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Der Mann auf dem rostigen, blauen Fahrrad
Als ich den Mann auf dem alten, rostigen, blauen Fahrrad zum ersten Mal sah, war ich zwölf Jahre alt. Alt genug, um mein Leben lang Panikattacken zu bekommen, wenn ich ein altes, rostiges, blaues Fahrrad sehe. Alt genug, um mein Leben lang Gänsehaut zu bekommen, wenn ich an das quietschende und ratternde Geräusch des alten, rostigen, blauen Fahrrades denke.
Es war ein kalter Herbsttag im Jahr 1998. Der Wind wirbelte die Blätter, die von einem lebhaften, grünen Farbton langsam ins verfaulende Braun übergingen, durch die Luft und ließ sie wie Kunstflugzeuge Saltos schlagen. Die Bäume verloren stetig ihre ganze Pracht, aber noch waren sie nicht ganz nackt. Sie halten sich tapfer dieses Jahr, hatte meine Mutter damals gesagt, als sie während des Kuchenbackens aus dem Fenster blickte. Der schneidende Wind schaffte sich einen Weg durch sämtliche Ritzen, weshalb in den ersten Häusern schon die Holzöfen entzündet worden waren, deren Rauch sich durch die Kamine einen Weg ins Freie bahnte.
Bei diesem Wetter, bei dem sich jedermann denkt, dass es das perfekte Wetter zum Lesen, Musik hören, Schlafen – egal was, Hauptsache drinnen – ist, war ich im Stadtpark und ließ zwischen den Kunstflugzeugblättern meinen Drachen im Wind segeln. Ich hatte mich nach dem Zwiebelkonzept eingekleidet: Schicht auf Schicht auf Schicht. Insgesamt hatte ich geschätzte sechs und gefühlt eine Lage an.
Während die vorbeifliegenden Laubblätter Schrauben drehten und wild durch die eisige Luft sausten, konzentrierte ich mich darauf, meine Drachenschnur immer auf Spannung zu halten und so meinen fliegenden Kameraden – mein Drachen war damals neben Frank Koch mein bester Freund – möglichst lange in der Luft zu halten.
Als ich das Gefühl hatte, dass mein Kumpel da oben einigermaßen sicher auf den Luftwellen ritt, blickte ich mich im Park um. Ich ließ meine Augen jedoch nicht länger als fünf Sekunden von meinem Drachen. (einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig!) Diese fünf Sekunden reichten aber aus, um zu sehen wie der sechzehnjährige Benni Fritsch, den ich aus meiner Schule kannte, seine Hände an die Hüfte von einem blonden Mädchen legte – ich konnte sie von meiner Perspektive aus nicht erkennen – und seinen Mund auf ihren presste.
Würg!
Nach einem kurzen Kontrollblick nach oben wollte ich ihnen schon „Nehmt euch ein Zimmer!“ zurufen, obwohl ich eigentlich nicht wusste, was das genau bedeutet. Ich hab nur mitbekommen, wie das die älteren Jungs aus meiner Schule immer schreien, wenn sie so etwas ekliges sehen. Aber die beiden hatten sich schon wieder von einander gelöst und gingen nun Hand in Hand davon.
Händchen halten! Das ist doch was für Mädchen...
Ich musste mir eine Hand auf den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.
Benni Fritsch ist ein Mädchen!
Die Hand half nichts und ich musste laut losprusten.
Über mir geriet der Drachen ins Schlingern und stürzte wie eine Sternschnuppe ab. Er schlug zwei Meter neben einer Sitzbank auf, auf der der alte Herr Schneider saß, der sich jeden Tag hierher in den Park begab, um die Enten in dem kleinen Teich zu füttern und über alte Zeiten, in denen er mit glänzender Tolle und hinaufgekrempelten weißen T-Shirts hübschen Mädchen in kurzen Röcken nachpfiff, nachdachte. Seine Frau, die ich sehr gern mochte, weil sie mir immer Süßigkeiten zum Naschen schenkte, war vor vier Jahren gestorben.
Ihr Herz war zu schwach zum Arbeiten, hatte meine Mutter gesagt. Mit achtzig Jahren ist es aber in Ordnung zu sterben. Ihr geht es jetzt besser.
Aber jetzt ist Herr Schneider ja ganz allein!
Sie ist nur körperlich weg, im Herzen ist sie immer bei Herrn Schneider. Und auch bei dir und bei mir, sagte sie und küsste mich auf die Stirn.
Als der Drachen neben ihm aufschlug, zuckte er zusammen.
Ich lief zu ihm hin und fing an mich zu entschuldigen und ihm zu sagen, wie leid es mir tat und dass so etwas nie wieder geschehen würde, als er mich grinsend unterbrach.
„Macht doch nichts, Kleiner, ist ja nichts passiert!“
Er lachte laut.
„Pass bloß auf, dass du das nächste Mal 'Drachen fällt!' oder was ähnliches rufst, wie wenn ein Baum umfällt, dass Leute in Deckung gehen!“
Ich war immer noch unter Schock, weil ich dachte, ich hätte fast einen netten, alten Mann erschlagen. Ich starrte ihn sprachlos an.
„Hättest du das gerufen, wäre ich nämlich sofort unter die Bank gesprungen!“
Als er mit seinen schwerfälligen Bewegungen eine Sprungbewegung nachahmte, musste ich plötzlich auch lachen. Sein Lachen wurde jedoch langsam zu einem keuchenden Husten und es schüttelte ihn, als er versuchte, mit einer Hand seinen Mund zu bedecken. Dabei fielen ihm seine schneeweißen Haare – die paar, die er noch hatte – in die Stirn.
„Alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Schneider?“, fragte ich ihn.
Er schien seinen Husten bezwungen zu haben, denn er räusperte sich und atmete laut aus. Doch er nickte und wischte sich seine Haare aus dem Gesicht.
„Bei mir ist alles in Ordnung, Kleiner.“ Er schenkte mir ein Lächeln, das ich ihm aber nicht ganz abkaufte. „Ich bin nur schon ziemlich alt, weißt du?“
Ich wischte mir mit meinem Handrücken den Rotz der sich an meiner Oberlippe gesammelt hatte weg.
„Wie alt sind Sie denn, Herr Schneider?“
„So alt, dass ich das kann!“
Er grinste und zeigte mir seine Zähne. Dann fasste er sich mit Daumen und Zeigefinger an seine Vordersten und zog fest an.
„Was machen sie denn da?“, fragte ich ihn erschrocken.
Nach einem weiteren Ruck hielt er mir alle seine oberen Zähne entgegen und lachte.
„Igitt!“ Ich verzog das Gesicht wohl zu so einer Grimasse, dass er noch lauter lachen musste. Dann steckte er sich seine Zähne wieder in den Mund und sagte nur:
„Das kannst du laut sagen, Kleiner!“
Dann mussten wir beide lachen.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich drehte den Kopf und sah Ihn.
Er fuhr auf seinem alten, rostigen, blauen Fahrrad durch den Park direkt auf uns zu. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd darunter und eine schwarze Krawatte. Auf seinem Kopf saß ein – in der Welt eines Zwölfjährigen – riesiger Hut, ein Zylinder. Das Fahrrad quietschte bei jedem Tritt und man hörte ein leises Rattern, als er näher kam. Das Rad war viel zu klein für einen so großen Mann, darum sah es fast so aus, wie damals, als mein Vater mir das Radfahren beigebracht hatte und sich bucklig auf meinem Kinderfahrrad abgestrampelt hatte. Normalerweise hätte ich sicherlich losgelacht, aber ich glaube ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich musste den Reißverschluss meiner Jacke noch weiter zuziehen, denn ich hatte das Gefühl, dass es nochmal um mindestens fünf Grad kälter geworden ist, seitdem ich meinen Drachen steigen lassen hatte. Ich drehte meinen Kopf zurück zu Herrn Schneider, der lächelnd den Enten auf dem Teich zusah, wie sie sich um ein Stück seiner Semmel stritten. Es war, als ob er mich komplett vergessen hätte.
Ich drehte meinen Kopf wieder zu dem Radfahrer. Inzwischen war er noch höchstens zehn Meter von mir entfernt. Er bremste ab und kam zum Stehen. Ich hatte davor und habe bis jetzt noch nie so schrecklich dunkle Augen gesehen, wie bei diesem Mann. Sie waren tiefschwarz und strahlten nicht das kleinste bisschen Wärme aus, es war vielmehr so, dass man das Gefühl hatte, die Augen würden der Umwelt sämtliche Wärme entziehen.
Das Gesicht des Radfahrers verzog sich zu einem teuflischen Grinsen und er winkte mir zu.
Ich brachte es nicht fertig, zurück zu winken. Die Situation war zu bizarr.
Der Radfahrer stieg von seinem Rad und lehnte es gegen einen Baum. Dann ging er auf mich zu. Oder auf Herrn Schneider?
„Hallo, Kleiner!“
Er sprach mich an, als er noch ungefähr zwei Meter entfernt von mir war. Seine Stimme war kratzig, wie die von meinem Vater, wenn er am Tag davor zu viel Whiskey getrunken und Zigaretten geraucht hatte. Also wie immer.
Ich öffnete den Mund, aber es kam nur ein leises 'Hi' heraus. Als ob mein Herz, das mir mittlerweile bis zum Hals schlug, meine Stimmbänder blockieren würde.
Er stand nun direkt vor mir und überragte mich um einiges. Er war sogar größer als mein Vater und der war der größte Mann, den ich bis zu diesem Tag je gesehen hatte. Meine Atmung beschleunigte sich und ich stellte schockiert fest, dass ich meinen Atem sehen konnte. Die Temperatur ist noch weiter gefallen.
Er ging vor mir aufs Knie, sodass ich genau in sein Gesicht sehen konnte. Er war sehr blass, seine Hautfarbe ging schon fast ins Weiße hinein. Er sah mir direkt in die Augen. Sein Blick war hart wie Stahl und es war unmöglich wegzusehen.
„Wie heißt du denn?“, fragte er mich. Sein grausames Grinsen spielte immer noch um seine Lippen.
„Tommy.“ Ich musste mich bemühen, meinen Namen laut auszusprechen. Mein Herz klopfte wie verrückt.
„Tommy...“ Er sah mir tief in die Augen. „Weißt du, wer ich bin, Tommy?“
Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von seinen Augen abzuwenden. Es war als hielten sie mich gefangen.
Er brach in lautes Gelächter aus. Es war das furchterregendste Geräusch, das ich in meinem ganzen Leben hören sollte. Es klang, als würden tausende Nägel über eine Tafel gezogen werden. Ich war kurz davor, mir meine Ohren zuzuhalten, als er wieder verstummte.
„Oh, ich denke schon, dass du weißt, wer ich bin.“
Er hob seine Hand und strich mir mit seinen Fingernägeln über die Wange. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich war kurz davor, mir in die Hose zu machen und zitterte am ganzen Körper.
„Mach dich nicht nass, Kleiner. Wegen dir bin ich nicht hier.“ Er lachte wieder. Wieder hatte ich den dringenden Wunsch, mir meine Ohren zuzuhalten, als er aufhörte und mich ernst ansah.
„Aber wir werden uns noch mindestens einmal sehen.“
Sein Gesicht verzerrte sich wieder zu dem teuflischen Grinsen.
Dann stand er ruckartig auf und ging an mir vorbei zu Herrn Schneider. Dieser wandte seinen Blick nun endlich von den Enten ab und starrte den Mann mit aufgerissenen Augen an. Aber in seinem Blick stand keine Angst, sondern nur Überraschung.
„Betty?“
Betty... So hieß doch Frau Schneider... Meine Verwirrung wuchs zusätzlich, als der Mann mit dem schrecklichen Grinsen nickte und Herrn Schneider seine rechte Hand hinstreckte. Der Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes wandelte sich von Überraschung zu Freude und er ergriff die Hand mit einem Lächeln auf den Lippen.
Sobald er die Hand des Mannes berührte, ertönte ein Geräusch, dass sich anhörte, wie wenn man das Wasser einer Badewanne auslässt und der letzte Rest dann in den Abfluss gesaugt wird. Dieses Geräusch werde ich nie in meinem Leben vergessen.
Dann sackte Herr Schneider zusammen und bewegte sich nicht mehr. Ich konnte jedoch noch das Überbleibsel eines Lächelns auf seinen Lippen erkennen. Der Mann mit dem Zylinder atmete langsam, geräuschvoll mit geschlossenen Augen ein und aus, als ob er völlig zufrieden wäre. Dann wandte er sich wieder an mich.
„Du weißt, dass wenn du ihnen von mir erzählst, sie dir nicht glauben werden und dich für verrückt halten werden, oder?“
Ich gab ihm keine Antwort, aber anscheinend sprach mein Gesichtsausdruck Bände. Ich war mir zwar nicht bewusst, was gerade geschehen war, aber irgendetwas sagte mir, dass ich dieses Erlebnis niemandem erzählen konnte.
Sein Grinsen reichte mittlerweile fast von seinem einen Ohr zum anderen.
„Auf Wiedersehen, Tommy.“
Er ging an mir vorbei, stieg auf sein altes, rostiges, blaues Fahrrad und fuhr lachend davon. Ich konnte erkennen, dass weder der Mann noch das Fahrrad einen Schatten warf. Das Rattern des Fahrrades wurde leiser und verstummte, als der Mann an einem Baum vorbeifuhr und dann einfach weg war.
Ich fühlte, dass mein Mund offen stand, da mein Gaumen trocken wurde.
Ich schrie so laut ich konnte.
Ich sah Ihn noch einmal nach dem Treffen im Park.
Beim zweiten Mal war ich vierzehn Jahre alt und ging die Hauptstraße unserer kleinen Stadt entlang, als ich plötzlich ohne sofort erkennbaren Grund eine Gänsehaut bekam und mir ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief. Er war ein heißer Sommertag, doch ohne Vorwarnung begann ich am ganzen Körper zu zittern.
Plötzlich brach die Erinnerung an Herr Schneiders letzte Minuten auf Erden wieder über mich herein. Ich hatte es nicht vergessen – so etwas kann man nicht vergessen -, aber nachdem ich verstanden habe, was ich damals gesehen habe, redete ich mir ein, halluziniert zu haben. Niemand kann den Tod sehen, du Idiot. Auch du nicht!, sagte ich mir immer wieder und irgendwann begann ich es auch zu glauben und tat das Erlebnis im Park als eine Art Tagtraum ab.
Bis ich bei strahlender Sonne am Gehweg der stark befahrenen Hauptstraße stand und zitterte, als würde ich mich nur mit T-Shirt bekleidet am Nordpol befinden.
Und plötzlich hörte ich es.
Das Rattern und Quietschen. Unter den lauteren Geräuschen der vorbeifahrenden Autos war es nur sehr leise, aber doch sehr deutlich.
Es hätte natürlich jedes alte Fahrrad sein können, aber ich wusste, ich fühlte, dass Er es war. Wie das Gefühl, das man hat, wenn man beobachtet wird. Man kann es nicht beschreiben, aber man hat es.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mich langsam umsah. Die Straße rauf und die Straße runter. Überall Menschen. Viele Autos. Es war verkaufsoffener Sonntag in unserer Stadt und vierhundert Meter weiter vor mir begann zu meiner Rechten die Fußgängerzone, in der hunderte von Stände einen wunderschönen Trödelmarkt bildeten. Die meisten Leute bewegten sich auf die Fußgängerzone zu, doch es gingen auch schon viele wieder in die andere Richtung, vermutlich weil der Markt einfach zu überfüllt war und sie beschlossen hatten, so einen wunderschönen Tag lieber im Garten zu verbringen.
Und da sah ich ihn. Auf der anderen Straßenseite kam er mir auf dem Radweg entgegen. Er sah genau so aus, wie zwei Jahre davor. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Zylinder und dieses (drecks) alte, rostige, blaue Fahrrad, das unbedingt mal geölt werden müsste. Ein roter Kombi verdeckte ihn kurz, als er an ihm vorbeifuhr, aber dann war er wieder da.
Weil ich wie zu einer Säule erstarrt war, wurde ich angerempelt und zum weitergehen aufgefordert, doch ich konnte mich nicht bewegen. Hier wird gleich jemand sterben... Später würde mich der Gedanke quälen, dass ich irgendetwas hätte tun können. Aber konnte man ihn überhaupt aufhalten?
Er hatte mich noch nicht gesehen, als er stehenblieb und vom Rad stieg. Er lehnte sein Rad an eine Straßenlaterne und setzte sich auf den Randstein. Dann winkte er jemandem auf meiner Straßenseite zu. Ich konnte nicht sehen, wem, aber irgendjemandem in der Menge vor mir.
Mein Herz fühlte sich an, als würde es gleich explodieren. Der Schweiß stand auf meiner Haut, aber mir war eiskalt.
Ich sah ihn grinsen und eine Handbewegung machen, die ausdrücken sollte, dass der, dem er zuwinkte, zu ihm kommen soll. Und plötzlich wurde es mir klar. Mir wurde alles klar.
Ich sah einen Bus auf der anderen Straßenseite heranrollen. Einen dieser Reisebusse, mit denen man sogar tagelang fahren konnte, ohne dass sie unbequem werden. Und ich sah auch, dass der Busfahrer gerade eine Ansage machte, und deswegen immer für kurze Kontrollblicke nach hinten sah. Und ich sah, wie sich aus der Masse vor mir ein kleines Mädchen löste und auf den Mann mit dem Zylinder losrannte. Sie hatte sich von ihrer Mutter losgerissen und rannte mit ausgestreckten Armen lachend auf den ihn zu. Ich weiß nicht, was sie in ihm sah, aber wahrscheinlich versprach er ihr etwas, was sie schon immer haben wollte. Oder er sah aus, wie die Person, die sie immer treffen wollte. Dumpf hörte ich den Schrei ihrer Mutter und sah wie sie der Kleinen nachlief, die mit aufgerissenen Augen und einem erwartungsvollen Blick in ihren Tod rannte.
Dann ging alles ganz schnell. Ich hörte quietschende Bremsen, roch den Gestank von verbranntem Gummi, nahm den dumpfen Knall war und sah die schreiende Mutter auf der Straße zusammenbrechen.
Ich sank auf die Knie und musste weinen. Weil ich hilflos daneben gestanden habe, obwohl ich es kommen sah. Weil ich mir die Schuld gab, obwohl ich tief im Inneren wusste, dass ich nichts hätte tun können. Oder doch? Weil gerade ein unschuldiges kleines Mädchen sterben musste. Ich nahm alles nur noch wie durch eine Milchglasscheibe war. Um mich herum brach Chaos aus.
Der Mann im Zylinder war vor allen anderen bei dem kleinen Mädchen und strich ihr über die Stirn. Ich konnte es nicht hören, aber ich wusste, dass dieses Geräusch wieder erklang. Dieses Sauggeräusch.
Anschließend ging er zurück zu seinem Rad, schwang sich auf den Sattel und fuhr davon.
Ich wusste, niemand hatte Ihn gesehen. Nur ich. So kniete ich auf dem Gehweg und weinte so stark, wie ich noch nie zuvor geweint hatte und fühlte mich allein, während um mich herum Sirenen erklangen und viele Leute ohnmächtig wurden oder auch in Tränen ausbrachen. Ganz allein.
Am Abend dieses Tages dachte ich zum ersten Mal darüber nach, den Mann mit dem Zylinder zu töten. Aber konnte man den Tod töten? War der Mann auf dem Fahrrad überhaupt der Tod, oder nur ein Mittelsmann? Eine Art Fährmann, der die Seelen der Toten nur auf den Weg wohin-auch-immer schickt? Charon. So heißt der Fährmann in der griechischen Mythologie, habe ich gegoogelt.
Es wurden immer mehr Fragen.
Ist jeder Tod vorherbestimmt? Oder kann man in den Lauf der Dinge eingreifen und sozusagen dem Tod ein Schnippchen schlagen? Wenn man den Mann mit dem Zylinder töten wollte, müsste man ihm sicher eine Falle stellen. Aber ist er vielleicht sogar allwissend und würde die Lunte riechen? Was passiert, wenn der Mann mit dem Zylinder wirklich stirbt? Gibt es dann keinen Tod mehr oder wird einfach ein neuer Hutträger geschickt?
Es waren zu viele Fragen und wenige, beziehungsweise gar keine Antworten. Ich war damals vierzehn und mit dieser 'Gabe', wie ich sie ironisch nannte, völlig überfordert. Ich zitterte noch am ganzen Leib, als ich mich mit tränennassem Gesicht ins Bett legte und versuchte, das alles so schnell wie möglich zu vergessen und beschloss, dem Tod von diesem Zeitpunkt an so gut es geht aus dem Weg zu gehen.
Bis jetzt war ich sehr erfolgreich damit, dem Mann mit dem Zylinder aus dem Weg zu gehen. Ich war nicht dabei, als meine Großeltern in kurzem Zeitabstand nacheinander starben – was echt schwer ist, wenn man sich nicht richtig verabschieden kann – , ich machte um jedes Krankenhaus einen riesigen Bogen und war nicht mal beim Tod meines Vaters anwesend. Er ist vor fünf Jahren an Lungenkrebs gestorben. Scheiß Rauchen. Ich war bei der Beerdigung. Mein Vater hatte sich die letzten Jahre vor seinem Tod immer mehr wie das größte Arschloch der Welt aufgeführt und die meisten seiner früheren Freundschaften durch seinen Alkoholismus zerstört, deshalb waren nur wenige Leute bei der Beisetzung anwesend. Deshalb war mir meine Mutter auch nicht böse, als ich sagte, ich wolle ihn nicht im Krankenhaus besuchen. Wenn ich mir nur vorstelle, dass ich am Krankenbett meines Vaters sitze und dieses beschissene Rad höre, bekomme ich schon Gänsehaut und Schweißausbrüche.
Ich bin jetzt 28 Jahre alt und lebe mit meiner Freundin, nein, seit neuerstem meiner Verlobten, zusammen. Lena und ich waren sechs Jahre zusammen, als ich ihr in einer extrem kitschigen Situation den Antrag machte. Im Nachhinein ist mir das ziemlich peinlich, aber sie fand es süß. Sie weiß nichts von meiner „Gabe“ und wenn es nach mir gehen soll, muss sie auch niemals davon erfahren. Ich bin mir zwar sicher, dass sie mir glauben würde, dennoch würde ich mich selber für verrückt halten, wenn ich ihr von dem Mann mit dem Fahrrad und dem Hut erzählen würde.
„Eine Woche noch!“
Ich gebe einen zustimmenden Grunzlaut von mir und drehe mich auf die andere Seite. Als mich meinen Arm um Lena legen möchte, fühle ich, dass sie schon aus dem Bett gestiegen ist. Mit einem traurigen Grunzlaut drehe ich mich auf den Rücken. „Aufwachen, Schlafmütze!“, sagt sie und wirft mir ein Kissen ins Gesicht.
„Gleich.“, sage ich mit dem Kissen im Gesicht und höre wie sie eine Schublade öffnet, kurz darin herumkramt, sie wieder zuschiebt und ins Bad geht. Kurz darauf ertönt das leise Rieseln unserer Dusche aus dem angrenzenden Zimmer. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, wie sie unter laufender Dusche auf mich wartet. Doch dann kommt mir wieder ins Bewusstsein, warum ich überhaupt an einem Sonntag schon um neun Uhr aufstehen muss. Ein Besuch bei meiner Mutter steht an. Schnell verdränge ich den Gedanken wieder und widme mich mit meiner Fantasie wieder meiner Verlobten unter der Dusche.
Nach ein paar weiteren Minuten Kopfkino kann ich mich dann auch endlich aus dem Bett quälen und schnappe mir die erstbeste Unterhose aus meiner Schublade. Lena kommt nur in Unterwäsche aus dem Bad gestürmt, mit einem dieser Handtuch-Turbane, die anscheinend nur Frauen formen können. Ich bin Architekt und habe keine Ahnung, wie man eines dieser Dinger baut. Sie steht mit dem Rücken zu mir und wühlt sich durch den Kleiderschrank. Ich gehe leise zu ihr, küsse sie auf den Nacken und öffne schnell ihren BH.
Sie schnellt herum, grinst und schüttelt den Kopf.
Sie küsst mich, aber macht ihren BH wieder zu: „Nicht jetzt, Thomas.“ Ich muss grinsen. Sie nennt mich nur Thomas, wenn sie extrem wütend oder extrem nervös ist. Selbst nach sechs Jahren Beziehung und unzähligen Besuchen bei meiner Mutter ist sie immer noch nervös. Seitdem wir ihr erzählt haben, dass wir heiraten werden, ist es noch schlimmer geworden. Als ob Lena fürchten würde, dass meine Mutter plötzlich sagen würde: Tommy, heirate eine andere!
Ich drücke meiner Verlobten also noch einen Kuss auf die Lippen und gehe duschen. Während ich mich von dem warmen Wasser berieseln lasse, denke ich über die anstehende Hochzeit nach. Eine Woche noch. Der Druck, der mir bei diesem Gedanken von der Brust den Hals hinaufsteigt, ist nicht mehr so schlimm wie vor einer Woche, aber er ist immer noch da. Nicht, dass ich irgendwelche Bedenken hätte. Ich denke, dass mir nichts besseres passieren kann, als Lena zu heiraten. Trotzdem ist es ein großer Schritt und ich habe ein bisschen Angst, es ein bisschen zu schnell angegangen zu haben. In diesem Moment ruft sie aus der Küche:
„Willst du auch noch Pancakes? Wir haben auch noch Nutella!“
Ich grinse.
„Sehr gerne!“
Vielleicht ist sie ja doch die Eine. Ich muss lachen. Sie steckt ihren Kopf zum Badezimmer herein.
„Was ist denn so lustig?“, fragt sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Ich hab nur wieder gemerkt, wie sehr ich dich liebe.“
„Und das ist lustig? Na toll, ich heirate einen irren Idioten.“ Sie streckt mir grinsend die Zunge entgegen und geht wieder in die Küche.
Als wir eine Stunde später durch die Stadt fahren, in der meine Mutter lebt – sie wohnt immer noch im gleichen Haus wie damals –, kommen wir am Stadtpark vorbei. Ich spüre, wie mein Herzschlag immer schneller wird. Ich sehe die alten Bäume, die nun, im Hochsommer, zwar allesamt grüne Blätter tragen, aber immer wieder blitzen Bilder von damals auf. Die herumfliegenden Blätter, die halbnackten Bäume. Ich sehe den Platz, wo ich damals Benni Fritsch und seine Freundin beim Küssen beobachtete. Mein Atem verschnellert sich, doch ich versuche möglichst normal, entspannt zu wirken, um Lena nicht zu besorgen. Sie würde aber wahrscheinlich sowieso gerade nichts mitbekommen, da sie wie hypnotisiert dem Hörspiel zuhört, das aus unseren Autoboxen ertönt.
Wir folgen der Straße um eine Linkskurve und da ist es. Ein kleines, marodes Sitzbänkchen an einem Ententeich, einsam und verlassen. Ich merke, wie sich meine Fingernägel ins Lenkrad graben und mir eine Schweißperle die Schläfe entlang rinnt.
Oh, ich denke schon, dass du weißt, wer ich bin.
Das rostige, alte, blaue Rad.
Mach dich nicht nass, Kleiner. Wegen dir bin ich nicht hier.
Der rießige, schwarze Zylinder.
Aber wir werden uns noch mindestens einmal sehen.
Die kreideweiße, grinsende Fratze.
„Tom!“ Lenas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ein hupender Geländewagen kommt auf uns zu. Anscheinend war ich gedankenversunken auf die entgegenkommende Fahrbahn gekommen. Blitzschnell reiße ich das Lenkrad wieder nach rechts auf unsere Fahrbahn. Gedämpft höre ich Lena schreien. Gottseindank hat es nicht geregnet. Der Geländewagen rast mit Millimeterabstand am linken Außenspiegel vorbei. Ich lege eine Vollbremsung hin und komme nach fünf Metern endgültig zum Stehen. Es fühlt sich an, als würde mein Herz gleich aus meiner Brust springen und ich spüre meinen Puls an meinen Schläfen ohne hinzufassen. Ich sehe wie Lena ihren Kopf in den Nacken gelegt hat und tief durchatmet. Ich muss meine Hände auf meine Knie legen, da diese vor Adrenalin so stark zittern als würde ein Presslufthammer in ihnen arbeiten.
„Entschuldigung.“
„Mach – das – nie – wieder. Bitte.“ Lena legt ihre Hand auf meine.
„Versprochen.“ Ich ziehe sie zu mir und küsse sie auf die Stirn. Ich atme noch einmal tief durch, dann wechsle ich in den ersten Gang und fahre weiter. Ich werfe noch einen kurzen Blick zurück auf den Ententeich, doch dort hat sich nichts verändert. Er liegt immer noch ruhig am Fuße der Sitzbank.
Rechtskurve. Linkskurve. Rechtskurve.
„Was war denn gerade los?“, will Lena wissen.
„Ach, ich habe nur an etwas aus meiner Kindheit gedacht. Ist nicht so -“
Doch der Rest des Satzes bleibt mir im Hals stecken. Vor uns liegt das Haus meiner Mutter, ein rotes Einfamilienhaus mit Balkon und kleinem Garten zwischen den Eingangsstufen und der Straße. Am Holzzaun lehnt ein altes, blaues, rostiges Fahrrad.
Oh nein.
Nein, nein, nein, nein, nein.
„Was denn?“, fragt Lena. Anscheinend habe ich eines der Neins laut gesagt.
Ich antworte nicht. Der Schweiß rinnt mir von der Stirn und ich umklammere das Lenkrad, als hinge mein Leben davon ab.
Das kann nicht wahr sein.
Ich lege meine zweite Vollbremsung an diesem Tag vor dem Haus meiner Mutter hin.
„Du machst mir Angst, Schatz!“
Ich fühle Blut durch meinen Kopf rauschen. Mein Herz arbeitet auf Hochtouren. Ich versuche, mich zu entspannen, mir einzureden, dass es ein anderes Rad sein wird, doch der Druck auf meiner Brust ist zu stark. Ich kann hier nicht warten.
Ich löse meinen Gurt und steige aus dem Wagen.
„Du bleibst hier!“, schaffe ich noch zu Lena zu sagen, bevor ich die Wagentür zu donnere und um das Auto herumrenne. Ich laufe an dem Rad vorbei – nicht ohne den Gedanken es zu zertrümmern – und springe über das niedrige Gartentor auf den kurzen Gehweg, der zum Haus führt.
„Mama!“, rufe ich, während ich die Stufen zur Haustür hinaufspringe und meinen Ersatzschlüssel aus der Hose fische. Meine Finger zittern jedoch so stark, dass ich Schwierigkeiten habe, den Schlüssel auf Anhieb ins Schloss zu bekommen. In meinem Kopf vermischen sich Bilder aus meiner Kindheit – meine Mutter beim Kochen, meine Mutter mit mir beim Eisessen – mit der kreideweißen Fratze des Mannes mit dem Zylinder. Als ich schließlich die Tür aufbekomme, mache ich mich schon darauf gefasst, in die Küche zu kommen und den Mann in Schwarz über meiner toten Mutter stehen zu sehen. Und dieses Sauggeräusch zu hören. Auf meinen Armen stellen sich sämtliche Härchen auf.
Ich stürze in die Küche.
Leer.
„Mama!“
Ich renne weiter ins Wohnzimmer.
Auch leer.
Ich wollte schon fast in den ersten Stock hinaufsprinten, als ich ein Lachen höre. Es kommt von der Terasse. Es ist meine Mutter. Ich renne zur Terassentür, die nur angelehnt ist, reiße sie auf und stürme auf die Terasse hinaus.
„Lass sie in Ruhe du -“
Ein weiteres Mal bleibt mir der Rest des Satzes im Hals stecken. Am Terassentisch sitzt meine Mutter mit einem Mann. Aber nicht mit einem kreideweißen Mann in schwarzem Anzug mit einem Zylinder, sondern mit einem älteren, braungebrannten Herren in Hawaihemd und Schnauzbart. Sie haben ein paar Spielkarten in den Händen und ein paar Cent liegen auf dem Tisch.
„Tommy!“ Meine Mutter richtet sich auf und wirft die Karten auf den Tisch. „Hast du komplett den Verstand verloren?“
„Was – Was ist – Wem gehört das Fahrrad draußen?“
Der Mann wirft nun auch seine Karten weg und streckt mir die Hand entgegen.
„Das ist dann wohl meines. Hallo, ich bin Viktor.“
Ich schüttele ihm die Hand, bringe aber kein Wort heraus. In meinem Kopf herrscht komplette Leere.
Vielleicht werde ich tatsächlich verrückt.
„Hallo, ich bin Lena. Toms Verlobte.“ Lena ist hinter mir aus dem Haus gekommen und reicht Viktor nun die Hand, während sie mir die zweite auf die Schulter legt. „Sie müssen ihn entschuldigen, wir hatten gerade beinahe einen Autounfall. Das hat ihn wohl ein bisschen durcheinander gebracht. Nicht wahr, Schatz?“ Sie sieht mich mit dem Spiel-mit-Blick an. Ich atme tief durch.
„Das muss es wohl sein. Tut mir sehr leid. Ich glaube, ich könnte jetzt ganz gut einen Drink vertragen und Sie, Viktor?“
„Du, bitte. Aber zu einem Drink sag ich nicht nein.“
Ich drücke meiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange, flüstere ein leises Entschuldigung und gehe mit Viktor ins Haus, mir dessen bewusst, dass ich zumindest Lena über meine Vergangenheit und vor allem über meine 'Gabe' letztendlich doch aufklären muss.
Wie erwartet war die Beichte über meine 'Gabe' ein totales Desaster. Natürlich glaubte sie mir kein Wort, obwohl sie mir beteuerte, sie verstehe mich und sie wäre immer für mich da, wenn ich sie brauche. Ich versprach ihr, nie wieder so ein Theater zu veranstalten und fragte sie, ob sie wegen der Vorkommnisse die Hochzeit verschieben wolle. Aber anscheinend liebte sie mich wirklich, denn ihre Antwort auf diese Frage war ein Kuss und das schönste Wort, das man auf diese Frage hören will: „Nein.“
Doch etwas war anders. Es stand etwas zwischen uns, über das niemand reden wollte. Wir verschoben unsere Flitterwochen und versuchten dem Elefanten im Raum aus dem Weg zu gehen.
Als sie schwanger wurde und die Gewissheit durch drei Schwangerschaftstests hatte, brach sie in Tränen aus. Sie schwor mir, dass es Freudentränen seien, aber ich wusste, dass da auch noch etwas anderes dabei war. Trauer. Furcht. Unsicherheit. War ihr Mann ein Irrer, mit dem sie nun ein Kind aufziehen sollte? Oder falls er nicht irre war und recht hatte, würde unser Kind diese grausige Gabe ebenfalls haben?
Doch mit dem Verlauf der Schwangerschaft schien sie wieder Fuß zu fassen. Es wurde wieder wie früher. Das neue Leben in unserer Familie hat den Tod sozusagen besiegt.
Ein paar Monate später fand ich durch eine Anzeige ein wunderbares kleines Haus am Stadtrand, in das wir zwei Wochen später einzogen. Lena war mittlerweile im siebten Monat und es schien alles wieder perfekt zu werden.
Bis ich den Mann auf dem Fahrrad zum dritten Mal in meinem Leben sah. Und nun sitze ich hier in meiner – unserer – neuen Küche und warte darauf, ihn ein viertes und letztes Mal zu sehen.
Es geschah an einem Dienstag. Ich war gerade auf der Arbeit in der Mittagspause als der Anruf kam.
„Thomas Fiedler?“
„Das bin ich.“
„Guten Tag, ich rufe aus dem St. Lukas Krankenhaus an. Ihre Frau wurde gerade nach einem Autounfall eingeliefert und sie sind als ihr Notfallkontakt verzeichnet.“
Es war als würde in meinem Kopf etwas explodieren. Ich sah kurzzeitig nur weiß und mir wurde so schwindlig, dass ich mich setzen musste.
„Lena? Autounfall?“
„Es tut mir Leid, ihnen diese Nachricht so überbringen zu müssen, aber ich denke, sie sollten schnellstmöglich zu uns ins Krankenhaus kommen.“
Alles drehte sich um mich. Reiß dich zusammen. Mein Herz klopfte so stark, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir gleich aus der Brust springen. REISS DICH ZUSAMMEN!
„Herr Fiedler?“
„Ich bin auf dem Weg!“
Ich sprintete durch das Büro, die Treppe hinunter, auf die Straße hinaus und sprang in mein Auto. Auf dem Weg zum Krankenhaus brach ich sämtliche Verkehrsregeln, aber hätte mich in diesem Moment ein Polizist aufgehalten, wäre ich ihm vermutlich an die Gurgel gesprungen. Mit quietschenden Reifen parkte ich vor dem Krankenhaus, sprang aus dem Auto, lief auf die Notaufnahme zu und -
Blieb stehen.
Sämtliche Haare auf meinem Körper stellten sich auf, als ein Geräusch an meine Ohren drang, das ich bis heute nicht vergessen kann. Das Blut pochte in meinen Ohren, trotzdem war es unverkennbar. Er war hier irgendwo. Ich hielt mir die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen und suchte den ganzen Parkplatz nach dem quietschenden und ratternden Rad ab. Doch der Parkplatz war relativ übersichtlich, und nirgens war der Mann auf dem Fahrrad zu sehen. Dennoch drang das Geräusch weiter an meine Ohren. Scheiß drauf, ich muss zu Lena. Ich musste alle Kraft aufwenden, um meine Beine zum weiterlaufen zu überzeugen. Meine Schläfen pochten. Ich hatte panische Angst. Gerade als ich den ersten Schritt Richtung Notaufnahme machte, kam Er aus dieser herausgerollt. Er sah genauso aus wie damals. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Zylinder. Blaues Rad. Aus meiner Lunge wurde sämtliche Luft gedrückt, als hätte mir gerade jemand eine Abrissbirne auf die Brust manövriert. Er sah mich und winkte mir im Vorbeirollen grinsend zu. Dann fuhr er um eine Ecke und war weg. Ich starrte ihm wie zu einer Salzsäule erstarrt nach, nicht im Stande, mich zu bewegen. Das muss nichts heißen. Das muss nichts heißen. Das ist ein Krankenhaus, hier sterben laufend Leute. Das muss nicht Lena gewesen sein. Ein Pfleger, der gerade zum Rauchen rausgekommen war, gab mir einen Klaps auf die Schulter.
„Alles klar bei Ihnen?“
Ich starrte ihn an. Sämtliche Gedanken waren weg, mein Kopf war leer. Ich bekam nur noch „Lena Fiedler“ aus mir heraus.
„Oh.“ Sein Lächeln erstarb. „Einfach rein und gleich rechts. Sie werden schon erwartet. Mein Beileid.“
Doch ich hörte ihn schon nicht mehr und steuerte wie auf Schienen, völlig emotions- und gedankenlos in die Notaufnahme hinein. Sie lag im ersten Zimmer rechts und ein Arzt wartete neben ihrem Bett auf mich.
„Herr Fiedler, Mein Name ist Doktor Schütz. Leider konnten wir nichts -“
Seine Worte verschwammen zu einem undefinierbaren Brummen, als ich auf meine tote Ehefrau zuging. Sie lag auf der Liege mit ihrem wunderschönen braunem Haar über dem Kissen aufgefächert, ihre Arme auf der Brust verschränkt. Ihr Gesicht und ihre Hände wiesen schwere Schürfwunden auf, da wo einst ihre perfekte Stupsnase war, war eine unförmige, blutige Masse. Ich strich ihr vorsichtig übers Haar und nahm ihre heilere Hand in meine.
„- leider ein unglücklicher Unfall -“
„Was ist mit unserem Kind?“ Ohne es bis jetzt bemerkt zu haben, liefen mir die Tränen über die Wangen.
„Es ist noch zu früh gewesen, um etwas unternehmen zu können. Es tut mir Leid.“
Ab diesem Moment verschwimmen meine Erinnerungen.
Das nächste, an das ich mich erinnern konnte, ist, dass ich in unserem Bett in unserem neuen Haus aufwachte. Mit dem Plan.
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Und jetzt bin ich hier.
Ich sitze nachts in meiner Küche, vor mir auf dem Tisch liegt eine Zigarette und ein Streichholz. Das Rasiermesser in meiner Hand glänzt rot. Ich wische es an meinem Hemd ab und schaue mein Spiegelbild in der Klinge an. In dem Gesicht, das mir entgegenblickt, ist kein Funken des einstigen Glücks mehr zu sehen.
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Das Blut formt kleine Lachen unter meinem Stuhl.
Der Schmerz, der anfangs vom Handgelenk ausging, ist mittlerweile fast komplett versiegt. Ich merke, wie mein Kopf langsam leichter wird und ich ein bisschen müde werde.
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Du musst durchhalten. Er muss jeden Augenblick da sein.
Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber ich glaube, ich kann ihn hören. Es ist zwar unmöglich, da jedes Fenster und jede Tür, außer die zwischen Küche und Flur verschlossen ist, aber es dringt ein Quietschen und ein Rattern an mein Ohr.
Das ist er. Es ist soweit.
Ich höre, wie sich die Haustür öffnet und anschließend wieder ins Schloss fällt. Ich sitze mit dem Gesicht zur Tür und warte, bis er um die Ecke kommt. Ich kann ihn noch nicht sehen, aber ich kann ihn schon fühlen. Die Temperatur in dem Haus ist wahrscheinlich gerade um zwanzig Grad gesunken. Ich war noch nie so ruhig in meinem Leben, obwohl es mit dem Atmen mittlerweile sehr schwer wird.
Dann tritt er um die Ecke. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und dieser blöde Zylinder. Sein kreideweißes Gesicht grinst mich an.
„Wieso wusste ich, dass ich auf dich nicht mehr lange warten muss?“ Seine Stimme war wie damals. Kratzig, wie nach zu viel Whiskey.
„Bist halt ein ganz schlauer Kerl.“ Ich hebe meinen Arm und zeige auf einen Stuhl, der mir gegenüber steht.
Er lacht. Tausend Nägel werden über eine Tafel gezogen. Dann geht er langsam zu dem Stuhl und setzt sich hin.
„Solltest du normalerweise nicht aussehen wie jemand, den ich mag, und es mir so leichter machen?“
„Wolltest du es leichter hättest du dir die Pulsadern entlang der Adern aufschneiden sollen und nicht quer drüber. Anfängerfehler.“
Seine kalten Augen starren mich an, ich habe das Gefühl, sie fressen sich gerade in meine Seele. Doch ich versuche dem Blick standzuhalten. Sein Grinsen wird noch breiter.
„Außerdem dachte ich mir, bei unserer Beziehung schaffst du das auch so.“
Nägel über die Tafel.
Dann sieht er die Zigarette auf dem Tisch.
„Oh, deine Henkersmalzeit?“
„So ähnlich.“
„Na dann, lass sie dir schmecken.“
Ich nehme die Zigarette und stecke sie mir in den Mund.
„Eine Frage hab ich noch. Wieso das Mädchen? Sie war noch nicht alt, das war kein selbstverschuldeter Unfall oder so. Wärst du damals nicht dort gewesen, wäre sie nie über die Straße gelaufen und gestorben.“
Er grinst.
„Es wurde so bestimmt.“
„Von wem?“
„Das würdest du nicht verstehen.“
Wir starren uns in die Augen. Hinter mir strömt fleißig das Gas weiter aus dem
Gasofen in die Küche und in den Flur. Alles ist vorbereitet. Mittlerweile sollte es genug
sein. Ich kann sowieso kaum noch atmen.
„Fahr zur Hölle.“
Ich entzünde das Streichholz.
Alles wird rot und schwarz.
Ich wache auf, weil ich einen lauten Knall höre. Ich habe Angst, mein Herz klopft und ich kauere mich in die Ecke meines Bettes und halte die Decke wie ein Schutzschild vor mich, falls ein Monster kommt und mich fressen will. Dann sehe ich, wie Licht durch das Fenster fällt. Aber nicht so ein Licht, wie das, das meine Lampe macht, sondern so ein Licht, das ein Lagerfeuer macht. Es flackert und sieht viel wärmer aus. Ist ja auch Feuer.
Ich habe immer noch Angst, aber mich interessiert viel stärker, was da draußen los ist. Vielleicht macht Papa ein rießiges Lagerfeuer vor meinem Fenster. Als Überraschung.
Ich schlage meine Bettdecke zurück und steige langsam aus dem Bett. Da sind keine Monster unter meinem Bett, keine Monster. Dann gehe ich schnell zum Fenster und schaue raus und muss laut schreien.
Das Haus der neuen Nachbarn brennt. Es ist das größte Feuer, das ich jemals gesehen hatte. Aber das schlimmste ist, das gerade ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet aus dem brennenden Haus rauskommt. Der Herr Nachbar vielleicht. Er hat gesagt, ich darf ihn Tommy nennen. Der hat aber einen komischen Hut auf. Und warum geht der so ruhig aus seinem Haus raus, wenn es brennt? Der Mann geht zum Holzzaun, wo ein altes Fahrrad steht und setzt sich drauf. Er dreht seinen Kopf und schaut genau in meine Richtung. Aber er hat doch gar nicht sehen können, dass ich da bin! Ich sehe, dass der Mann grinst und mir zuwinkt. Weil ich ein bisschen Angst habe, aber vor allem, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, winke ich zurück.
Da grinst der Mann noch breiter und fährt los. Er fährt einfach weg von dem brennenden Haus. Ich höre ihn ein Lied pfeifen.
Anscheinend geht es ihm gut.