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Der Mann im Fenster
Sie saß am Fenster. Einige schwache Strahlen der aufgehenden Sonne durchbrachen die dicke graue Wolkenschicht am dämmernden Himmel und kitzelten ihre Wangen. Mit verschwommenem Blick beobachtete sie, wie eine kleine Glasscheibe ihr Schutz vor vereinzelten Regentropfen bot, während einzig und allein ein leiser Klang von Musik der alles verschlingenden Stille zu entrinnen vermochte. Sie ließ den Blick nach vorne schweifen und erblickte nichts als ein schier endloses Grau vor sich, nur Papas Hand, schützend bedeckt von Mamas, bewegte sich zärtlich, fast rhythmisch auf und ab. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Mitten in der Nacht hatte Mama sie voller Vorfreude in die Eiseskälte geschliffen und im nächsten Augenblick schützte eine wohlig warme Brise sie vor der kalten Morgensonne.
Das war der Moment, an dem sie ihn das erste Mal bemerkte. Am Bankett sah sie einen Mann. Er hatte keinerlei Gesichtszüge. Er war wie ein menschgewordenes schwarzes Loch, kein Lichtstrahl schien von seiner hageren Gestalt abzuprallen. Er absorbierte ihre Blicke, wobei mit jedem einzelnen ihr Unbehagen wuchs. Er schien sich genau so schnell zu bewegen, um immer in ihrem Sichtfeld zu bleiben. Während sie ihn beobachtete, gedieh neben ihrer steigenden Unruhe zeitgleich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit. Der Mann marschierte langsam nach vorne. Er rannte am Straßenrand entlang, den Blick stets nach vorne gerichtet, dabei begann er jeglichen aufkommenden Hindernissen auszuweichen. Er übersprang Leitpflöcke, kletterte in Sekunden Bäume hinauf und hinunter und schlitterte über Schutzplanken, ohne eine Sekunde von ihr aus den Augen gelassen zu werden. Sein Hürdenlauf amüsierte sie. Ihr rasendes Herz beruhigte sich und das Heimatsgefühl war bald stärker als die Angst. Lange beobachtete sie ihn, ohne je das Interesse zu verlieren. Auch als immer mehr Regentropfen auf die Fensterscheibe prallten, war er klar sichtbar. Wie ein dunkler Stern hob er sich von der grauen Umgebung ab. Der Mann schlenderte dahin. Mit Leichtigkeit übersprang er die höchsten Weiden und die längsten Zäune. Sie musste grinsen. Ihr Herz pumpte ein wärmendes Gefühl durch ihren ganzen Körper. Er wurde immer schneller, der Regen immer intensiver, der Rhythmus von Papas Handbewegungen ruckartiger und ungleichmäßiger. Rote Lichter blitzen mit steigender Häufigkeit in der trostlosen Kulisse auf. Der Mann begann zu sprinten, das Ausweichen schien ihm immer schwerer zu fallen. Doch je schroffer die Bewegungen ihres Weggefährten wurden, desto näher fühlte sie sich zu ihrem Zuhause und desto kleiner wurde ihre Furcht. Hatte er ein Ziel? Lief er auf etwas zu oder vielleicht sogar vor etwas weg? Das Unwetter wütete. Donnergrollten schien den Boden zum Beben zu bringen, der Regen bohrte sich wie herabfallende Dolche in die Erde. Der Mann nahm weiter an Geschwindigkeit zu, jeder einzelne Sprung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Man spürte die Überwindung, die es ihn kostete, selbst die kleinsten Büsche zu überkommen. Die einst so tiefe Stille war in ein Orchester aus den Klängen der Witterung ausgeartet. Und während draußen die Naturgewalten entfesselt waren, war ihr Geist in einem Stadium der absoluten Ruhe. Für eine Sekunde wandte sie ihren Blick von ihm ab und Mama und Papa zu. Die hektischen Bewegungen der beiden nahm sie verlangsamt wahr, die Angst, die von ihnen ausging, konnte sie mit ihrer Besonnenheit fast vollständig vertreiben. Aus dem Augenwinkel konnte sie bereits die nächste Laterne erblicken, da blieb der Mann stehen.
Und zum ersten Mal während ihrer gemeinsamen Reise sah er sie direkt an. Obwohl sein Gesicht leer war, spürte sie wie sein Blick schwer auf ihr lag. Tränen rannen ihr über das Gesicht, ohne dass sie auch nur einen Funken Traurigkeit verspürte. Der Mann kam auf sie zu, seine Dunkelheit verschluckte alles auf seinem Weg. Der Himmel war Scharlachrot, als er sie erreichte und sanft auf die Stirn küsste. Lächelnd winkte sie ihm zum Abschied, bis auch ihr Licht von seiner Finsternis verschluckt wurde. Er war verschwunden. Grelle Blitze, begleitet von schrillen Tönen brachen über das Nebelmeer herein, während klagende Blicke einen schwarzen Schleier auf die Szenerie warfen.