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Der Mann, der uns Hoffnung gibt
Auf Tau Ceti b herrscht immer Smog. Er hängt in der Atmosphäre und sorgt dafür, dass die Lunge schmerzt. Jeder hier hat wegen ihm irgendwelche Hautkrankheiten oder Allergien oder beides zusammen. Die giftigen Schwaden wabern aus den Schornsteinen der Fabriken und zwingen uns dazu, mit Gasmasken im Freien herumzulaufen. Dazu kommt der Gestank. Wohin man auch geht, es riecht nach Kalars, denn aus Kalars gewinnen wir unsere Energie. Der Geruch hängt überall: In den Häuserschluchten, in der Kleidung – sogar über dem Essen schwebt stets ein leichter Hauch. Man sollte meinen, dass sich die Nase mit der Zeit an Kalars gewöhnt, so, wie man sich auch mit dem penetranten Schweißgeruch in der Arbeitsmontur in jeder Schicht aufs Neue arrangiert. Aber Kalars ist schlimmer als jeder andere denkbare Geruch: Faulig wie Schwefel, scharf wie Ammoniak, schwer wie Moschus, süßlich wie Kompost, penetrant wie Gasparfüm. Wie sehr man auch immer wieder versucht, den Gestank zu verdrängen, er schleicht sich doch wieder zurück in die Nase. Nein, Tau Ceti b ist kein Ort zum Glücklich werden. Nur wegen Giya habe ich mich nicht schon vor Jahren umgebracht.
Giya ist alles, was ich mir je von einer Frau erträumt habe: Klug, schön, sinnlich. Und sie ist emotionaler als ich.
„Das sind doch alles Lügen!“ Giya schnaubt vor Entrüstung.
„Was sind alles Lügen?“, frage ich.
Sie zeigt auf den Bildschirm. „Na, dieser ganze Schwachsinn, den sie uns jeden Tag in den Nachrichten als Fortschritt verkaufen wollen!“
Ich schüttele den Kopf. „Ach was, das bildest du dir doch nur ein. Warum sollten sie uns anlügen? Haben sie dafür irgendeinen Grund? Als ob es wichtig wäre, was ich von der Regierung denke! Ich verstehe ja noch nicht einmal immer, worum es eigentlich geht.“
Giya fixiert mich mit einem wütenden Blick. „Das ist es doch gerade, was sie wollen – dass du gar nicht weißt, was sie in Wirklichkeit entscheiden. Nur immer diese schönen bunten Bilder, damit du glaubst, dass schon alles in Ordnung ist.“
Ich winke ab. „Es ist ja auch alles in Ordnung.“
Giya lacht auf und guckt nach draußen, wo der Smog vor unserem Fenster hängt. „Irgendwann wirst selbst du merken, was für einen Quatsch du da gerade gesagt hast!“
Unser Tagesablauf ist immer der gleiche. Früh am Morgen stehen wir auf, trinken zusammen eine Tasse Kaffee und schleppen uns anschließend zu unserer jeweiligen Arbeit. Erst spät Abends kehren wir nach Hause zurück, denn wir machen wann immer möglich Überstunden. Es gibt schließlich keine Kinder in unserem Leben, auf die wir Rücksicht nehmen müssten. Von dem zusätzlichen Geld werden wir uns in einigen Jahren einen Urlaub auf Belinus gönnen. Belinus soll ein Paradies sein, mit reiner Luft und Stränden an einem azurblauen Meer. Davon können wir auf Tau Ceti b nur träumen.
Als ich von der Arbeit komme, ist Giya nicht da. Das wundert mich, denn Giya ist meistens vor mir zu Hause. Ich warte mehrere Stunden und beginne, mir Sorgen zu machen. Als ich gerade die Polizei anrufen will, höre ich, wie Giya ihren Schlüssel ins Schloss steckt. Ich laufe ihr entgegen.
„Wo warst du denn?“
Giya lächelt mich an.
„Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Warum sagst du mir denn nicht vorher Bescheid, wenn...“
Giya schaut mir in die Augen und sagt: „Keine Angst, alles wird gut!“
Ich gucke sie verständnislos an. Giya ignoriert meinen Blick und geht in Richtung Badezimmer.
Über die Schulter ruft sie mir zu: „Keine Sorge, morgen wirst du verstehen, was ich meine. Aber jetzt muss ich ins Bett! Heute war ein langer Tag und morgen wird es auch nicht besser.“
Ich gucke ihr fragend nach, als sie die Badezimmertür hinter sich schließt.
Am nächsten Tag treffen wir uns nach der Arbeit im Festsaal einer Bierhalle. Im hinteren Teil des Raumes steht ein kleines Rednerpult, vor dem sich die Menschen drängen. Es ist so voll, dass die Leute bis auf den Gang heraus stehen müssen. Giya nickt zufrieden.
„Gestern war der Saal nur zu zwei Dritteln gefüllt und heute sind es schon so viel mehr Zuhörer. Tau Ceti wird bald nicht mehr der Planet sein, den wir heute kennen!“
Ich nicke nur unsicher. Noch immer weiß ich nicht, was mich erwarten wird. Plötzlich geht das Licht aus und ein kleiner untersetzter Mann tritt auf die Bühne. Sichtlich nervös stammelt er ein paar Sätze ins Mikrofon: Wie sehr er sich freue, dass wir alle gekommen sind; wie außerordentlich wichtig die nächste Wahl doch sei; Tau Ceti brauche Veränderung – es ist eine dieser typischen Wahlkampfreden, die man heute hört und morgen schon vergessen hat. Er tupft sich schließlich den Schweiß von der Stirn, bevor er überraschend laut ins Mikrofon brüllt: „Und nun, liebe Freunde, der Mann, auf den ihr alle gewartet habt: Setubal Tâlen!“
Tosender Beifall brandet auf. Giya scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen, so ekstatisch wie sie in ihre Hände klatscht. In diesen Sturm der Begeisterung tritt ein großgewachsener Mann, Anfang vierzig, mit klaren, freundlichen Augen und gepflegten Haaren, die von seiner schon sehr hohen Stirn ablenkten. Einige beginnen damit, „Setubal, Setubal!“ zu skandieren. Setubal hebt beschwichtigend die Hände, doch es bringt nichts. Der Applaus will einfach nicht abbrechen. Schließlich tritt er ans Mikrofon und beginnt gegen den Beifall anzureden, der kurz darauf verebbt und gespanntem Zuhören Platz macht.
Setubal Tâlen ist ein guter Redner. Man hört ihm nicht nur gerne zu – er kann auch gut erklären.
„Freunde,“ beginnt er, „Freunde, lasst doch den ganzen Beifall. Ich habe in meinem Leben schon zu viel Applaus hören müssen, aber leider nicht immer nur für die gerechte Sache! Wie oft habe ich im Parlament gesehen, wie die anderen Abgeordneten sich erhoben haben, um Lügen mit Beifall zu belohnen. Aber damit ist jetzt Schluss! Ich habe es nicht mehr länger ertragen, mich verstellen zu müssen und darum, meine Freunde, bin ich zurückgetreten.“ Erneute Beifallsbekundigungen.
„Und darum kann ich nun auch frei zu euch sprechen. Denn das, was euch jeden Tag in den Abendnachrichten aufgetischt wird, ist nicht die Wahrheit, es ist nur billige Propaganda,“ Giya stößt mir den Ellenbogen in die Seite, „nur billige Propaganda, die dazu dienen soll, dass ihr nicht merkt, was wirklich passiert.“
„Was passiert denn wirklich?“, ruft einer dazwischen.
„Was passiert? Tau Ceti steht vor dem Kollaps, das passiert! Guckt euch den Smog an, der draußen in den Straßen hängt! Glaubt ihr, der war schon immer da? Glaubt ihr wirklich, ein Siedler hätte freiwillig seinen Fuß auf einen Planeten gesetzt, auf dem man nur mit Gasmaske herumlaufen kann? Nein, meine Freunde, Tau Ceti war ein Paradies wie Belinus noch immer eines ist. Erst als die Kalars-Produktion von allen besiedelten Planeten in der Galaxis gerade unsere Heimat als ihren Standort ausgesucht hat, wurde Tau Ceti zu der vergifteten Welt, als die wir sie heute kennen. Wir stellen Kalars für nahezu alle Sternensysteme her, damit diese billige Energie haben. Aber wo bleibt der Dreck? Wo bleibt das ganze Gift, das bei der Herstellung entsteht? Hier auf Tau Ceti, meine Freunde! Doch spricht jemand darüber? Habt ihr schon einmal einen Politiker in den Nachrichten gesehen, der seine Besorgnis über unsere verdreckte Umwelt, unsere schwindelerregenden Krebsstatistiken geäußert hat? Nein! Denn ihr sollt weiterhin brav mitspielen, damit die Kalars-Produktion auch in Zukunft in Ruhe unsere Atmosphäre verdrecken kann. Denn Geld ist auf unserem Planeten scheinbar wichtiger als Menschenleben!“
Der Saal brodelt vor Empörung.
„In zehn Jahren wird unser Planet unbewohnbar sein, wenn wir nicht endlich aufhören, Kalars zu produzieren! Das habe ich mir nicht etwa ausgedacht, das steht in den offiziellen Berichten der Regierung zur Umweltproblematik. Aber tut sich was? Nein, nicht im Geringsten! Da werden Kommissionen eingesetzt, die über jedes Komma in ihren Zwischenberichten streiten, aber immer noch keine Idee haben, welche alternativen Energiequellen wir denn fördern sollen. Und wenn doch einmal so ein Forschergremium eine Idee präsentiert, dann kommt sofort das Wirtschaftsministerium und schießt dazwischen, denn niemand darf die heiligen Exporte der Kalars-Produktion in die anderen Teile der Galaxis gefährden. Das, meine Freunde, ist es was die Regierung gegen dieses größte, dieses wichtigste aller unserer Probleme unternimmt, nämlich: Nichts! Nicht das Geringste!“
Das Pfeifen und Johlen gegen die Regierung wird immer lauter. Setubal trinkt einen Schluck Wasser und wischt sich die Stirn ab.
„Aber Freunde, habt keine Angst! Es gibt eine Lösung für unser Dilemma – und ich werde sie euch Schritt für Schritt erklären!“
Wir verlassen die Bierhalle spätnachts. Ich weiß jetzt, warum Giya letzte Nacht so selig gelächelt hat. Es ist so einfach. Es ist so logisch. Und trotzdem verweigert sich unsere Regierung Setubals Plan. Der Status Quo ist für sie bequemer. Hauptsache,ein Teil des Geldes der Kalars-Produktion kommt auch in ihren Taschen an. An dem Tag, an dem Tau Ceti endgültig kollabieren wird, sitzen unsere Minister doch längst auf Belinus und lachen über unsere Leichtgläubigkeit. Und ich Narr würde es nicht einmal bemerken, wenn Setubal mir nicht die Augen geöffnet hätte!
Jeden Tag kommen mehr Leute zu Setubals Veranstaltungen. Mehr als einmal müssen wir umziehen, da der bisherige Saal zu klein wird. Zuerst nimmt die Regierung Setubal nicht ernst und die Medien ignorieren ihn. Doch als er zum ersten Mal vor einer Viertelmillion Menschen auf dem Zentralen Platz eine Rede hält, werden sie nervös. Plötzlich ist Setubal in den Nachrichten – allerdings wird nicht positiv über ihn berichtet. Sie nennen ihn einen Irren, der unsere Wirtschaft zerstören und Tau Ceti nebenbei außenpolitisch isolieren möchte. Einmal heißt es sogar, dass Setubal sich von den Vereinigten Raumwerften bestechen lässt. Aber Giya und ich lachen nur. „Als ob es jetzt plötzlich wahr wäre, was sie uns erzählen!“
Die Regierung ist auch nicht besser. Jeden Tag betont sie, dass wir gar nicht beurteilen könnten, was für außenpolitische Konsequenzen Setubals Plan hat. Wir würden auch nicht verstehen, was er für die Wirtschaft unseres Planeten bedeuten würde. Aber warum die Regierung zugelassen hatte, dass sich Tau Ceti in eine einzige Giftwolke verwandelt hat, das erklärt sie uns nicht. Was auch immer sie erreichen will – am Ende macht sie Setubal mit ihren Ausflüchten nur noch stärker. Setubal gewinnt die Präsidentschaftswahl haushoch. Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen bekommen. Ein ganzer Planet hat beschlossen, Setubal zu folgen.
Am Tag der Inauguration stapfen Giya und ich schweigend am Ufer des Flusses entlang in Richtung des Regierungspalastes. Wir wollen mit eigenen Augen sehen, dass es wirklich stimmt: Setubal Tâlen ist neuer Präsident von Tau Ceti b. Der Geruch nach Kalars, der wie immer über der Stadt hängt, ist uns egal – bald werden wir ihn nicht mehr riechen müssen. Am Regierungspalast wartet eine unüberschaubare Menge auf die Feierlichkeiten. Nach den Ansprachen durch die verschiedenen Würdenträger und dem zeremoniellen Brimborium tritt endlich Setubal ans Mikrofon, um seine Antrittsrede zu halten. Einen Moment schaut auf die Menge herab, die vor ihm steht und seinen Namen ruft. Dann beugt er sich vor und beginnt mit seiner Rede.
„Liebe Freunde, heute ist ohne Frage ein großer Tag für unseren Planeten, denn wir haben unser Ziel, die Präsidentschaft, erreicht. Und dennoch, die kommenden Tage werden noch bedeutender sein. Denn schon morgen werde ich die Kalars-Produktion wie versprochen verstaatlichen und somit unter unsere Aufsicht stellen. Doch dies ist nur der erste Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft! Sobald die neuen Kriegsschiffe fertig gestellt sind, werden wir uns nach Belinus begeben und diesen schwächlichen Planeten besetzen. Tau-Cetianer, ihr wisst was dies bedeutet! Schon bald werden wir das von uns benötigte Kalars mit Hilfe von Kriegsgefangenen auf Belinus herstellen können. Und ihr, meine Freunde, werdet dann zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder tief durchatmen können!“
Der Jubel, der nun aufbrandet, ist unbeschreiblich. Ich schaue zu Giya, die mich anlächelt. Dort steht Setubal Tâlen, unser neuer Präsident. Der Mann, der uns die Augen geöffnet hat. Der, der uns Hoffnung gibt.