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Der Lottoschein
Wie zur Salzsäule erstarrt saß ich auf der Couch und hielt den Blick ungläubig auf den Fernsehbildschirm gerichtet. Die Lottoziehung war bereits seit einigen Minuten beendet und wurde abgelöst durch irgendeinen deutschen Fernsehkrimi, dem ich kaum Beachtung schenkte. Mein Gehirn weigerte sich, einen klaren Gedanken zu fassen, während ich die Augen herunter zu dem Lotterieschein in meinen Händen wandern ließ. „Reich!“, platzte es dann aus mir heraus. „Ich bin reich!“ Nur langsam sickerte diese Tatsache in mein Bewusstsein. Ich las die sechs Zahlen immer und immer wieder und mit jedem Mal nahm diese Feststellung in meinem Kopf greifbarere Formen an. „Ich bin reich.“, wiederholte ich und spürte, wie dicke, heiße Tränen meine Wangen herunterflossen. Ich drückte den Schein an meine Brust und brach dann in ein erleichtertes Schluchzen aus. All die Probleme nach der Scheidung, die Unfähigkeit als selbstständiger Künstler Unterhalt für meinen Sohn zu zahlen, die Rechnungen, die sich auf meinem Schreibtisch häuften, das alles gehörte nun endgültig der Vergangenheit an. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man realisiert, dass all die Probleme, die man hatte mit einem einzigen Schlag ausradiert wurden. Fast so, als würde man aus einem Alptraum erwachen.
Ich wollte am liebsten aufspringen und meinen Gewinn auf der Stelle abholen, aber es war schon spät und die Annahmestelle hatte bereits geschlossen. Also beschloss ich, zu feiern. Allein. Ich bestellte mir eine Familienpizza, zwei Flaschen billigen Rotwein und suchte mir einen Film auf Netflix heraus. Ich würde meinen Nebenjob kündigen, vielleicht endlich das Buch schreiben, das schon so lange in meinem Kopf herumschwirrte. Vielleicht würde ich auch ein Instrument spielen lernen. Cello oder Saxophon. Oder beides! Ein Auto! Ich würde mir ein Auto kaufen! Einen alten Plymouth Fury, wie in diesem Film mit dem Geisterauto, das Menschen umbrachte! Und ein Haus am Strand, irgendwo auf Teneriffa. Die Endorphine strömten durch meinen Körper und ich verspürte den unbändigen Drang, der Welt mein Glück mitzuteilen. Ich griff nach meinem Handy und fotografierte die sechs Richtigen, um das Bild dann auf allen mir verfügbaren Social-Media-Kanälen hochzuladen. Dazu formulierte ich natürlich eine eloquente Unterschrift:
„Auf Nimmerwiedersehen, Mittelschicht! Hallo Upper Class! #lotto #reich #sechsrichtige #kündigungistraus“
Es dauerte nicht lange, bis das Internet auf meine große Ankündigung reagierte. Innerhalb kürzester Zeit sammelten sich unter meinem Foto unzählige Kommentare. Die meisten davon waren Glückwünsche, aber auch einige nicht ganz ernst gemeinte Heiratsanträge waren dabei. Ich lachte. Zumindest solange, bis ein Freund von mir schrieb:
„Noch hast du das Ding ja nicht eingelöst. Vielleicht statte ich dir einfach einen Besuch ab, wenn du schläfst.“
Ich wusste, dass es ein Scherz war, aber die Nachricht brachte mich dennoch zum Nachdenken. Was, wenn irgendjemand, der das Foto sah, beschloss, mich meines Gewinns zu erleichtern? Als freier Fotograf hatte ich auf all meinen Social-Media-Kanälen auch meine Website verlinkt. Und auf meiner Website fand sich natürlich ein Impressum. Ein wenig bereute ich, dieses Foto online gestellt zu haben, aber ich stempelte meine negativen Gedanken als irrationale Paranoia ab. Doch die Scherze gingen weiter. Fremde Menschen, die nur über die Hashtags auf mein Foto gestoßen waren, kommentierten das Ganze.
„Ich teile 50/50 mit der ersten Person, die mir die Adresse gibt! Haha!“
„Mutig, sowas einfach online zu stellen.“
Eine der Nachrichten wirkte besonders ominös und bedrohlich.
„Schließ heute Nacht besser deine Tür ab.“
Ich nahm an, es war nur ein gut gemeinter Ratschlag, was allerdings nichts daran änderte, dass sich ein flaues Gefühl in meinem Bauch ausbreitete. Unweigerlich musste ich an diesen einen Alanis Morissette Song denken. He won the lottery and died the next day. Die ursprüngliche Euphorie wich nun langsam einer ängstlichen Unruhe. Wie sehr vertraute ich meinen Freundinnen und Freunden? Wäre irgendwer von ihnen in der Lage dazu, mich zu bestehlen oder mir eventuell gar etwas anzutun? Ich glaubte es nicht, aber ein paar Restzweifel bissen sich irgendwo im hintersten Teil meines Hirns fest und wollten einfach nicht verschwinden. Ich stand auf, schloss die Wohnungstür zweimal ab und schob die Kette vor, ehe ich schnurstracks zurück zur Couch ging, um mich zu setzen. „Das reicht nicht.“, murmelte ich zu mir selbst. Ich musste im Prinzip nur bis morgen durchhalten. Dann wäre das Geld auf meinem Konto sicher und niemand würde versuchen, mir meinen Gewinn streitig zu machen. Schlaf konnte ich für diese Nacht allerdings erst einmal vergessen, so dachte ich. Erneut erhob ich mich und sah mich im Wohnzimmer um. Ich lebte im Erdgeschoss. Es reichte wirklich nicht, die Tür abzuschließen. Die großen Fenster, die die Wohnung tagsüber so hell und einladend machten, boten einen bedrohlichen Ausblick rund um das Haus. Theoretisch konnte von überall jemand eindringen, wenn er oder sie es nur darauf anlegte. Ein Stein, ein Hammer, eine Brechstange. Ganz egal. Es war nur Glas. Eine unsichtbare Barriere, die einem die Illusion von Sicherheit vermittelte. Ich zog die Vorhänge zu, um die Welt draußen zumindest ausblenden zu können, doch danach fühlte ich mich nur noch verletzlicher, weil ich nicht kontrollieren konnte, wer sich dem Haus näherte. Also zog ich die Vorhänge wieder auf, musste jedoch feststellen, dass es mittlerweile so dunkel geworden war, dass ich im Fenster nicht viel mehr als meine eigene Reflektion sah. Also doch Vorhänge zu. Wieder taperte ich zurück zur Couch und ließ mich fallen. Verzweiflung wallte in mir auf. Es war still. Zu still, dachte ich. Sonst lief die Waschmaschine der Nachbarn über mir um diese Uhrzeit im Schleudergang. Für gewöhnlich regte ich mich darüber immer auf, aber nun wünschte ich mir nichts sehnlicher, als das altbekannte Wummern über mir zu hören, einfach nur um ein Stückchen Normalität zu fühlen. Diese Wohnung wirkte mit einem Mal irgendwie bizarr und fremd. Fast schon gefährlich. Ich blickte erneut aufs Handy. Dreißig neue Nachrichten. Die Menschen schrieben mir, wollten mit mir feiern gehen. Arschkriecher, dachte ich. In Wirklichkeit wollte doch keiner von ihnen wirklich mit mir zu tun haben. Sie wollten nur in meiner Gunst stehen. Sie wollten mein Geld! Mein Geld! Und wieder stand ich, als ich ein Geräusch hörte. War das ein Auto das vorfuhr? Ich eilte in die Küche und holte aus einer der Schubladen ein Messer hervor und blieb in einer Ecke des Raumes stehen. Von dort aus konnte ich die Fenster und die Tür sehen. Wenn jemand einbrach, würde dieser Dummkopf schon sehen, was er davon hatte!
Ding dong
Es klingelte an der Tür. Ich zögerte einen Augenblick. Einbrecher klingelten nicht. Vermutlich war es nur der Pizzabote. Ich schlich so leise wie möglich in Richtung Wohnungstür, hielt jedoch bereits nach zwei Schritten wieder inne. Oder wollte der Einbrecher nur, dass ich mich in Sicherheit wiegte? Es fiel mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen, ohne dass er mir direkt wieder entglitt. War ich paranoid? Oder war ich einfach nur gewieft genug, nicht auf diesen Trick hineinzufallen? Fest umklammerte ich den Griff meines Messers. Meine Hände schwitzten, mein Atem ging flach und ich zitterte. Ich hatte das Geld nicht verdient! Nicht wirklich! Daran lag es! Menschen wie Bill Gates und Elon Musk hatten hart für ihren Reichtum gearbeitet. Ich hingegen… nun, ich hatte nichts tun müssen, außer ein paar Kreuze auf ein kleines Stück Papier zu malen. Darum gönnten sie mir mein Glück nicht. Darum wollten sie mich bestehlen! Sie waren neidisch!
Ding dong ding dong
Erneut klingelte es, diesmal mit mehr Nachdruck. Dann klopfte es an der Tür und ich hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde. Gott sei Dank hatte ich abgeschlossen. Erneut Klopfen. Es wurde lauter. Immer lauter. Ich begann erneut zu weinen, diesmal jedoch nicht aus Freude. Geh weg, wollte ich schreien, aber stattdessen entrann mir nur ein heiseres Flüstern. Dann plötzlich: Stille. Erneut hörte ich das Auto von zuvor, das sich nun wieder entfernte. Panisch rannte ich zum Fenster und lugte durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen nach draußen. Es war tatsächlich nur der Pizzabote gewesen, der nun (vermutlich schlecht gelaunt) davonfuhr. Ich atmete durch, besah das Messer in meinen Händen und brach erneut in Tränen aus. Was war los mit mir? Das war doch verrückt! Ich verhielt mich verrückt! Jegliche Spannung von zuvor fiel von mir ab und von oben hörte ich nun doch das altbekannte Wummern der Waschmaschine. Ich ließ mich auf den Küchenboden fallen und schloss die Augen. Nur langsam entspannte ich mich, doch ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit schmerzenden Gliedern und steifem Nacken. Ein peinvolles Ächzen entrang mir, als ich mich aufsetzte. Dann erst realisierte ich, in welcher Situation ich mich befand. Sofort sprang ich auf und eilte ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zu, der Fernseher lief noch immer und auf dem Tisch lag der Lottoschein, den ich bei all der Panik vergessen hatte, einzustecken. Auf meinem Handy hatte ich mittlerweile über zweihundert Nachrichten. Ich schaltete das Telefon aus. Ich kam mir albern vor. Leise lachte ich über mich selbst. Geld löste offenbar doch nicht alle Probleme. Es war an der Zeit den Albtraum der Nacht zuvor hinter mir zu lassen. Ich putzte mir die Zähne, duschte den Schweiß der letzten Nacht ab und machte mir Frühstück. Während die Eier vor sich hin brutzelten und nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wurde ich nun doch neugierig. Ich schaltete das Handy wieder ein und scrollte durch die unzähligen Facebook- und Twitter-Benachrichtigungen. Im Tageslicht wirkten die dummen Scherze weniger bedrohlich. Doch eine Nachricht war dennoch seltsam. Sie kam von einer fremden Nummer. Vielleicht hatte wirklich jemand mein Impressum gefunden und sich einen Spaß mit mir erlaubt? Ich holte Besteck aus der Schublade und erstarrte plötzlich. Erst jetzt bemerkte ich, was ich übersehen hatte und ich verstand, was mir die Nachricht sagen sollte. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Hektisch suchte ich die Küche ab. Die Theke, den Fußboden, die Schubladen. Das Messer. Es war weg. Ungläubig las ich die Worte immer und immer wieder:
„Du solltest dankbar sein.“