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Der Mann, der im letzten Kapitel den Dritten Weltkrieg auslösen wird
Der Mann, der den Dritten Weltkrieg auslöste
ERSTES KAPITEL
Begegnung und Gespräch mit dem Mann, der den Dritten Weltkrieg auslösen wird
Da sind die Opfer und die Gaffer. Und eine Mischform. Ich nenne sie die Neutralen. So ist es immer in einem Café. Es benötigt keinen Saal mit Wandschränken und abertausenden von Ablage-Einheiten. Es benötigt nur eine handliche, kleine Reisekommode mit genau drei Laden.
Zuoberst werden die Gaffer geladen. Ich zum Beispiel bin ein Gaffer. Ich hocke in Cafés herum und bin ausschließlich damit beschäftigt, andere im Café oder seinem Umfeld zu beobachten.
In der mittleren Position findet jene unentschlossene Mischform ihren Platz, also diejenigen, welche hin und wieder beobachten, dieses Tun jedoch verlässlich nach einiger Zeit aufgeben und in die Opferrolle zurückfallen, mithin denen gleichen, die zuunterst einsortiert sind, also den Opfern.
Jene fallen nie zurück. Wohin sollten sie auch? Sie sind stets nur eines: Subjekte der Betrachtung durch andere, welche nicht ihrer Art. Natürlich beobachten sich auch Gaffer bisweilen gegenseitig. Das ist etwas kurios und kann zweierlei bewirken.
Entweder ereignet sich die Neutralisation eines der Gaffer, was zu seiner sofortigen Umsortierung führt. Oder sie erkennen einander und wenden ihre Blicke ab. Der hektisch-nervöse Typus Gaffer verlässt auch schon mal das Café nach einem solchen Clash.
Seinetwegen werde ich mir allerdings keine größere Kommode anschaffen.
Heinz wäre auch freiwillig in die unterste Lade gesprungen. Er war mir in den Blick geraten, drei Tische weiter im Biergartenbereich des Café "Schwan", das wohl deswegen seinen Namen trug, weil man hier auf einen benachbarten Tümpel schauen konnte, auf welchem die zwei vorhandenen Schwäne allzu gern kreuzen würden. Es reichte aber nur zu einem trostlosen Dümpeln. Ein Umstand, der es auf bedeutende Weise vermied, sich mit der Anmut dieser majestätischen Tiere zu einem harmonischen Bild zusammenfügen zu wollen. Andererseits wäre der Tümpel ohne die Vögel zu einem grässlichen Wasserloch verkommen. Und es war schwer vorstellbar, dass sich jemand an die Tische einer Schänke gesetzt hätte, die "Zum grässlichen Wasserloch" oder gar "Versunkener Schwan" benannt wäre.
Ich nicht, und auch nicht Heinz.
Heinz saß vor einem Apfelsaft und las ein Buch, ohne davon aufzuschauen. Eine klassische Opfer-Pose. Dass sein Name auf Heinz lautete, wie ich ja später erfuhr, schien mir zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen. Er hätte Sven, John oder Samuel heißen müssen. "Heinz" passte genauso auf ihn, wie die Schwäne auf den Tümpel; vielleicht hatten sich seine Eltern vor der Namensfindung dem Einfluss einer Droge ausgesetzt, welche jene Regionen des Hirns manipulieren, die für die angemessene Kombination von Buchstaben verantwortlich sind.
Sein vermutliches (und sich später als korrekt erweisendes) Geburtsjahr stützte eine solche Spekulation. Ich taxierte das Jahr 1969, und es sollte sich um einen Volltreffer handeln. Heinz, da musste man sich fügen, Heinz entsprach auch vom Phänotyp dem klassischen Opfer. Er war unauffällig gekleidet - adrett, wie man dazumal zu sagen pflegte - , etwas dicklich (aber nicht fett), trug das noch vorhandene Haar weder kurz noch lang und bewegte sich, als gelte es, sich allzeit zu dosieren.
Im krassen Widerspruch dazu befand sich in seinem Gesicht eine gewaltige, rot-grünlich marmorierte Brille (mittlerer Stärke), geschaffen, noch den letzten Rest schamhaft überstehender Kontur aufzusaugen.
Ich blickte hier auf einen Prototypen des Untergeschosses meiner imaginären Kommode und tat, ja musste tun, was ich sonst eher ließ. Ich schlüpfte in die Dritte und fand mich: "Was ist denn das für eine interessante Lektüre?"- fragend an seinem Tisch wieder.
Heinz las ein Fachbuch über Mykologie, das sich mit der Bedeutung und Auswirkung der Pilze auf das globale Ökosystem auseinandersetze. Es entspann sich ein munteres Gespräch und er behauptete, alle Pflanzen und Tiere, also auch der Mensch, wären im Grunde nichts, als der angelegte Vorgarten der wahren dominierenden Spezies auf Erden, der Pilze nämlich, die uns hielten wie Nutten und Sklaven. Außerdem wären Pilze Schöpfer der erhabensten Kunst des Universums. Man müsste nur mal im Herbst den Wald aufsuchen, ohne gebutterte Bratpfanne im Kopf.
All dies erzählte er mir mit wachsender Begeisterung und es war schön, anzuschauen, wie ein solchermaßen unauffälliges Geschöpf sich mit jener waghalsigen Rede aus der Lade beugte.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass im Kunstverein eine Ausstellung zeitgenössischer Plastik eines allgemein gefeierten Sculpteurs stattfände und schlug vor, sich diese einmal näher anzuschauen. Heinz hielt das für eine tolle Idee und so machten wir uns auf.
ZWEITES KAPITEL
In der Kunstausstellung mit dem Mann, der den Dritten Weltkrieg auslösen wird
Der Künstler hieß Thomas F. Kreuzdorffler und die Räume des Kunstvereins waren ausnahmslos von seinen bronzenen Werken erfüllt, d.h. in aller Regel von einem seiner Werke, zentral in der Mitte des Raums platziert. Sie trugen Titel wie "Ohnmacht", "Heil", "Zentrifuge" oder "Verwirrung". Gemeinsam war ihnen ihre Keulenform, wobei sie mit der Verdickung himmelwärts auf einem quaderförmigen Sockel ruhten. Ihre Strukturen waren individualisiert, einige zerfaserten keulaufwärts, anderen wuchsen die unterschiedlichsten Applikationen aus dem Leib, wieder andere trieben ihr Spiel mit den Gegensätzen rund und eckig usf.
Kreuzdorffler ließ im Katalog vernehmen, dass seine Objekte nichts Geringeres als Raumkolben darstellten und als solche auch benannt werden sollten. Sie seien geschaffen, hieß es, im Mittelpunkt einer räumlichen Situation platziert, diese zu prägen.
Heinz und ich standen vor der "Verwirrung". Heinz, dessen Kopf etwa auf Mitte des Kolbens endete, starrte das Werk mit seiner Absorber-Brille an. Ich fragte ihn, was er angesichts dieser Plastik gerade erlebte.
"Ich denke, es sieht aus wie eine Herkuleskeule im Endstadium", sagte er, "ungenießbar, aber nicht giftig." Und dann stellte er mir diese sinnlose, aber stets gern aufgebrachte Frage, ob ich glaubte, dass es sich um Kunst handeln würde.
"Ja, um die Nutten- und Sklaven-Kunst", gab ich süffisant zurück, "jedenfalls so lange, bis wir den Raum verlassen. Ist der Kolben mit sich allein, findet keine Kunst statt. Ich denke sowieso, dass Kunst, die ja im Auge des Betrachters entsteht, aufgewertet werden könnte, dadurch, dass man das Werk bespuckt oder, besser noch, ihm sein Mageninhalt entgegen schleudert. Das sind Brücken der Heiligsprechung und nachhaltige Kommunikationsformen."
Heinz lachte und verstand: "Vielleicht pinkeln wir mal gegen den Sockel. Die allgemeine Verwirrung würde mit Sicherheit plastisch greifbar."
Wir erwanderten den Rest der Ausstellung und erfanden noch manchen Weg, Kreuzdorfflers Kolben zu schmieren und deren Prägnanz zu exponieren. Schließlich setzten wir uns ins Café "Künstlich", entspannten uns und fühlten uns wie ein Gaffer und ein Opfer, wenn sie davon, es zu sein, urlauben.
DRITTES KAPITEL
Telefonat mit dem Mann, der den Dritten Weltkrieg auslösen wird
Tage gingen ins Land. Tage, an denen ich nichts von Heinz hörte.
Wir hatten beim Abschied vor den ehrwürdigen Hallen des Kunstvereins unverbindlich die Telefonnummern getauscht. Ich hatte einige Male versucht, ihn zu erreichen, was nie gelang. Er schien mich vergessen zu haben.
Doch dann, eines Abends, rief er mich an.
Ich kann mich noch fast an jedes Wort erinnern, Gaffer verfügen über ein geschultes Gedächtnis:
Ich bin´s, Heinz!
Grüß Dich! Fein, dass Du Dich mal meldest.
Ich rufe an, weil ich demnächst verreise, aber vor allem, um mich bei Dir zu bedanken. Du hast mir das letzte Puzzlestück geschenkt ...
Puzzlestück? Wovon sprichst Du eigentlich?
Erinnerst Du Dich noch, als wir vor Kreuzdorfflers Verwirrungskeule standen? Von wegen "Verwirrung"! Mir wurde da reinste Klarheit zuteil, als Du zu reden anfingst über den Umgang mit Kunst und wie er zu steigern sei.
Ja - und?
Du weißt, ich forsche über Pilze und du kennst meine Ansicht über deren ungeheure Bedeutung. Ich habe herausgefunden, wo sich, wenn du so willst, der Gott der Pilze befindet, in Kanada nämlich. Ich weiß, dass dieser Pilz einen gewaltigen, entscheidenden Einfluss ausüben kann. Er kann Prozesse anstoßen, die das gesamte Universum umstülpen. Komplizierte Prozesse, Prozesse universaler Kunst. Seine Fruchtkörper erscheinen dieser Tage, fahl-rosane eher unauffällige Gebilde, nicht unähnlich unserem Tintling. Aber er ist es ...
Der Gottpilz? Aber ich bekomme die Brücke zu mir und Kreuzdörffler nicht auf den Schirm..
Die Brücke ist, dass ich nun weiß, auf welche Weise ich mit dem Pilz Kontakt aufnehmen kann. Verstehst Du? Jetzt weiß ich es! Ich werde ihn verspeisen, woraufhin mir nach ca. drei Minuten speiübel werden wird. Ich werde mich sodann auf genau der Stelle erbrechen, an welcher ich den Pilz aus dem Boden schraubte.
Und dann?
Ja dann...dann wird nach meinen Berechnungen so etwas wie der Dritte Weltkrieg beginnen. Das quasi-neurale Mycelsystem des Pilzes wird in Kommunikation mit anderen Organismen, auch pflanzlichen und tierischen, die er für seine Zwecke benutzt, treten.
Dritter Weltkrieg?!
Gewissermaßen ja. Du darfst es Dir nicht als großen Knall vorstellen, es wird alles sehr langsam, schleichend, nach Pilzart eben vonstatten gehen. Es ist so, als verböte der Pilz von nun an die Prostitution, als schaffe er die Sklaverei ab.
Es fehlt nur der Anstoß. Ich fliege morgen nach Vancouver.
Ist Dir da eigentlich klar, was Du da sagst und tust?
So klar, als säße ich mit Dir in einem Raum vor einer Kreuzdorfflerischen Erleuchtungskeule. Es wird sich eine Art kosmischer Neustart ereignen, aber keine Sorge, das Nicht-Sein ist nur eine Pausierung des Seins und umgekehrt, wir sollten uns keine Sorgen machen, im Gegenteil.
Ach ja, Du bist der einzige, der davon erfährt. Und erfahren wird. Ich werde nicht zurückkehren.
Du bleibst in Kanada?
Wird sich schwerlich verhindern lassen. Der Pilz ist hochtoxisch, so giftig, dass davor selbst unser Weißer Knollenblätterpilz erbleichen würde, wenn er denn könnte.
Du opferst Dich, Heinz?
Ich würde das so nicht formulieren. Ich schreib´ Dir noch ´ne Postkarte, wenn ich angekommen bin. Mach´s...
Hier beendete Heinz das Gespräch. Das gut war vom Klacken des Abrissgeräusches zerteilt worden. In meinem Hirn schwirrte eine unüberschaubare Anzahl wirrer, unklarer Gedanken umher und es war völlig undenkbar, auch nur einen von ihnen zu fassen.
LETZTES KAPITEL
Eine Postkarte von dem Mann, der den Dritten Weltkrieg ausgelöst hat
Ich sitze im "Schwan", um mich herum einige Neutrale.
Von einem von Wolken unbefleckten Himmel scheint die Sonne. Scheint auf den "Schwan", scheint auf die Neutralen, scheint auf die Postkarte vor mir auf dem Tisch.
Sie zeigt eine Gebirgslandschaft, zeigt Wald, zeigt Fluss, zeigt schneebedeckte Gipfel im Hintergrund.
Auf ihrer Rückseite steht: "Ich gehe jetzt zu ihm. Danke. Heinz"
Die Karte ist vor vier Tagen abgestempelt worden. Der Dritte Weltkrieg hat begonnen.
Ich habe Heinz aus der untersten Lade genommen. Es wäre ein Scherz gewesen, ihn dort zu belassen. Meine Kommode ist kein Scherzartikel. Heinz liegt oben auf der Kommode, er kann nicht zurückfallen.
Zwei Tische weiter hat sich ein älterer Herr vor seinen Mokka gesetzt, er tippt unablässig auf seinem Smartphone herum. Ob er ahnt, dass ich ihn bereits ganz unten einsortiert habe?
Jetzt erst fällt mein Blick auf den Tümpel. Er ist nur noch ein grässliches Wasserloch.