollte – oder nicht.
Wir fahren in den Bahnhof ein, sie steckt ihr Buch zurück in die Tasche, zieht den Reißverschluss zu und steht auf. Mit den anderen Fahrgästen in einer Reihe geht sie den schmalen Gang entlang in Richtung Ausgang. Ich zögere, stelle fest, dass der Moment vorbei ist, in dem ich sie hätte ansprechen können.
Als Letzter stehe ich auf und sehe, dass Jasmin draußen auf dem Bahnsteig stehenbleibt. Plötzlich hab ich es eilig, zum Ausgang zu kommen, drängle mich an den anderen Fahrgästen vorbei, remple mit meiner großen Tasche an, entschuldige mich, gelange ins Freie und blicke mich um.
Aber sie ist weg. Das Mädchen mit der süßen Nase ist unauffindbar und ich stehe inmitten hektischer Menschen und finde sie nicht.
So sind sie, die Frauen, denke ich mir, und atme tief ein und aus, als müsste ich mich vergewissern, dass ich noch lebe, spüre die kühle Luft in meine Lungen dringen und wieder hinaus, sehe zu, wie sie zu klammem Dampf kondensiert und den Bahnsteig entlang davontreibt, bis nichts mehr von ihr übrig ist.

 
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Hallo Yours Truly,

ich habe die Neufassung deiner Geschichte gelesen und sie gefiel mir sehr gut.

Ich kann die Haltung des Mädchens nachvollziehen, denn ich mag es auch nicht, wenn ich alleine im Zug/Bus/Straßenbahn sitze und mich von einer Person beobachtet fühle. Das Mädchen war sich m.E. bewusst, dass sie beobachtet wurde, wollte aber keinen Kontakt mit deinem Prot.

Das ganze war sehr wirklichkeitsnahe und spannend zu lesen, obwohl nichts wirklich spektakuläres passierte.

Gruß

Leia4e

 

Grüß dich Leia4e!

Ja, ich kann mir das schon gut vorstellen, dass man das nicht mag wenn einen jemand so penetrant beobachtet. Man fragt sich ja: Was will der von mir? Warum schaut er mich so an? Wäre viel einfacher und entspannender, wenn der dann einfach mal den Mund aufmachen würde und reden.
Obwohl ... in manchen Fällen wird es wohl DANN erst richtig lästig. :)

Danke dir!

yours

 

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