Mitglied
- Beitritt
- 22.11.2016
- Beiträge
- 2
Der Mann, der alles kann
Es war ein seltsames Gefühl dieses Ding auf der Nase zu tragen. Jedoch konnte ich endlich klarer sehen. Ich konnte die Schilder in der Ferne lesen, bevor ich näher herangehen musste. Ich konnte die Gesichter erkennen, die auf mich zu kamen – die Gesichter, die keine Ahnung hatten wohin ich gerade unterwegs war. Es war eine Fahrt von 40 Minuten, von meiner Heimatstadt aus bis in die Nachbarstadt, wo das Krankenhaus stand in dem mein Vater in Zimmer 145 lag. Ich bin früher oft diesen Weg gefahren. Damals besuchte ich die Berufsschule dieser Stadt, da aber in dem eigentlichen Gebäude dieser Schule dieserzeit Bauarbeiten stattfanden, mussten wir Schüler in ein Gebäude mitten in der Stadt ausweichen, das etwa 10 Minuten vom Schulgebäude entfernt war. Hier war ich nun, mitten in dieser Stadt und ging den mir früher bekannten Weg, aber dieses Mal musste ich an diesem Gebäude vorbei. Es war ein kalter Samstagnachmittag im Januar. Der letzte Samstag dieses Monats und eigentlich sollte er ein guter Tag sein, jedenfalls für eine meiner beiden Nichten, die heute Geburtstag hatte. Später sagte meine Schwester, dass es in Zukunft für uns alle nicht einfach werden würde an diesem Tag zu feiern. Wir würden uns immer daran erinnern, was passiert war. Und sie hatte Recht. Aber auch für mich sollte dieser Tag anders sein, als er eigentlich wurde. Vor einer Stunde noch ging ich mit einem neuen Gefühl aus dem Laden des Optikers, von dem ich meine erste Brille abholte, die ich je tragen durfte. Sie hatte einen schwarzen Rahmen, rechteckige Gläser und ich fand, dass ich damit irgendwie erwachsener aussah – nicht mehr so kindlich, wie mich jeder einschätzte, wenn er mich zum ersten Mal sah. Endlich konnte ich die Ferne besser erkennen. Keine Probleme mehr die Tafel in der Schule sehen zu können, keine schmerzenden Augen, wenn ich mal versuchte ein Schild auf der anderen Seite der Straße zu lesen – meine Kurzsichtigkeit war, Dank dieser schwarzen Brille, keine große Sache mehr. Aber dieses neue, gute Gefühl legte sich schnell, als ich daran dachte, was als nächstes anstand – wohin ich nun unterwegs war. Und hier war ich nun, ging an dem großen Gebäude vorbei, in dem ich viele Schulstunden meiner Ausbildung verbracht hatte. Trotz der dicken Winterjacke, die ich trug, fühlte ich mich durch die Kälte dieses letzten Januartages taub. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was mich im Krankenhaus erwarten würde. Gestern war ich schon da gewesen. Im Januar endete das vorletzte Halbjahr des Fachabiturs, was ich derzeit absolvieren wollte und zu meiner Überraschung hatte ich in einem sehr wichtigen Fach eine bessere Note auf dem Halbjahreszeugnis, als ich gedacht hatte. Meine Mutter sagte, dass ich dies meinem Vater mitteilen solle, damit er etwas habe worüber er sich freuen könnte. Das hatte ich gestern getan. Da saß er noch aufrecht auf seinem Krankenhausbett und sah mich an, als er diesen Erfolg hörte. Trotz seines fahlen und magerem Gesichts konnte man die ehrliche Freude über diese Nachricht sehen und wie es so seine Art war zeigte er mir einen Daumen hoch. Ja, gestern konnte er noch aus eigener Kraft aufrecht sitzen, aber ich hätte nie gedacht, wie schnell sich das ändern würde.
Ich lief an vielen Geschäften vorbei, die Fußgängerzone entlang. Es waren noch einige Menschen unterwegs, die entweder Kleidung oder allerlei Dinge einkauften oder einfach nur durch die Straßen bummelten. Aber niemand wusste, dass ich weder für das eine noch das andere hier war. Ich gehörte nicht zu dieser Menge.
Ich betrat den großen Parkplatz, der an der Fußgängerzone grenzte und überquerte ihn, bis ich in die Straße einbog, die zum Krankenhaus führte. Als ich das große mir bereits gut bekannte moderne Krankenhausgebäude sah, dachte ich an die Menschen, die mich im Zimmer 145 erwarteten. Meine mir über alles geliebten älteren Schwestern, mein Bruder und seine Frau, mein Onkel und meine Tante, die den langen Weg aus der Eifel bis hierher gemacht hatten, um bei meinem Vater zu sein, mein anderer Onkel, den ich eigentlich kaum kannte und meine Mutter, die bereits seit heute früh bei meinem Vater war. Vielleicht würden noch einige der Kinder meiner Schwestern da sein, aber vermutlich waren sie bei ihren Vätern oder einer Tagesmutter untergebracht, aber da war ich mir nicht sicher. Jedoch war klar, dass es wieder einmal eine große Familienangelegenheit war. Immer, wenn so eine Angelegenheit stattfand versammelte sich meine Familie und jeder nahm daran teil. So wie damals, als mein jüngster Neffe geboren wurde. Als meine ältere Schwester hochschwanger war, übernachteten wir alle in ihrem Bett, um für den Fall bereit zu sein, dass sie ins Krankenhaus musste. Und als er dann geboren war kam die gesamte Familie ins Krankenhaus um ihn zu sehen. Das war eine schöne, aber auch eine anstrengende Zeit gewesen. Jetzt war der kleine Racker Fünzehn Monate alt. Es gab ein Foto, auf dem mein Vater meinen Neffen auf dem Arm hielt. Wir sagten später, dass es wohl das letzte Mal gewesen sei, dass er ihn überhaupt halten konnte. Denn es war zur Weihnachtszeit gewesen. Aber wenigstens hatte er ihn noch einmal gesehen.
Ich betrat das Gebäude. Die Wärme und der Geruch des Krankenhauses schlugen mir entgegen und während ich den Flur zu den Aufzügen entlang ging, löste sich langsam dieses taube Gefühl im Magen. Es wurde abgelöst von dem gleichen Gefühl, dass ich damals hatte, als mein Vater mal wieder im Krankenhaus lag und er vor lauter Schmerzen Morphium verschrieben bekam. Diese unterbewusste Gewissheit, dass eine Zeit zuende geht. Damals saß ich im Krankenzimmer vor dem Bett meines Vaters und konnte nichts anderes tun als weinen. Dieses Gefühl, dass mir alles zuviel wird und ich mich lieber zurückziehe, als es über mich ergehen zu lassen. Denn ich hatte Angst.
Bis jetzt dachte ich, dass ich vorbereitet wäre, auf das was kommen sollte. Ich dachte von Oktober auf Januar hätte sich einiges in mir geändert. Dass ich stark genug wäre es zu ertragen. Aber als ich den Aufzug betrat und den Knopf drückte, der mich in den ersten Stock bringen sollte, war ich mir auf einmal sogar sicher, dass ich bereit wäre.
Der Aufzug surrte, als er den Schacht hinauf fuhr und hielt, wie versprochen, im ersten Stock. Wie mechanisch lief ich durch den Flur der Station. Die Schwestern kannten mich schon und grüßten mich höflich. Ich nickte ihnen nur zu und steuerte auf die Tür des Zimmer 145 zu. Mein Vater hatte ein Zimmer für sich allein. Das war auch gut so.
Ich blieb vor der Tür stehen, atmete noch einmal tief durch und öffnete die Tür.
Mich erblickten fast alle Gesichter, die ich erwartet hatte. Meine Mutter, meine Tante und mein Onkel, die sogar über Nacht geblieben waren, mein anderer Onkel, die jüngere meiner beiden älteren Schwestern und mein Vater – nein, nein mein Vater sah mich nicht an. Er konnte es nicht mehr. Ruhig lag er in seinem Krankenbett und bewegte sich kaum. Meine Motivation sank auf einmal in den Keller. Ich lächelte kurz alle an, aber als ich meinen Vater sah, erstarb mein Lächeln sofort. Meine Schwester kam auf mich zu und nahm mich in den Arm.
Ich konnte garnicht richtig erfassen was um mich herum passierte. Dieser Raum war so still und die Wärme hier wirkte auf mich wie ein Vakuum – getrennt von der Welt da draußen. Nach der wortlosen Begrüßung mit meinen Verwandten sah ich zu meinem Vater herüber und ging an die Seite seines Bettes. Ich sagte nichts, ich fühlte nichts – war ich selbst das Vakuum? Ich berührte vorsichtig seine dürre Hand. Bemerkte er überhaupt, wer alles da war?
Gestern noch wünschte er sich, dass man doch bei ihm bleiben möge. Jetzt wusste ich warum. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Er hatte es sogar eher gewusst, als wir. Meine Mutter erzählte mir später, dass er schon Monate vor diesem Tag begonnen hatte öfters mit ihr Essen zu gehen, irgendwelche schönen Dinge mit ihr zu unternehmen – er hatte ihr immer wieder gezeigt, dass er sie auch nach sovielen Jahren noch sehr liebte, aber ich glaube bis heute, dass sie das gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Und zwar nie. Meine Mutter sah alles immer so selbstverständlich. Vater war ein sehr pflichtbewusster Mann. Wenn Arbeit anfiel, tat er sie. Doch in den letzten Monaten, nein im ganzen letzten Jahr konnte er sehr oft nicht den Dingen nachgehen, die gemacht werden mussten. Meine Mutter schimpfte dann stets, wenn etwas nicht erledigt worden war, dabei sollte sie doch eigentlich wissen, dass er eben nicht mehr fähig dazu war. Er tat dennoch so viel für uns. Trotz dieser verflixten Krankheit war er immernoch Papa, der Mann, der alles kann. Und dabei hatte er noch einen ordentlichen Schalk im Nacken. Es gab viele Dinge, die wir Geschwister aus den beiden Familien, die meines Vaters und die meiner Mutter, geerbt hatten. Während meine Schwestern das handwerkliche Geschick meines Vater bekommen hatten, bekam ich seinen Humor, der besonders dann zur Geltung kam, wenn die derzeitige Situation nicht gerade rosig war. So riss er einen Witz darüber, dass er nicht mehr richtig laufen konnte und stets von mir gestützt werden musste, nur um über eine Straße zu kommen. Dafür erbte mein ältester Bruder jedoch zwei linke Hände, die vermutlich von meiner Mutter kamen. Im Frühling zum Beispiel arbeiteten meine Geschwister und ich im Garten unseres Elternhauses und mein Bruder stutzte mit einer Laubsäge den riesigen Efeu auf dem Dach der Garage. Jedoch befand sich darin ein Stromkabel, dass für Licht in der Garage sorgen sollte. Ich weiß nicht welche Gedanken ihn darauf gebracht haben dieses Kabel nicht aus dem Efeu zu entfernen, was ein Leichtes gewesen wäre. Aber stattdessen schnitt er es beim Arbeiten durch das Gestrüpp entzwei. Als wir ihn darauf ansprachen sagte er nur: "Es ließ sich nicht vermeiden."
Ja, wir hatten viele Dinge von meinem Vater bekommen. Anfang Januar, zum Beispiel, schenkte er meiner Mutter einen neuen Fernseher, einen Flachbildschirm. Soetwas war bisher noch nie bei uns im Hause gewesen. Jahrelang mussten wir mit einem alten Röhrenfernseher auskommen. Später sagten Mama und ich uns, dass es sein letzten materielles Geschenk an sie gewesen war.
Ich sah zu meiner Schwester und sie blickte zurück. Langsam trat ich vom Bett zurück und setzte mich auf eines der Stühle, die hier standen. Ich starrte meinen Vater an. Ganz ruhig lag er dort, atmete langsam. Die große Sauerstoffflasche neben seinem Bett machte dieses Bild so surreal. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Mein Blick fiel auf den Patientenschrank. Seine Brille lag darauf und einige Kleinigkeiten. Tabletten, ein Glas, eine Flasche mit stillem Wasser, die genauso still schien, wie es hier gerade war. Wasser ist um einiges gesünder als Cola, dachte ich mir. Vor einigen Jahren noch hatte mein Vater nämlich fast täglich jede Menge von dem Zeug getrunken. Irgendwann hat er dann damit aufgehört. Wer weiß, vielleicht ist dadurch diese eklige Krankheit ausgebrochen? Meine Mutter jedenfalls sagte ständig, dass sie ausbrach, weil er sich mit einem Freund sehr schlimm gestritten hatte. Mir war klar, dass Stress einige körperliche Auswirkungen auf den Menschen haben konnte, aber dadurch entstand nicht so eine Krankheit wie Krebs. Aber meine Mutter war sich sicher. Sie war schon immer so stur gewesen, das hatte sie von ihrem Vater. Egal, ob Fakten und die Wissenschaft selbst gegen etwas standen, ihre Meinung war die Richtige. Genau deswegen hatten wir schon so einige Diskussionen und Streits, ständig lagen wir uns in den Haaren. Mit meinen 21 Jahren wollte ich eigentlich sogar schon lange ausziehen, aber da auf einmal mein Vater krank geworden war, hatte ich mir diesen Gedanken schnell aus dem Kopf geschlagen und dachte auch jetzt noch nicht darüber nach. Ich wollte nicht an die Zukunft denken, nicht jetzt, nicht hier. In diesem Moment war die Zukunft so weit weg und schien unerreichbar – hier in diesem Zimmer stand die Zeit still, so dachte ich.
Meine Tante ging langsam zu ihrem Bruder herüber, setzte sich auf den Bettrand und betrachtete ihn. Er hatte begonnen, sich zu bewegen und heftig zu atmen. Hatte er etwa Schmerzen? Ich hatte schon oft gesehen, wenn mein Vater Schmerzen hatte. Lange Zeit hatte er mit einem kaputten Rücken zu kämpfen, konnte nie richtig sitzen, musste mit einem Gehstock laufen. Es war eine ziemliche Plagerei für ihn gewesen. Aber irgendwann wurde es besser. Das war jedoch nichts gegen diese Art von Schmerzen, die wir nun bei ihm sahen. Die wir in seinen Augen sahen, die seine Schwester anstarrten. Er bäumte sich auf vor lauter Schmerz und starrte sie weiter an. Sanft und vorsichtig nahm meine Tante ihn bei den Schultern und hielt ihn fest. Sie lächelte traurig und redete leise mit ihm, dass alles gut sein, dass wir alle bei ihm wären. Er beruhigte sich nicht. Ich betrachtete die beiden lange und mit klopfendem Herzen. Mein Vater hatte mir vor einigen Monaten etwas erzählt, woran ich nun denken musste. An einen Traum, den er gehabt hatte. Er hatte von seiner Mutter geträumt, die über ihm war und ihn langsam zu Boden drücken würde, sanft und vorsichtig. Sie sagte, dass alles gut wäre, dass es in Ordnung wäre. Seine Mutter war schon seit 14 Jahren tot. Er sagte mir damals, dass er spürte, wie sie ihn zu sich holen wollte. Ich sah meine Tante an. Sie sah aus wie meine Großmutter.
Ich dachte lange über seine Worte nach und sah zu, wie meine Tante ihn in ihren Armen hielt und fast anfing zu weinen. Wieso weinte ich nicht? Auf dem Weg hier her, als ich im Bus saß, konnte ich nichts anderes als weinen. Es war mir egal gewesen, dass die Leute schauten. Ich konnte nicht anders. Aber jetzt konnte ich es nicht mehr. Was war denn los mit mir? Ich fühlte mich so leer.
Die Tür ging auf und meine ältere Schwester trat herein, zusammen mit meinem Neffen und meiner Nichte. Eilig stand ich auf und nahm alle nacheinander in den Arm. Meine starken wunderbaren Schwestern. Ich hatte sie beide so lieb und war froh, dass sie da waren. Ohne sie könnte ich dieses Vakuum in diesem Zimmer nicht ertragen. Ich sah zu, wie sie langsam zu Papas Bett ging und ihn ansah. Und ich sah ihre Tränen. Wieso weinte ich nicht?
Langsam ging ich zu einem Stuhl, der neben Papas Bett stand. Meine Mutter hatte bis gerade dort gesessen, aber sie wollte ihre Tochter natürlich auch begrüßen. Langsam sah ich Papa an und betrachtete ihn. Gerade war mein Kopf noch leer gewesen. Jetzt formte sich langsam eine Frage: Warum? Warum er? Warum jetzt? Er war noch viel zu jung. Ich hab ihn erst 21 Jahre gehabt. Warum musste das alles passieren?
Auf einmal ging die Tür wieder auf und eine Schwester kam herein. Sie sah alle kurz verständnisvoll lächelnd an und ging dann zu Papa ans Bett. Sie sah, welche Schmerzen er hatte und blickte uns dann langsam an. Sie wollte mit uns reden. Mit der Familie.
Gemeinsam verließen wir mit ihr das Zimmer und stellten uns vor die Tür. Sie blickte uns alle ernst an und fragte, ob er weiter leiden sollte oder, ob wir es verhindern wollten, dass er litt. Wir sahen einander an und jeder wusste die Antwort auf diese Frage.
Als wir wieder reingingen bereitete die Schwester eine Spritze vor. Ich kannte mich mit Medizin nicht so gut aus, aber ich wusste, dass er nun keine Schmerzen mehr haben würde. Nachdem die Schwester ihm die Spritze gegeben hatte beruhigte er sich und wir wurden ebenfalls ruhiger. Unbemerkt verließ die Schwester wieder mein Vakuum. Ich starrte meinen Vater an. Ich hatte mich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett gesetzt und betrachtet seine Hand, die nun ruhig auf der Matratze des Krankenbettes lag. Diese Hände hatten mich sehr oft getragen und beschützt, sie hatten schwere Arbeiten vollbracht und ich kannte sie so gut, nun waren sie knochig, wie die eines Großvaters, aber nicht fremd, sie waren alles andere als fremd. Vorsichtig nahm ich seine Hand und hielt sie zwischen meinen. Spürte er das überhaupt noch? Ich wollte, dass er es spürt, dass ich da war, dass wir da waren. Seine Familie.
Ich glaube, ich saß hier nun schon viele Stunden und hielt seine Hand, so fühlte es sich jedenfalls an. Ich merkte kaum, was meine Verwandten taten, dass mein Bruder und meine Schwägerin sich auf einmal verabschiedeten, um zu gehen. Später sagten wir, dass es ziemlich egoistisch von meinem Bruder gewesen war einfach zu gehen. Er war ein sehr religiöser Mensch und da Samstag war wollte er früh ins Bett um am nächsten Tag, am Sonntag, in die Kirche zu gehen. Obwohl sein Vater wollte, dass er hier blieb. Das hatte er gesagt. Ein Tag vorher. Als er noch sprechen konnte. Jetzt konnte er es nicht mehr, aber wir wussten trotzdem, dass er es so gewollt hätte. Und dennoch ging er. Wir blieben und ich hielt weiter Papas Hand.
Ich bemerkte kaum, wie meine Schwestern ihre Kinder auf den Flur schickten, in den Besucherbereich, wo man sitzen konnte. Vermutlich waren sie schon eingeschlafen oder spielten mit ihren Smartphones als Zeitvertreib. Natürlich sollten sie nicht im Zimmer sein, wenn es passierte.
Papas Hand rührte sich schon die ganze Zeit nicht mehr. Er hatte keine Schmerzen mehr, war sehr ruhig und schien zu schlafen. Es fühlte sich an, als würde mein Vakuum sich langsam ausdehnen, wie ein Luftballon. Das leise Gerede im Hintergrund, was ich bisher kaum wahrgenommen hatte, nahm nun ab. Ich blickte auf und sah meine Mutter. Sie ging hinter meine Schwestern, die auf der anderen Seite von Papas Bett saßen und meinen Vater ansahen, seine Hand hielten und leise weinten. Langsam legte sie ihre Hände auf ihre Schultern und sah ebenfalls zu Papa.
Ich wandte den Blick wieder ab und betrachtete meinen Vater. Er war immer mein Freund gewesen. Ein Freund, mit dem man ziemlich viel Blödsinn machen konnte, der ein strenger und dennoch wunderbarer Papa gewesen war, der immer da war. Immer.
Später musste ich an den Blödsinn denken, den wir zusammen schon verzapft hatten. Vor einiger Zeit hatte meine Mutter zwei lange Staubwedel gekauft. Als sie eines Tages nicht da war taten Papa und ich so, als wären die Staubwedel Schwerter und lieferten uns einen Staubwedelkampf. Dies ging so lange gut, bis sie, als sie aufeinander trafen, entzwei brachen und wir nur noch zwei kurze Plastikstangen in den Händen hielten. In dem Moment mussten wir beide so sehr lachen, dass unsere Bäuche weh taten.
Ja, er war mein Freund. So oft haben wir beide geredet über alles Mögliche. Und jetzt sollte das einfach so Zuende sein? Ich umfasste Papas Hand nun mit beiden Händen, als würde ich wollen, dass er nicht weggeht. Aber ich konnte ihn nicht aufhalten. Niemand konnte das.
Meine Gedanken schwirrten wild im vakuumierten Raum herum und ich konnte sie nicht ordnen. Ich dachte an meine Schwester, die mir schon sehr oft die Geschichte erzählte, als sie, mein Papa und ich uns in der Haard verirrt hatten – mitten im kalten Winter, mitten im Schnee. Ich war noch sehr klein und erinnere mich nur vage an dieses Ereignis. Damals wollten wir dort einfach nur Schlitten fahren und, wie meine Schwester erzählte, als wir uns verirrten war ich inzwischen so müde, dass ich fast eingeschlafen wäre. Gleichzeitig war ich aber schon recht blau um die Nase. Es war kalt und einschlafen wäre dann wirklich gefährlich gewesen. Beide versuchten mich die ganze Zeit wach und warm zu halten. Irgendwann fanden wir zum Glück doch zurück.
Verirrt in der Kälte – genauso fühlte ich mich gerade. Verirrt in meiner kalten Gedankenwelt. Starrend auf meinen regungslosen Vater. Er war derjenige, der nun einschlafen musste. Und keiner von uns konnte ihn wach halten. Auch wenn es noch lange nicht Zeit für ihn gewesen wäre. Er war nicht einmal 60 Jahre alt. Und dennoch nahm ihn uns seine Krankheit.
Später wünschte ich mir fast jeden Tag er wäre noch da. Er hätte gesehen, dass ich endlich mein Elternhaus verlassen konnte, hätte mit erlebt, wie meine Schwester einen Mann kennenlernte, der wie für sie geschaffen schien und er hätte verhindern können, dass meine Mutter gerade mal 1 1/2 Jahre später einen Mann heiratete, der so sympathisch war wie schimmliges Toastbrot. Dieses Ereignis erschütterte unsere gesamte Familie.
Ich sah meinen Vater an. Sein Brustkorb hob und senkte sich beinahe unmerklich immer wieder. Es wurde immer langsamer. Mein Vakuum war so sehr gedehnt, dass es drohte zu zerplatzen.
Wenn irgendjemand die Definition von Glück suchen würde, das hier war das genaue Gegenteil. Der gesamte Raum war ruhig, man wagte kaum zu atmen. Ich nahm meine Familie kaum noch wahr. Sie alle standen nah am Bett und waren so still wie Statuen, die meinen Papa beobachteten.
Ich starrte sein Gesicht an und sah zu, wie sein Brustkorb sich ein allerletztes Mal hob und senkte.
Und dann zerbrach mein Vakuum.
Ich lag auf dem Bett, in dem meine Tante und mein Onkel geschlafen hatten. Meine schwarze Brille lag neben mir auf dem Kissen und ich starrte sie an. Meine Augen taten weh. Sie waren sicher ganz geschwollen. Mein Kopf schmerzte schlimm vor Erschöpfung. Um mich herum waren leise Stimmen zu hören. Meine Schwestern, die sich gegenseitig umarmten und trösteten, mein beiden Onkels, die leise redeten, meine Mutter, die gerade meinen Bruder anrief. Alles schien in Zeitlupe außerhalb von meinem Kopf abzulaufen.
Und nun lag ich hier. Meine Brille sah ich klar vor mir liegen. Nur die Ferne konnte ich nicht erkennen. Aber ich wollte sie auch garnicht sehen.