Was ist neu

Der Mann im Fenster

Mitglied
Beitritt
30.09.2021
Beiträge
5
Zuletzt bearbeitet:

Der Mann im Fenster

Sie saß am Fenster. Einige schwache Strahlen der aufgehenden Sonne durchbrachen die dicke graue Wolkenschicht am dämmernden Himmel und kitzelten ihre Wangen. Mit verschwommenem Blick beobachtete sie, wie eine kleine Glasscheibe ihr Schutz vor vereinzelten Regentropfen bot, während einzig und allein ein leiser Klang von Musik der alles verschlingenden Stille zu entrinnen vermochte. Sie ließ den Blick nach vorne schweifen und erblickte nichts als ein schier endloses Grau vor sich, nur Papas Hand, schützend bedeckt von Mamas, bewegte sich zärtlich, fast rhythmisch auf und ab. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Mitten in der Nacht hatte Mama sie voller Vorfreude in die Eiseskälte geschliffen und im nächsten Augenblick schützte eine wohlig warme Brise sie vor der kalten Morgensonne.

Das war der Moment, an dem sie ihn das erste Mal bemerkte. Am Bankett sah sie einen Mann. Er hatte keinerlei Gesichtszüge. Er war wie ein menschgewordenes schwarzes Loch, kein Lichtstrahl schien von seiner hageren Gestalt abzuprallen. Er absorbierte ihre Blicke, wobei mit jedem einzelnen ihr Unbehagen wuchs. Er schien sich genau so schnell zu bewegen, um immer in ihrem Sichtfeld zu bleiben. Während sie ihn beobachtete, gedieh neben ihrer steigenden Unruhe zeitgleich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit. Der Mann marschierte langsam nach vorne. Er rannte am Straßenrand entlang, den Blick stets nach vorne gerichtet, dabei begann er jeglichen aufkommenden Hindernissen auszuweichen. Er übersprang Leitpflöcke, kletterte in Sekunden Bäume hinauf und hinunter und schlitterte über Schutzplanken, ohne eine Sekunde von ihr aus den Augen gelassen zu werden. Sein Hürdenlauf amüsierte sie. Ihr rasendes Herz beruhigte sich und das Heimatsgefühl war bald stärker als die Angst. Lange beobachtete sie ihn, ohne je das Interesse zu verlieren. Auch als immer mehr Regentropfen auf die Fensterscheibe prallten, war er klar sichtbar. Wie ein dunkler Stern hob er sich von der grauen Umgebung ab. Der Mann schlenderte dahin. Mit Leichtigkeit übersprang er die höchsten Weiden und die längsten Zäune. Sie musste grinsen. Ihr Herz pumpte ein wärmendes Gefühl durch ihren ganzen Körper. Er wurde immer schneller, der Regen immer intensiver, der Rhythmus von Papas Handbewegungen ruckartiger und ungleichmäßiger. Rote Lichter blitzen mit steigender Häufigkeit in der trostlosen Kulisse auf. Der Mann begann zu sprinten, das Ausweichen schien ihm immer schwerer zu fallen. Doch je schroffer die Bewegungen ihres Weggefährten wurden, desto näher fühlte sie sich zu ihrem Zuhause und desto kleiner wurde ihre Furcht. Hatte er ein Ziel? Lief er auf etwas zu oder vielleicht sogar vor etwas weg? Das Unwetter wütete. Donnergrollten schien den Boden zum Beben zu bringen, der Regen bohrte sich wie herabfallende Dolche in die Erde. Der Mann nahm weiter an Geschwindigkeit zu, jeder einzelne Sprung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Man spürte die Überwindung, die es ihn kostete, selbst die kleinsten Büsche zu überkommen. Die einst so tiefe Stille war in ein Orchester aus den Klängen der Witterung ausgeartet. Und während draußen die Naturgewalten entfesselt waren, war ihr Geist in einem Stadium der absoluten Ruhe. Für eine Sekunde wandte sie ihren Blick von ihm ab und Mama und Papa zu. Die hektischen Bewegungen der beiden nahm sie verlangsamt wahr, die Angst, die von ihnen ausging, konnte sie mit ihrer Besonnenheit fast vollständig vertreiben. Aus dem Augenwinkel konnte sie bereits die nächste Laterne erblicken, da blieb der Mann stehen.

Und zum ersten Mal während ihrer gemeinsamen Reise sah er sie direkt an. Obwohl sein Gesicht leer war, spürte sie wie sein Blick schwer auf ihr lag. Tränen rannen ihr über das Gesicht, ohne dass sie auch nur einen Funken Traurigkeit verspürte. Der Mann kam auf sie zu, seine Dunkelheit verschluckte alles auf seinem Weg. Der Himmel war Scharlachrot, als er sie erreichte und sanft auf die Stirn küsste. Lächelnd winkte sie ihm zum Abschied, bis auch ihr Licht von seiner Finsternis verschluckt wurde. Er war verschwunden. Grelle Blitze, begleitet von schrillen Tönen brachen über das Nebelmeer herein, während klagende Blicke einen schwarzen Schleier auf die Szenerie warfen.

 

Hallo @Rob F! Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast meinen Text zu lesen! Die Kritik nehme ich mir auf jeden fall zu Herzen! Ich selbst liebe es Texte zu interpretieren und wollte selbst etwas schreiben, wo Raum für Spekulation bleibt, darum freut es mich besonders, dass du genau das getan hast!
Grundsätzlich war mein Gedanke so wage wie möglich einen Autounfall zu beschreiben und als Metapher für den Tod die kindliche Vorstellung zu benützen, einen Mann beim überqueren von Hindernissen am Straßenrand zu beobachten. Mit den rythmischen Bewegungen hatte ich grundsätzlich auf das Bedienen des Schalthebels angespielt! Aber ich finde es echt cool, dass du dir selbst etwas dabei gedacht hast, genau das war mein Ziel!
Liebe Grüße,
Samra

 

Hallo @Samra und willkommen hier!

Ein sehr komplizierter Text. Bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich ihn deuten soll, aber ich hangle mich mal durch die Abschnitte:

Sie ließ den Blick nach vorne schweifen und erblickte nichts als ein schier endloses Grau vor sich, nur Papas Hand, schützend bedeckt von Mamas, bewegte sich zärtlich, fast rhythmisch auf und ab. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Mitten in der Nacht hatte Mama sie voller Vorfreude in die Eiseskälte geschliffen und im nächsten Augenblick schützte eine wohlig warme Brise sie vor der kalten Morgensonne.
Sie ließ den Blick nach vorne schweifen
klingt beim ersten Lesen sehr allgemein, ich musste den Satz mehrmals lesen, um zu verstehen, was gemeint ist. Erst konzentriert sie sich also auf die Regentropfen, dann schaut sie auf das, was dahinter ist. Aber was sieht sie? Eine Landschaft unter grauen Wolken? Dächer? Mir hat hier die Verortung gefehlt. Dann lese ich:
nur Papas Hand, schützend bedeckt von Mamas ... , und dass die Mutter sie voller Vorfreude nach draußen geschliffen hat in die Eiseskälte, von der sie durch eine wohlig warme Brise geschützt wird vor der kalten Morgensonne. Die Sonne an sich kann ja nicht kalt sein, höchstens die Luft. Aber die ist ja warm ...
Ich erkläre mir das also so, dass das Sitzen am Fenster, das Grau, metaphorisch gemeint ist, ihre Stimmung widerspiegelt. Die rythmische Hand des Vaters hat etwas Obszönes, zumal sie nicht weiter erklärt wird. Geht es hier um Missbrauch?

Während sie ihn beobachtete, gedieh neben ihrer steigenden Unruhe zeitgleich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit.
Ist der Mann der Vater und sie koppelt ihre Gefühle ab, um es ertragen zu können? Aber warum freut sich die Mutter? Und hat ihre Hand auf seiner? Ein perfides Familienspiel?

den Blick stehts nach vorne gerichtet, dabei begann er
stets

Er übersprang Leitpflöcke, kletterte in Sekunden Bäume hinauf und hinunter und schlitterte über Schutzplanken, ohne eine Sekunde von ihr aus den Augen gelassen zu werden
Wenn der Mann tatsächlich der Vater ist, der sie missbraucht, sehe ich hier, wie er kämpft, um zum Höhepunkt zu kommen.

Er wurde immer schneller, der regen immer intensiver, der Rhythmus von Papas Handbewegungen ruckartiger und ungleichmäßiger
Regen. Und ja, hier wird mein Verdacht nochmal bestätigt.


Die hektischen Bewegungen der beiden nahm sie verlangsamt war
wahr. Hier passt es dann wieder nicht. Ich kriege die Mutter nicht unter.

Am Ende ist es dann vorbei und sie bleibt leer zurück. Auch die Wetterwechsel beschreiben ihre Stimmung mMn, sonst hätte ich jetzt moniert, dass der Himmel erst scharlachrot und dann wieder grau ist.

Sollte ich mit meiner Vermutung richtig liegen, finde ich das ziemlich gut gemacht. Nur die Mutter ist mir nicht ganz klar. Bin gespannt auf die Auflösung.

Viele Grüße,
Chai

 

Hallo @Chai! Auch über deinen Kommentar freue ich mich sehr!
Bei deiner Interpretation gefällt mir besonders, dass du dem Wetter die Wichtigkeit zuordnest, die auch ich ihm gegeben habe. Grundsätzlich habe ich versucht, einen Autounfall so vage wie möglich zu beschreiben, die roten Elemente im Grau sollen dabei meistens Bremslichter darstellen, wenn sich der Verkehr mit fortschreitender Zeit verdichtet. Der Mann soll den Kampf ums überleben symbolisieren, welchen sie Schlussendlich verliert. Bei der fehlenden Verortung gebe ich dir auf jedenfall recht, mir fällt selbst auf, dass ich es phasenweise mit den fehlenden Beschreibungen etwas übertrieben habe, ich mache dieses Jahr Abitur, da werde ich aktuell mit verwirrenden Texten überhäuft;). Ich habe oben bereits meine Interpretation zu diesem Text verfasst, falls noch Fragen offen sind, findest du vielleicht dort Antworten! Ansonsten danke ich dir für die Zeit die du dir genommen hast und die Kritik, ich nehme mir das zu Herzen!
Viele Grüße,
Samra

 

Hallo @Samra,

Huch - da lag ich ja voll daneben! :lol: Auf einen Autounfall wäre ich jetzt nicht gekommen. Die fehlende Verortung hat für mich gepasst, wenn sie einfach die Stimmung widerspiegeln soll.

Viele Grüße,
Chai

 

Hallo @Samra , finde den Text echt handwerklich toll geschrieben. Das haste auf jeden Fall drauf. Mit dem Inhalt konnte eich erst gar nicht so viel anfangen. Ich war erst, wie deine anderen Leser auch, auf einer völlig falschen Fährte. Besonders die Stelle, an dem sie den Mann beim Bankett gesehen haben soll, hat mich doch stark verwirrt. Mit einem Mal war ich gedanklich in einem Saal statt einem Auto unterwegs. Ich habe ja nun die Kommentare gelesen und weiß jetzt worauf du hinaus wolltest und jetzt macht es alles schon mehr Sinn.
Ansonsten noch ein paar kleine Anmerkungen:

den Blick stehts nach vorne gerichtet,
stets
Auch als immer mehr Regentropfen auf die Fensterscheibe prallten war er klar sichtbar.
nach prallten ein Komma
der regen immer intensiver,
der Regen groß


Gern gelesen. Und hoffe, bald mehr von dir zu sehen. Schönes Wochenende:)

 

Hallo @Pepe86,
Danke für die netten Worte, freut mich, dass es dir gefallen hat!
Schönes Wochenende!

 

Schon der Titel ist interessant und hat es aufgrund seiner Vieldeutigkeit in sich, „der Mann im Fenster“ – was allsogleich nach der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt konkretisiert werden kann, als „der Mann“ auf der anderen Seite des Fensters von der beobachtenden Person, der Protagonistin in der singulären dritten Person, „sie“,

liebe Samra.

Ich mag schwierige, vieldeutige Texte, die Spielräume der Interpretation lassen – Eindeutigkeit und vor allem Wahrhaftigkeit gehören vor allem in Gerichts- und/oder Polizeiakten, Reportagen und Sachliteratur.

Nun wurde ja schon einiges gesagt, dem ich mich anschließen kann (hinsichtlich der Adjektivitis musstu schauen, was notwendig ist wie bereits zu Anfang im Sonnenaufgang.

Einige schwache Strahlen der aufgehenden Sonne durchbrachen die dicke graue Wolkenschicht am dämmernden Himmel und kitzelten ihre Wangen.
Dass die Strahlung morgens eine andere ist als mittags und spiegelbildlich zum Abend der Morgen dämmert sollte selbst ein Blinder wissen. So weit als Beispiel, usw. usf., wobei Du natürlich entscheidest, was für die Erzählung wichtig ist.

Auch musstu – nicht immer, aber gerade hier, auf die Einheit der Zeit achten

Rote Lichter blitzen mit steigender Häufigkeit in der trostlosen Kulisse auf. Der Mann begann zu sprinten,
besser also „blitzten“

Nun komm ich zu was unangenehmen, dass meine Vorredner sicherlich wohlwollend übersehen haben, was aber nix nützt, wenn nicht drauf hingewiesen wird. Eine Katstrophe eigentlich für die schreibende Zunft (da gibt es mancherlei Fußfallen, die oft gar nicht so auffällig sind, wie zumeist den Imperativ zu lesen, mit „lassen“ unfreiwillig zu verknüpfen aufgrund wahrscheinlich der klanglichen Ähnlichkeit („lies!“ und „ließ“).

Ähnliches, wenn auch fürs Verb „schleifen“ gelingt Dir bedauerlicherweise hier

Mitten in der Nacht hatte Mama sie voller Vorfreude in die Eiseskälte geschliffen und im nächsten Augenblick schützte eine wohlig warme Brise sie vor der kalten Morgensonne.
Eine Messerklinge, ein Satz kann geschliffen werden, wenn aber einer wohin auch immer gebracht wird, ist das schwache Verb „schleifen“ gemeint, er wird über den Boden oder sonst wohin „geschleift“!, umgehen kann man bei Unsicherheit die Gefahr durch ein Verb ähnlicher Bedeutung, "schleppen"

Und hier

Ihr rasendes Herz beruhigte sich und das Heimatsgefühl war bald stärker als die Angst.
beim „Heimatgefühl“ fällt das Fugen-s weg – und Jean Paul, Mark Twain und ich grübeln darüber, warum es überhaupt verwendet wird, eine mögliche Variante, dass es eine Genitivbildung des ersten Substantivs ist (der Genitiv drückt grammatisch auf kürzeste Weise Besitzverhälnisse auf, etwa Vaters Sohn und Mutters Tochter (Sohn/Tochter des/der Vater/Mutter), was mit Muttersöhnchen schon abzuhaken ist als grundsätzlicher Begründung.

Und hier

Der Mann schlenderte dahin. Mit Leichtigkeit übersprang er die höchsten Weiden und die längsten Zäune.
stapelstu hoch (was die schöne Literatur natürlich darf, sonst gäbe es weder Eulenspiegel noch Pipi Langstrumpf). Zäune wird er schwerlich der „Länge“ nach überwinden - da passt dann
Sie musste grinsen.

Also, nicht durch mich erschrecken lassen und keine Bange, dass Du scheitern könntest, und damit

herzlich willkommen hierorts,

FRiedel

 

Hallo @Friedrichard!
Echt Interessant auf was man alles aufpassen kann beim schreiben von Texten! Ich freue mich schon darauf beim nächsten Text auf alles etwas mehr zu achten, vorallem auf die Abstimmung der Zeitformen, das stört mich jetzt selber beim Lesen?! Ich Danke dir Herzlich, dass du dir die Zeit genommen hast mir Kritik dazulassen, ich nehme mit sowas echt zu Herzen! Ich hoffe, dass dir der Text trotzdem halbwegs gefallen hat, der nächste tut es sonst bestimmt?.
Noch eine kleine Anmerkung: Der Benutzername Samra kommt vom gleichnamigen Rapper - ich bin eigentlich männlich?, kannst du natürlich nicht wissen, nur zur Information!
Schönes Wochenende!

 

Echt Interessant auf was man alles aufpassen kann beim schreiben von Texten!
Nicht "kann", sondern soll(te), von "muss" will ich da gar nicht reden, das eine oder andere wird sich nicht vermeiden lassen.

Und ist nicht das Recht auf Irrtum eines von den Menschenrechten?

Schönen Restsonntag wünscht aus'm Pott der

Friedel

Ha, jetzt hätt ich den eigentlichen Grund des Besuches vergessen. Abgesehen, dass mir der Name ein erstes Mal unters Auge gekommen ist, schloss ich wegen der Endung auf a auf einen weiblichen Namen. Das ist ja beim Friedel auch nicht so einfach (mir fällt jetzt nur der Name von Friedel Hensch ein, der Sängerin des "MOndes von Wanne-Eickel"), aber bei Fritzi und Fritz, Friedchen und Frieda usw. usf.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom