der mann auf dem friedhof
Der Mann auf dem Friedhof
An einem trüben Novembernachmittag fuhr Uschi, eine energische junge Frau um die Dreißig, mit einem Karton voll thailändischen Essens zu einer Verabredung mit einem Fotografen auf den Mainzer Friedhof. Uschi hatte ihn im Sommer auf dem Johannisfest kennengelernt, als er einen Bungee Jump fotografierte und sie ihm ins Bild lief. Nach einer kurzen Plauderei fragte Christoph sie er nach ihrer Telefonnummer und Uschi war sicher, dass er gleich am nächsten Tag anrufen würde.
Doch er brauchte zwei Wochen, bis er sich meldete. Inhalt des Telefonats war eine Verabredung zum Telefonat - er sei auf dem Sprung - habe wenig Zeit - und wie es nächsten Dienstag um sieben wäre? Überrascht fiel Uschi auf ihr Bett: Zum Telefonieren verabreden war ihr neu. Sie sagte dennoch zu, aber Christoph rief am Dienstag nicht an. Erneut verstrichen 10 Tage, dann hatte sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: „´Tschuldigung - dumm gelaufen - bekam er noch eine neue Chance?“ Als sie zurückrief, war er wieder auf dem Weg aus der Tür, aber erleichtert, dass sie nicht sauer war und fragte höflich, ob er morgen um vier anrufen dürfe.
Am nächsten Tag machte Uschi eine Stunde früher auf der Arbeit Schluss und eilte um fünf vor vier durch ihre Wohnungstür - und tatsächlich, Christoph rief an.
„Ich wollte dich nicht verpassen.“ lächelte er. Sie konnte sein Lächeln durchs Telefon hören. Sie telefonierten eine Stunde lang - Uschi auf dem Sofa, auf dem Küchentisch, auf dem Balkon, im Badezimmer - und nahmen alle Themen durch, Familie, Beruf, Freunde. Dann sagte Christoph sehr gut, sehr schön, nun müsse er sie ja wohl mal zum Essen einladen. Uschi blätterte, den Stift schon in der Hand, durch ihren Kalender - da legte Christoph auf. Verblüfft starrte sie auf ihren tutenden Telefonhörer, aber so ging es nun monatelang weiter. Mal rief er an, mal sprach er auf den Anrufbeantworterm mal schickte er eine Mail oder ein Fax; schließlich sogar Briefe. Schöne Briefe waren es, mit Fotos darin, Christoph war ein guter Fotograf und seine Werke schmückten bald Uschis Wände, ohne dass sie ihren Autoren jemals wiedergesehen hätte.
Ab und zu schlich sie abends zu seinem Atelier in der Neustadt, das im Erdgeschoss eines Wohnhauses lag. Sie hatte jedes Mal den festen Vorsatz, ihn zu besuchen, aber dann traute sie sich doch nicht zu ihm hinein, obwohl sein Büro einladend aussah, und er selbst auch, wie er immer Dias prüfte und sortierte.
Eines Tages las Uschi einen Artikel über ihn in der Zeitung: Er hatte eine Ausstellung in einer kleinen Galerie eröffnet, die bei der Kritik positive Resonanz fand; aber ihr, Uschi, hatte er nicht Bescheid gesagt. Nun fand sie ihn defizitär und stellte fest, dass man einen Mann verlassen konnte, ohne ihn jemals gehabt zu haben. Sie stürzte sich in verschiedene Affären, um sich abzulenken: Mit Jan, einem Computerspezialisten, der nicht wusste, wie man mit der Hand schrieb (was sie so abstieß, dass sie sich von ihm trennte); mit Erich, einem Wochenendvater mit Tochter in Berlin, der Uschi - skatend, joggend, fliegend - durch seine Hyperaktivität nervös machte; und mit Hans, mit dem Freunde sie bekanntgemacht hatte und mit dem alles sehr erfolgversprechend verlaufen war bis zu dem Tag, als Uschi herausfand, dass er Angestellter eines Bestattungsinstituts war. Sie hätte sich ohrfeigen können, aber sie konnte unmöglich mit jemandem zusammensein, der Leichen anfasste. Als Freund ja, aber als Liebhaber nein.
In die Nachwehen der Bestattungsinstitutgeschichte hinein platzte eine Karte von Christoph: Schöne Grüße - sicher sei sie sehr böse - und er verdiene natürlich kein Treffen mehr - aber wenn vielleicht doch wider Erwarten noch eine winzige Aussicht auf eine Verabredung bestehe - sei er übermorgen auf dem Friedhof, bei den Gräbern 42. Reihe. Er warte dort auf alle Fälle auf sie und wenn sie käme - womit selbstverständlich nicht zu rechnen sei - wäre es schön, wenn sie etwas zu essen mitbringen würde.
Wieder musste Uschi sich setzen (immer wenn sie eine Nachricht von Christoph erhielt, musste sie sich setzen): Nun hatte sie also einen weiteren Durchgeknallten in ihrer bereits recht umfangreichen Sammlung.
Sie beriet sich am Telefon mit ihrer Freundin Helene. „Finger weg!“ sagte sie, aber Uschis Urteil stand nicht so felsenfest. Sie fand eine Verabredung auf einem Friedhof gar nicht uninteressant; ihr Leben war jedenfalls nicht so reich an spannenden Ereignissen, als dass sie sich diese Gelegenheit hätte entgehen lassen wollen.
Noch einmal ging sie in die Neustadt und schlich sich auf Fußspitzen an Christophs Atelier heran: Aber er machte einen normalen Eindruck, er kopierte, tütete Post ein, kopierte wieder. Nach Hause zurückgekehrt schlug sie im Lexikon den Begriff Nekrophilie nach, Leichenschändung, stand da, beziehungsweise Nekropsie, Leichenöffnung oder Totenschau. Das kann ja heiter werden, dachte Uschi, aber dann verließ sie sich einfach auf ihre Intuition. Christoph war nett, Christoph war witzig, und es war nicht möglich, dass ein orangener Kapuzenpulli auf dunkelblauem Wollrolli lügen konnte.
Nachdem sie an diesem Tag also beim Thailänder den Karton Essen besorgt hatte, fuhr sie - anderthalb Jahre nach dem ersten Treffen mit Christoph auf dem Johannisfest - zum Mainzer Friedhof an der Zahlbacher Straße. Friedhöfe waren etwas sehr Geheimnisvolles, entdeckte Uschi, als sie durch die Reihen ging, und ganz absorbiert von den Geschichten, die die Grabinschriften ihr erzählten, kam sie eine Viertelstunde zu spät in der verabredeten Gräberreihe an.
Christoph saß auf einer Bank „Du bist da!“ sagte er. „Das hätte ich nicht gedacht - hast du keine Angst vor Verrückten?“ Er erhob sich und begleitete sie zur Bank.
„Doch,“ sagte Uschi reserviert, „aber vielleicht hast du ja eine Erklärung, was das mit dem Friedhof hier bedeuten soll.“
Neugierig inspizierte Christoph Uschis Karton. „Das riecht hervorragend.“ befand er. „Wollen wir etwas essen?“
„Sicher, aber ...“
Er packte aus. „Essen auf einem Friedhof hat doch etwas Sinnliches, findest Du nicht?“
„Es geht so.“ meinte Uschi.
Er blickte den Gang hinauf und hinunter. „Was du nur hast! Das ist ein sehr schöner Ort hier mit Bäumen, Sträuchern und kleinen Tieren!“ In Uschis Augenhöhe hüpften ein Rotkehlchen und ein kleiner Dompfaff eifrig von Ast zu Ast.
„O.k., genug gescherzt.“ meinte er, steckte sich einen Satayspieß in den Mund und deutete hinter sich. „Nicht erschrecken bitte - aber ich würde dir gern meine Frau vorstellen. “ Uschi fuhr herum und sah sich einem Sandsteingrabstein gegenüber mit der Inschrift Natalie Krüger, 1967-1999. Ich liebe Dich auf immer, Christoph.
„Ich wollte Dich fragen, wie du das findest.“ sagte er im Karton nach Servietten suchend. „Ob es unüberwindlich schwierig oder Hilfe möglich ist.“ Schüchtern sah er auf seine Schuhe hinab und wartete auf das, was sie sagen würde.
Uschi betrachtete eine Weile die Inschrift, dann zupfte sie ihn freundlich am Ärmel. „Hilfe ist vielleicht möglich,“ meinte sie; und so nahm eine jener raren Liebesgeschichten ihren Anfang, in deren weiterem Verlauf Uschi ihren - dürftigen! - Bürojob kündigen, in Christophs Atelier einsteigen und sich für ihn - der dank ihrer endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte - in fotografisch interessanten Posen von Mainzer Baukränen in die freie Sommerluft hinaus werfen sollte.