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Der Maelström
„Wenn sie es bei diesem Schneetreiben überhaupt schafft“, dachte Beate und sah besorgt zur Küchenuhr. Ihre Mutter, die über die Osterfeiertage zu Besuch kommen wollte, war seit einer Stunde überfällig.
Sie lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück, zog an der Zigarette, und blies den Rauch laut in Richtung Decke: „Die Schlampe könnte wenigstens anrufen“, zischte sie und schaute dem Wind hinter der verglasten Balkontür dabei zu, wie er dicke Schneeflocken vor sich herjagte.
*
Kurz vor Beginn des ersten Semesters packte Beate ihren Koffer, als plötzlich ihre Mutter im Zimmer stand.
„Um Gottes Willen!“, jammerte sie und schlug ihre frisch manikürten Hände dabei zusammen: „Warum um alles in der Welt hast du dich nur für Philosophie entschieden? Philosophie ist was für Männer. Warum nicht BWL oder Germanistik? Wegen mir auch Physik wie die Kanzlerin. Aber Philosophie?“
„Ach Mama, Frauen studieren doch seit Jahrtausenden Philosophie. Schon in der Akademie von Platon waren welche eingeschrieben.“
„Mag sein, aber sie waren Ausnahmen. Philosophie ist und bleibt eine Männerdomäne!“
„Wenn jeder so denken würde, dann wären Frauen immer und überall nur die Ausnahme in einer Männerdomäne.“
„Das sind sie ja auch, Liebes! Nenn mir nur eine zeitgenössische Philosophin!“
„Hannah Arendt!“
„Eine, die noch unter den Lebenden weilt.“
„Was soll das?“, antwortete Beate verärgert, da ihr keine einfiel: „Findest du es vielleicht gut, dass wir bestenfalls eine Anomalie darstellen, wenn wir nicht gerade Kinder kriegen oder Geschirr spülen?“
„Fang bitte nicht wieder damit an, mir meine Worte im Mund herumzudrehen!“
„Deine Worte?“
*
In die Meisenknödel auf dem Balkon verkrallte sich kopfüber ein Rotkehlchen. Den ganzen Winter über war es ein regelmäßiger Gast gewesen. Mit aufgeplustertem Federkleid sah der Vogel sich erst vorsichtig um, ehe er mit seinem spitzen Schnabel nach Körnern pickte. Im Gegensatz zu den Kohlmeisen kam das Rotkehlchen immer alleine, und Beate fragte sich, wie dieser Winzling es bloß geschafft hatte, ganz alleine die langen, kalten Winternächte zu meistern. Dann, so schnell, wie es gekommen war, schwirrte es durch den dichter werdenden Schnee wieder davon.
„Leise rieselt der Schnee, ...“
Immer wenn es schneite, summte Beate irgendwann dieses Weihnachtslied. Sie stand auf, öffnete die Balkontür, schloss die Augen, und hörte ganz genau hin. Nichts! Überhaupt nichts! Nicht leise, sondern lautlos fiel er: „Wie viele Tonnen heute wohl schon herabgefallen sind, ohne auch nur einen einzigen wahrnehmbaren Ton zu erzeugen?“, fragte sie sich.
Als sie nach kurzer Zeit vor Kälte zu zittern begann, schloss sie die Balkontür wieder und setzte sich zurück an den Küchentisch. Sie bemerkte, dass das Knarren des Stuhles bei Weitem lauter war als der fallende Schnee. Ebenso die Geräusche, die entstanden, wenn sie einen Schluck Kaffee trank. Auch das Ziehen an der Zigarette, der zwitschernde Protest einer aufgeschreckten Amsel im Hof und die Schritte der Nachbarin, die über ihr in der Küche herumhantierte, waren im Vergleich zu den ungezählten Tonnen Schnee, der vom Himmel auf die Erde fiel, ein ausgemachtes Klangspektakel.
Doch unhörbar für sie flog die scheinbar endlos dunkle Wolkendecke über den Himmel. Ebenso drehte sich die Erde in absoluter Stille um ihre eigene Achse: „Und habe ich je meine Körperzellen arbeiten gehört, die doch insgesamt zahlreicher als alle Sterne in allen Galaxien zusammen sein sollen?“, fragte sie sich. „Oder die Abermilliarden Bakterien, die tagaus, tagein in den Blumentöpfen auf dem Regal ihrem Tagewerk nachgehen?“
*
„Ach Kind, kein Mann wird dich heiraten, wenn er erfährt, dass du Philosophie studierst“, seufzte ihre Mutter: „Sie werden denken, du seist schwermütig. Sie werden denken, sie müssten den ganzen Tag mit dir diskutieren.“
„Vielleicht will ich gar nicht heiraten.“
„Jetzt redest du aber Unsinn! Du wirst doch heiraten? Oder?“
„Ich weiß nicht? Eigentlich habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht.“
*
Wieder sah Beate zur Uhr: „Verspätungen sind eigentlich nicht ihre Sache.“ Erneut versuchte sie ihre Mutter über das Handy zu erreichen. Vergeblich: „Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar.“
Sie steckte sich erneut eine Zigarette an, und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee aus der Thermokanne nach. In Gedanken sah sie sich am Rand der steilen Klippe bei den Lofoten stehen, die Poe in „der Maelström“ beschrieben hatte. Sie starrte hinab in das kreisende, wild schäumende, tintenschwarze Meer, das einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte.
„Er ist nichts gegen den still rotierenden Maelström, der uns umgibt“, dachte sie. „Ganze Gebirge von Materie versetzt er. Doch niemand nimmt ihn wahr, und daher lässt er auch niemandes Haare ergrauen.“
Pyrrhon von Elis trat plötzlich neben sie an den Klippenrand, erhob ehrfurchtgebietend die Hände und rief: „Weder interessiert mich, welche Winde Hellas beherrschen, noch wie Entstehen und Vergehen vonstattengehen.“ Dann stürzte er sich hinab. Noch eine Weile sah Beate ihm nach, wie er gemächlich durch die Gischt sprühenden Wellenkämme watete, als seien sie nichts weiter als eine Wasserpfütze.
„Poe, Pyrrhon und ich auf einer Klippe? Bin ich vielleicht doch schwermütig?“
Sie zog die Ärmel ihres Pullovers hoch und sah sich die beiden Narben an, die sich rosarot leuchtend von der Innenseite ihrer Handgelenke in Richtung Armbeuge zogen.
„Wie die Haut eines Neugeborenen. Ich war so gut wie tot! Doch dank dieser Narben bin ich wiedergeboren.“
*
„Du bist verrückt, Kindchen! Wie konntest du Peter nur den Laufpass geben?“, sagte ihre Mutter.
„Er hat doch mir den Laufpass gegeben, Mama.“
„Er war doch so gebildet, so vornehm, so ...“
„So ein Betrüger!“, unterbrach sie ihre Mutter.
*
Wieder schaute sie zur Uhr: „Wo bleibst du denn?“
„Wie viel von dem Geschehen in meiner Umgebung nimmt der Hörsinn wahr?“, fragte sie sich. „Ein Prozent? Eine Promille?“ Sie zuckte mit den Schultern: „Aber wie eingeschränkt wäre mein Leben ohne den Hörsinn? Weder dem Säuseln des Windes, noch dem Prasseln des Regens könnte ich lauschen. Nie den Stimmen lieber Menschen zuhören. Und wie nur soll ich ohne Musik leben?“
Ihre Gedanken begannen um die anderen Sinne zu kreisen, und sie erinnerte sich, wie sie letzten Sommer stundenlang die Sonne beobachtete. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass sie eigentlich still am Himmel stand, während die Erde sich drehte:
„Die Augen sind dazu da, um sich beim Nüssesammeln nicht den Kopf an einem Ast zu stoßen, und nicht dafür, um die Wahrheit zu schauen. Immer wird die Sonne auf- und untergehen für die Menschen! Nie wird sich die Erde um ihre eigene Achse drehen!“
Sie überlegte eine Weile hin und her und beschloss den Tastsinn zum König der Sinne zu krönen: „Was fühle ich nicht alles? Kälte und Wärme, Schnee und Regen, Schmerzen und wohltuende Berührungen.“
Doch auch dieser Sinn, gestand sie sich nach weiterem Nachdenken ein, konnte täuschen. Fühlte sie nicht ihre Liebe zu Peter in ihrem Kopf, auf ihrer Haut, in ihrem Herzen?
„Was ist eine solche Liebe wert, wenn sie nicht erwidert wird? Ist das überhaupt Liebe oder nicht vielmehr Wahnsinn? Oder war es Wahnsinn von ihm, meine Gefühle nicht zu erwidern?“
*
„Die Macht der Liebe kann so vieles erreichen, Kindchen.“
„Sei still!“, schrie sie ihre Mutter an.
*
„Aber sie hat ja recht!“, dachte Beate traurig. „Hätte ich ihn nicht so geliebt, er wäre sicher nicht zwei Jahre bei mir geblieben. Wahrscheinlich hätte er sich schon nach dem ersten Monat auf und davon gemacht.“
Sie ballte die Fäuste und starrte ihre Narben an:
„Alles, alles, alles habe ich getan! Alles! Alles was in meiner Macht stand! Alles! Dieser Bastard! Was er jetzt wohl macht?“
Sie hasste ihn und hätte ihn gleichzeitig doch so gerne wieder zurückgehabt.
*
„Wenn er dich liebt, dann klappt das auch“, sagte ihre Mutter.
„Wenn, wenn, wenn! Natürlich hätte es geklappt, wenn er mich geliebt hätte.“ Wütend sah sie ihre Mutter an: „In Wirklichkeit bin ich diesem Bastard doch völlig egal. Und wenn er tausendmal sagt, er liebt mich: Er tut es nicht.“
„Liebes, übertreibst du da nicht ein bisschen? Warum sollte Peter so etwas sagen, wenn er es nicht ernst meint?“
„Du bist manchmal so naiv Mama!“
Beate verstand nicht, warum ihre Mutter nicht einsehen wollte, dass Peter ein Lügner war. Dass es überhaupt Menschen gab, die ganz bewusst lügen. Falsche Menschen, die irgendwelche Tatsachen vorspiegeln, um daraus ihren persönlichen Vorteil zu ziehen.
*
„Aber vielleicht hat er mich ja doch geliebt“, dachte sie jetzt. „Doch eben nicht so sehr wie ich ihn.“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf: „Es ist die Hölle, wenn man mehr liebt als der andere.“
In Gedanken sah sie, wie die Gezeiten des frühkambrischen Meeres kugelige Einzellerklümpchen durch die Welt schaukelten. Die einzelnen Zellen eines dieser Klümpchen waren zwar spezialisiert, bildeten jedoch zusammen weder ein Individuum, noch konnten sie unabhängig voneinander leben.
„Die Vorfahren der ersten Tiere.“
Einige Zellen nahmen sich der Sonne, andere den Gerüchen, wieder andere dem Schall, oder den direkt an ihre Außenhülle angrenzende Umgebung an. Nasen, Augen, und Ohren waren nichts weiter als die fleckigen Bestandteile der zukünftigen Haut.
„Wie siehst du die Welt?“, fragte Beate eines dieser Geschöpfe.
„Wir fühlen deine Worte“, antwortete es. „Wir fühlen die Sonne und den Mond. Wir fühlen den Geruch des Meerwassers, durch das wir schweben, und den Geschmack der Dinge, die wir auf unserer Reise zu uns nehmen. Wir fühlen die Welt.“
Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser waren jetzt vom Schnee weiß eingefärbt. Sie stand auf, ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne einlaufen.
„Alles begann mit dem Fühlen“, dachte sie, legte den leeren Tablettenstreifen auf die Waschmaschine, steckte sich eine Zigarette an und stieg in die Wanne. „Die Sinnesorgane sind eine ganz spezifische Zellanreicherung, die ursprünglich dem Fühlen diente. Eine Hunderte von Millionen Jahre alte Entwicklung haben sie zu dem gemacht, was sie heute sind.“
Sie lag schon eine Weile in der Wanne, als es an der Tür klingelte:
„Ach Mama, ich bin so müde“, sagte sie leise und blieb liegen: „Die Welt offenbart sich uns nicht mehr als einer Seeanemone, einer Eidechse oder einer Schneeflocke.“
Kurz darauf klingelte ihr Handy.
„Lass mich etwas schlafen, Mama.“
Ihre Augen fielen zu. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das laute Krachen ihrer Haustür zu hören war und Sanitäter sie aus dem von ihrem Blut gefärbten Wasser zogen.
„Bitte nicht!“, flüsterte sie, als ihre Arme abgebunden wurden.
„Das dürfen wir leider nicht“, antwortete ein Notarzt lächelnd. „Wir würden unsere Zulassung verlieren.“
Verschwommen sah sie in der Tür ihre Mutter stehen.
„Ich bin Philosophin“, sagte Beate mit letzter Kraft.
„Das bist du!“, antwortete sie und begann zu weinen.