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Der Mückenstich

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25.03.2002
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Der Mückenstich

Der Mückenstich

Es geschah im Mai 1999 und Stavros, der Witwer, hatte seinen 75. Geburtstag, als sich meine kunstvolle Hochsteckfrisur im Reißverschluß seiner dunkelblauen Ausgehhose verfing. Wie bei jedem traumatischen Erlebnis steht mir jede Einzelheit des katastrophalen Ereignisses mit glasklarer Präsenz vor Augen: Die fette Mücke, die auf meinem linken Fuß Position bezog, um ihren blutrünstigen Rüssel in meinen Fleisch zu versenken, die Versammlung der kretischen Kinder auf der Bühne der kleinen Schulaula von Ano Viannos, das Durcheinandergeschreie der aufgeregten Eltern, die sich um die besten Plätze stritten und schließlich Stavros warmes Lächeln, sein mir zugewandtes Gesicht. Als das Licht im Saal erlosch und der Kameramann, der sein Equipment direkt neben uns aufgebaut hatte, sein Augenmerk auf die Lehrerin, Frau Raptakis richtete, die das Theaterstück “Alle Völker werden eins” mit ein paar einleitenden Worten eröffnete, stach die Mücke zu.
“...so verneigen wir nun in freudiger Erwartung unser Haupt...”
sprach Frau Raptakis und ich tat wie mir geheißen, indem ich mich hinabbeugte, um das Insekt mit einem gezielten Schlag auf den Kopf zu erledigen. Mein Psychoanalytiker überzeugte mich später und unter großen verbalen Anstrengungen davon, daß die Mücke nicht zu Gefühlen wie Schadenfreude fähig ist. Noch heute meine ich aber, ein vergnügtes Aufblitzen in den Tiefen ihrer Facettenaugen erkannt zu haben, als mein Schlag sie verfehlte und mein Haar beim Aufrichten auf halber Höhe mit Stavros Reißverschluß eine bombenfeste Verbindung einging. Es lag wohl an der Dunkelheit und dem geringen Gewicht meiner verfangenen Haarpracht, daß Stavros nicht sofort bemerkte, was sich unmittelbar unter seinem Hosenbund abspielte. Mein erster Versuch mich zu befreien, ging unter dem tosenden Applaus der Menge unter. In die darauffolgende Stille trat die kleine Maria auf die Bühne. Zwischen dem kleinen Spalt der vorderen Stuhllehnen hindurch konnte ich beobachten, wie das Mädchen verzweifelt seinen Mund öffnete und schloß, um ein kretisches Gedicht vorzutragen, doch es brachte keinen einzigen Ton hervor. Als Maria völlig verängstigt in Tränen ausbrach und von der Bühne floh, räusperte Stravros sich lautstark und murmelte:
“Das arme Ding, wie schrecklich!”
“Glaub mir, Stavros, wenn du nur kurz nach unten schaust, wirst du sehen, daß es viel Schrecklicheres gibt”,
entgegnete ich ihm aus der Höhe seines Schoßes. Als Stavros Augen hinabblickten und die Größe von Mühlrädern annahmen, wußte ich, daß er das ganze Ausmaß der Katastrophe auf einen Blick erkannt hatte.
“Was machst du denn da, Kindchen?”
flüsterte er erschrocken und schaute mit wildem Blick um sich.
“Ich bewundere nur deine Bundfalte aus der Nähe, Stavros. Befrei mich um Himmels willen, mein Haar hängt in deinem Reißverschluß fest. Oh je, ist das peinlich!”
wisperte ich und wünschte mir einen schnellen Tod. Stavros Sitznachbar, ein Kreter im mittleren Alter mit enormen Augenbrauen, hatte längst das Interesse am Theaterstück verloren und grinste mich schmierig von oben herab an. Hektisch begann Stavros, erst an meiner Hochsteckfrisur und dann an seiner Hose zu zerren. Es tat sich gar nichts. Als die Menge applaudierte, nutzte ich den Lärm und sprach im Befehlston die Worte aus, die der alte Mann das letzte Mal in seinem Leben aus dem Mund einer jungen Frau hören würde:
“Öffne deinen Reißverschluß, sonst werde ich verrückt!”
Auf der Bühne sangen die zwei pummeligen Fragonikolaki-Geschwisterchen das Lied der Völkerverständigung:
“...kommt zusammen jung und alt...!
Viele der Eltern brachen in ungehemmtes Schluchzen aus.
“Oh, nein!”
stöhnte Stavros und wechselte die Gesichtsfarbe.
“Das werde ich ganz bestimmt nicht tun, Kindchen. Meine liebe Frau wird sich im Grabe herumdrehen.”
“Wir werden deiner lieben Frau bald Gesellschaft leisten, wenn das Licht angeht und sie uns hier so sehen. Also hör auf zu reden und mach endlich die verfluchte Hose auf, bevor die Pause beginnt”,
zischte ich zornig zurück. Der Kreter mit den buschigen Augenbrauen grinste breit und bekam große Augen, als Stavros zögerlich den Reißverschluß seiner Ausgehhose öffnete. Er stieß ein lautes “παναγία μου!” (Heilige Mutter Gottes!) hervor und zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf uns. Der Kameramann machte geistesgegenwärtig einen schnellen Schwenk und filmte uns aus der Totalen, um das Ereignis für die Nachwelt zu bewahren. Das Lied der Völkerannäherung verstummte jäh und in der Aula entstand eine ungesunde Unruhe. Irgendwann konnte ich mich aus Stavros Schoß befreien und richtete mich erschöpft aber erleichtert auf. Nicht alle Mütter zeigten mit dem spitzen Finger auf mich. Manche verließen einfach erzürnt den Saal. Andere wiederum spuckten Olivenkerne auf mein Kleid. Wir genossen uneingeschränkte Aufmerksamkeit und verschwanden erst nach 2 Wochen aus der Gesellschaftsspalte der Regionalpresse. Stavros leistete in allen Kapellen der Umgebung Abbitte und spendete dem Verein der schönen Künste Unsummen für die Förderung talentierter Nachwuchsschauspieler. Später erfuhr ich, daß er Kreta verlassen und nun in Saudi Arabien an einem kleinen Marktstand luftige, handgestickte Herren-Kaftane ohne Reißverschlüsse verkauft. Dank der plastischen Gesichtschirurgie erholte ich mich relativ schnell von der gesellschaftlichen Hetzjagd auf meine Person und trage mein Haar unverfänglich kurz.

 

wieder einmal ein humor-beitrag, der sich mE in die satire rubrik verirrt hat.

lass es erst mal zu 'humor' verschieben, dann bin ich auch gerne zu einer kritik bereit ;)

grüße,
franzl

 

Hallo Majissa,

jo, denn erstmal herzlich Willkommen auf kurzgeschichten.de, und viel Spaß bei meiner nachfolgenden Kritik :D .
Tja... also wie schon mein Vorredner andeutete, um eine Satire handelt es sich nicht, es fehlt die Verfremdung der Situation. Eine Frau klemmt in einer für hochzüchtige Menschen zweideutig sexuell aussehenden Situation fest. Das ist was Normales, nicht, dass ich behaupten will, das passiert exakt so überall und täglich, aber Verfremdung eines normalen Sachverhaltes heißt ja noch nicht, dass es reicht, dass er sich in seiner Seltenheit erschöpfen kann.


Tröste dich jedoch Marjissa, ich denke, deine Geschichte ist noch von allen, diejenige, die ich am ehesten als Satire durchgehen ließe. Eine Satire zu schreiben, ist verdammt schwer.

Die Geschichte gehört aber eindeutig in die Rubrik Humor. :)

Noch eines hat mich am Sachverhalt selbst gestört,nämlich, dass ich mir leider nicht richtig vorstellen konnte, wie Haare in einen Reißverschluß gelangen können, der ja wohl geschlossen war oder habe ich da was nicht mitbekommen?
:confused:


Wie auch immer, nun zum Schluß die positive Kritik: ich fand deine Geschichte sehr, sehr witzig, und flott und spritzig geschrieben. Ich habe sie gern gelesen. Du hast zügig die Atmosphäre, also die Einrahmung für deine Geschichte geschaffen, ohne dass es auch nur ansatzweise zu langweilig wurde und die Personen gut beschrieben.

Weiter so!

Gruß elvira

 

Hallo,
als Neuling auf dieser vorzüglichen Webpage freue ich mich besonders, dass die dritte Kurzgeschichte, die ich hier gelesen habe, annähernd ernstzunehmendes Format aufweist. Na, ich will mal drauflegen: eine Geschichte, die wirklich unterhaltsam ist und einen nicht zu diesem skeptischen Gesichtsausdruck verführt, der der Frage Ausdruck verleiht, meint der Autor das Ernst?
Wirklich amüsant! Und ob nun Satire oder Humor, naja, da freu ich mich viel lieber über die erlittene Unterhaltung

 

Kalimera Majissa,

du hast es wohl mit dem Griechischen, habe ich Recht?

Also, Satire kann ich leider in der Geschichte auch nicht erkennen, wenn man einmal davon absieht, dass wir Menschen dazu neigen, vorschnelle Urteile abzugeben ohne daran zu denken, dass Dinge oft anders liegen als es auf den ersten Blick aussieht. Doch dafür war die Situation nicht "bissig" genug geschildert.

Dafür ist dir aber - im Gegensatz zu vielen anderen humorlosen Stories im Humor-Forum - eine Geschichte gelungen, die mich während des Lesens auf dem Sessel herumrutschen und auf die Lippen beißen ließ, um nicht loszukichern. Peinlicherweise habe ich im Büro gelesen, und mein Vis-a-vis hat mich schon ganz komisch angeguckt.

Ich freue mich schon auf die nächsten Geschichten, und herzlich Willkommen.

P.

@lakita:
Es kommt auch öfter vor, dass ein Hosenreißverschluß nur ein ganz kleines Stückchen offensteht (besonders, wenn man zu einem Bauch neigt). Ist mir schon passiert, und meinem Mann auch.
Dir echt noch nie?!

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 26.03.2002 um 09:22]

 

ja, auch ich halte die geschichte für gelungen.

und ganz besonders positiv aufgefallen ist mir, dass man den eigenen humor der autorin mitbekommt, sich also schon ein eigener stil finden lässt.

das einzige was ich anders gemacht hätte, wäre der schluss, der meines erachtens etwas zuviel mit pointen ausgeschlachtet wurde. ich bin ein fan von einem einzigen schlussatz, und nicht von mehreren. die eine oder andere pointe streichen also in etwa so:

Später erfuhr ich, daß er Kreta verlassen und nun in Saudi Arabien an einem kleinen Marktstand luftige, handgestickte Herren-Kaftane ohne Reißverschlüsse verkauft und ich trage mein Haar seither unverfänglich kurz.

ist aber nur ein schneller vorschlag, kann ma sicher besser machen. ich finde halt nur den schluss etwas pointenüberladen.

auf jeden fall so oder so eine lustige und gelungene KG als einstieg!

liebe grüße,
franzl

 

Na, dann werde ich mal einen Gegenkommentar abgeben. Erstmal herzlichen Dank an alle, die mich so nett bei Kurzgeschichten.de begrüßt haben.

Meine Geschichte passte natürlich nicht unter die Rubrik "Satire". Es handelte sich um ein kleines Versehen.

Elvira, wenn du die kretische Dorfbevölkerung und ihre Kleidung siehst, wird dir klar werden, daß vieles, was verschlossen sein sollte, allzuweit offensteht. Danke für dein nettes Lob.

Caesar, schön, daß du unter meinem Humor so sehr "gelitten" hast.

Pipilasovskaya, Kalispera, ja ich bin Grecophil und stehe dazu. Wenn ich dich zum Lachen bringen konnte, noch dazu im Büro, freue ich mich sehr darüber.

Franzl, vielen Dank für dein Lob. Auch wenn dir der Schluss zu Pointenreich erschien, werde ich ihn nicht abändern. Denn das ist schließlich mein Stil und wenn es mit mir durchgeht, geht es eben durch. Das ist nun mal so. Natürlich ist weniger manchmal mehr, aber ich denke, daß dem Humor dadurch keinen Abbruch getan wird.

Liebe Grüße an alle
Majissa

 

Hi Mejassa !

Ich habe mich köstlich über Deine Geschichte amüsiert.
Beinahe wäre es mir genau so ergangen wie Pipilasovskaya. Nach den ersten Sätzen habe ich die Geschichte allerdings ausgedruckt und in der Mittagspause gelesen. So konnte wenigstens niemand mein Gesicht sehen als ich vor mich hin grinste.

@Pipi
Nächstes mal besser ausdrucken und ihn Ruhe lesen. So erspart man sich unverständliche Blicke seiner Mitmenschen :D

Die plastische Gesichtschirurgie fand ich etwas übertrieben. Aber der Schluss an sich gefällt mir trotzdem.

Dein Schreibstil hat was. Nicht schlecht! Ich konnte mir das ganze bildlich sehr gut vorstellen.

Gruß

L.o.C.

 

hehe, danke L.o.C, dass du auch die gesichtschirurgie weglassen würdest, das ist nämlich genau der verbesserungsvorschlag, den ich zitiert habe ;)

und Majissa: so wie dus für am besten hälst, sollst du es machen, keine frage; ich übernehm auch nur jene sachen der kritik, die ich angebracht finde. mehr als vorschläge machen, kann man von einem armen kritik-würstchen ohnehin nicht verlangen :D

liebe grüße,
franzl

 

@franzl
Na ja. Heraus gelesen habe ich ja nicht gerade, daß du speziell auf die Gesichtschirurgie hinaus wolltest. :)
Aber schön das wir darüber gesprochen haben und einer Meinung sind. :D

 

Liebe L.o.C., lieber Franzl,

danke nochmals.
Nun aber werde ich unerträglich harmonisch und teile euch mit, daß die Gesichtschirurgie absolut übertrieben und überflüssig ist.

So sind wir alle einer Meinung...schön :D

Liebe Grüße
Majissa

 

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