Mitglied
- Beitritt
- 21.05.2007
- Beiträge
- 14
Der Mann im Spiegel
Schimpansen brauchen im Schnitt einen Tag um zu begreifen, dass das, was sie im Spiegel sehen, sie selbst sind. Orang-Utans kommen nach drei Tagen dahinter, Gorillas nach fünf. Alle anderen Tiere erkennen sich nie. Zu dieser Sorte scheint auch Günter zu gehören. Günter hat einen akzeptablen Job als Anwalt in einer Kanzlei. Er hat zwei Autos, einen BMW und einen Volkswagen. Er hat eine Frau, mit der er schläft und Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die er Montags bis Freitags in die Schule fährt. Er hat eine abbezahlte Doppelhaushälfte in einem guten Viertel der Stadt. Er hat viele Freunde. Manchmal, so meint er, zu viele. Mit diesen verabredet er sich zum joggen, golfen oder trinken. Mit Ausnahme eines kleinen Ticks führt er ein durch und durch normales Leben. Dieser Tick besteht darin, die halbe Nacht hindurch, wenn Frau und Kinder schlafen, im Bad vorm Spiegel zu stehen. Günter zieht sich dann aus und betrachtet den Spiegel. Die Unterhose behält er an, denn er schämt sich vor Fremden. Und so einen sieht er im Spiegel. Sicher, das ist der Anwalt mit Autos, Haus, Frau und Kindern. Aber das ist nicht er. Günter trifft den Mann im Spiegel nun schon seit Jahren, er weiß nicht genau seit wann. Er mag ihn und er glaubt, dass der Mann im Spiegel ihn auch mag. Er kennt nicht einmal seinen Namen und sie haben noch nie miteinander gesprochen. Aber das ist auch nicht nötig. Sie können sich Stunden lang tief in die Augen sehen, ohne auch nur ein Wort zu wechseln und der Mann im Spiegel weiß sofort, was Günter beschäftigt und fühlt. Heute gibt es wieder viel zu berichten.
Meine Frau hat mir zum Frühstück Kaffee und Rührei gemacht und einen Kuss aufgedrückt. Die Zeitung lag auch schon bereit. Morgen soll es ein Unwetter geben. Uninteressant. Vom Rest der Nachrichten weiß ich nichts, die Kinder waren bereit in die Schule gefahren zu werden. Kleine süße Dinger sind sie. Immer gut gelaunt. Manchmal zanken sie sich, aber wer tut das nicht? Im Büro wartete eine ganze Menge Schreibkram auf mich. Wegen dem Prozess in ein paar Tagen. Aber das interessiert dich sicher nicht. In der Mittagspause ging ich mit einem Kollegen zum Chinesen. Hat sehr gut geschmeckt. Ebenso die Zigarette danach. Ich weiß, ich weiß, ich wollte aufhören. Sag nichts. Das ist gar nicht so leicht. Nachmittags wieder Schreibkram. Abends ging ich noch mit einigen Kollegen in ein Lokal auf ein kühles Bier. Aber ich bin nicht lange geblieben, daheim wartete schon meine Frau mit den Kindern. Sie hat uns was richtig leckeres gekocht. Spaghetti mit irgendeiner weißen Soße. Ich hab mir mehrere Nachschläge geben lassen, so gut hat das geschmeckt. Im Fernsehen lief nichts interessantes, also hab' ich ein wenig durchgezappt, dann die Kinder ins Bett gebracht und mit meiner Frau geschlafen. Ich habe mich vergewissert, dass der Wecker richtig gestellt ist, morgen muss ich früh raus.
Der Mann im Spiegel sieht von Minute zu Minute gequälter aus. Günter glaubt zu verstehen und versucht zu erklären.
Ich weiß, du kannst meine Frau nicht leiden und findest die Kinder nervig. Aber sie sind mein Leben, verstehst du? Und mein Job ist gar nicht so langweilig wie du glaubst, du verstehst eben nur nichts davon. Richtig?
Der Mann im Spiegel verzog die Miene zu einer fiesen Fratze. Natürlich versteht er was von der Juristerei. Was bildet sich Günter eigentlich ein, scheint das Gesicht zu sagen. Und was findet Günter an seiner langweiligen Frau und diesen kleinen Plagen? Schreibkram ist für den Mann im Spiegel gleichbedeutend mit Langweile und von der Juristerei versteht er einiges, hält jedoch nichts davon. Und Günters Freunde sind doch im Grunde gar keine echten. Den einzigen Freund den er hat ist er. Und als Freund muss er Günter helfen. Er lässt ihn also zum ersten mal seitdem sie sich kennen allein im Bad zurück. Aus der Küche holt er ein großes Messer und schleicht die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Die Klinke drückt er behutsam runter. Die Tür muss er mit etwas Schwung öffnen, sonst quietscht sie. Günter hat sich schon so oft über diese Tür beschwert. Der Boden des Zimmers ist mit einem flauschigen Teppich ausgelegt, man hört also seine Schritte nicht. Günters Frau hat sich die Bettdecke beinahe bis über den Kopf gezogen. Sie schläft. Er erkennt es an der sanften Atmung. Er studiert die gewölbte Decke, bis er glaubt genau zu wissen, wo der Hals liegt. Vorsichtig setzt er die spitze Klinge auf und geht langsam tiefer, bis er auf Widerstand stößt. Dann, bevor sie aufwachen und ihre Position ändern kann, sticht er zu und wirft seinen Körper nach. Sie zappelt, aber schreit nicht. Er spürt das feuchte Blut an seiner Brust. Ihr Mund und ihre Augen sind weit geöffnet und mit jedem stummen Keuchen, stößt sie Blut auf die Matraze. Langsam wird sie schwächer. Das Keuchen, zu Beginn in schneller Folge, wird unregelmäßiger und das Blut tropft zum Schluss nur noch vom Mundwinkel herab. Dann entkrampft sie völlig und der Mensch ist aus diesem nun leblosen Körper verschwunden.
Der Mann aus dem Spiegel kehrt zurück ins Bad. Dort wartet Günter und sieht ihn entsetzt an. Er ist blutverschmiert, das Messer ebenso. Er hält es fest in seiner Hand und sein Gesicht ist hässlich verzerrt. Ein Raubtier im Blutrausch.
Was hast du getan?!
Das, was du nicht kannst. Das einzig richtige. Das längst überfällige. Nun die Kinder. Du kannst sie haben, wenn du willst.
Günter blickt an sich hinab. Er hält das Messer fest in seiner Hand.