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Der Mann Am See
Es ist ein Samstagabend im Sommer. Er sitzt auf einer Bank am See, schaut auf das Wasser und denkt nach. Er hat schon viele Abende in seinem Leben auf dieser Bank verbracht, aber seit ein paar Wochen sitzt er hier und fühlt sich einsam.
Einsam und verlassen. Die Wolken sind heute, wie die letzten Tage davor, völlig weiß und das Einzige was die Oberfläche des Sees färbt, sind die grünen Flecken der Baumkronen, die sich im Wasser spiegeln. Eine Entenfamilie schwimmt heran und der Mann sieht seine Frau, wie sie dort steht. Wie sie kleine Stückchen von einem halben Brotlaib reißt und sie den Enten in den See wirft. Aber die Enten schwimmen achtlos daran vorbei. Sie würdigen der Frau keine Blicke, denn sie steht nicht da. Die Ärzte sagten, es sei Krebs. Der Mann schluckt und er sieht den See wie durch eine schmutzige Scheibe. Er blinzelt. Die verschwommen Konturen schärfen sich und ihm rollen zwei warme Tränen über die Wange. Sie war so eine starke Frau und sie hätte es fast geschafft. Aber dieser verdammte Krebs war stärker als sie. Er hat sie zerfressen. Und mit ihr ging auch sein Leben. Nichts war mehr so wie es sein sollte. Niemand der ihn morgens wachküsst. Niemand, der mit ihm den Sonnenuntergang erlebt. Keine Frau, die neben ihm sitzt, seine Hand in ihrer hält, die Enten füttert. Alles, was bleibt ist der Sonnenuntergang. Der blutrote Sonnenuntergang der den Tag in ein schwarzes Tuch hüllt. Wieder ein blinzeln. Wieder warme, feuchte Tränen. Der Mann sitzt regungslos. Die Hände, mit braunen Flecken, auf seinen Schenkeln. Sein weißes Haar weht leicht im Wind. Er fühlt sich müde. Verlassen. Alleine. Sein starrer Blick ruht auf dem See. Doch dort ist nur seine Frau. An vielen Orten. In vielen Situationen. Ihr Lächeln, der Geruch ihrer Haut, ihrer Haare. Er spürt ihre weichen Lippen auf seinem Nacken. Auf seiner Brust. Wieder schwimmen die schnatternden Enten an der Bank vorbei. Der alte Mann sieht seine Frau. Wie sie kniet. Wie sie sich erbricht. Immer und immer wieder. Der Mann sieht, wie sie neben der weißen Toilettenschüssel liegt. Auf ihrem Kissen das er ihr brachte. Er steht daneben und kann ihr nicht mehr helfen. Er will sie aufrichten, aber sie drückt ihn nur weg. Er weint. Sitzt auf der Bank. Er hört ihr zarte Stimme. Sie sagt das sie ihn liebt. Bis in alle Ewigkeit. Bis das der Tod uns scheidet. Wie in guten, so auch in schlechten Zeiten. Die Bäume rascheln. Ein Blinzeln. Der alte Mann schluckt. Seine Kehle sticht. Er sieht die roten Rosen die er ihr schenkte zu den zahlreichen Anlässen. Zu den Geburtstagen und an Tagen ohne Gründe. Er fühlt ihre Umarmung. Fühlt ihren Herzschlag an seiner Brut. Er riecht ihren Schweis. Er hört wie sie sich windet. Im Schmerz. Der Schmerz der sie nicht schlafen lässt. Hört wie sie schreit. Weil der Krebs sie zerfrisst. Er hält ihre Hand und kann nichts tun. Jogger in sportlichem Outfit flitzen hinter ihm vorbei. Er schließt die Augen. Heiße Tränen. Er ist müde. Unter den Wolken erscheint langsam die rote Sonne, taucht die Bäume in düsteren Schimmer. Die Wellen des Sees glitzern in ihrer Bewegung. Hier und da wärmen sich Mücken. Die letzten Gesänge der Vögel schallen über die glatte Oberfläche. Es wird dunkel. Die Nacht ist warm. Langsam zieht der Mond seinen Kreis über den Himmel. Der Mann sitzt still. Vollmond. Er scheint hell. Es ist ein Sonntagmorgen im Sommer. Der alte Mann sitzt auf einer Bank am See und lächelt. Aber er ist nicht mehr alleine. Nie mehr.