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Der Liebende
Zum ersten Mal seit über 20 Jahren bin ich nun in meine alte Heimatstadt zurückgekehrt.
Alles hat sich verändert.
Ich habe mich verändert.
Mir ist noch immer bewusst, wie ich damals die Leute hier verdammt habe. Ich gönnte ihnen nicht ihr kleines tägliches Glück. Ihr Lächeln verfluchte ich, ihre Vitalität machte mich krank. Scheinheilig erschien mir ihre Freundlichkeit, ihre vielen Worte sinnlos und ihre Einstellungen verdreht.
Ich folge dem gepflasterten Weg bis zum alten Marktplatz. Die alten hohen Gebäude sehen noch so aus wie damals. Lediglich die Fassaden sind bunter, aufdringlicher. Fast sehnsüchtig versuche ich, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Doch ich bin umgeben von Fremden, die mich nicht einmal wahrnehmen als wäre ich unsichtbar.
„Fynn! Ich glaube es ja nicht, bist du das wirklich?“ Eine glockenhelle Stimme reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Langsam und zögerlich wende ich mich der Stimme zu. Sie gehört einer großen schlanken Frau mittleren Alters. Ihr Gesicht kann ich erst erkennen, als ihr der Herbstwind für einen Moment die üppige gesträhnte Haarpracht aus dem Gesicht weht. In der einen Hand hält sie drei Einkaufstüten, an der anderen klammert sich ein missmutig dreinblickender kleiner Junge fest. Natürlich erkenne ich sie wieder. „Isabella, das ist ja eine Überraschung!“ Ich versuche, die Worte ganz leicht und locker klingen zu lassen, völlig unverkrampft. Doch ich kann die vergangenen Ereignisse nicht völlig ausblenden, dafür waren sie einfach zu prägend. Isabella scheint es ebenfalls nicht zu gelingen, denn sie fragt plötzlich unsicher: „Du bist doch nicht mehr sauer auf uns wegen damals, oder doch?“
Sauer. Sie fragt, ob ich noch sauer bin. Nein, ich war niemals sauer. Bitter ist der passendere Geschmack. Es war bitter.
Mit einem Mal holt mich die Vergangenheit wieder ein. Es ist alles wieder da. Plötzlich bin ich wieder der kleine überängstliche Junge, den sie damals gefesselt eine ganze Nacht lang in einem kleinen engen Kellerraum der Schule eingesperrt hatten, nicht ohne vorher ein großes rauchendes Feuer aus Tannengrün um mich herum gelegt zu haben. Isabella war auch dabei gewesen, als sie mich im Schwimmbad unter Wasser gedrückt hatten bis ich blau angelaufen war. Isabella war es, die sich bei der Mannschaftsaufstellung im Sportunterricht am lautesten beschwerte, als der kleine schmächtige Fynn, der wie immer als Letzter übrig geblieben war, ihrem Team zugeordnet wurde. Es kommt mir vor, als könnte Isabella jetzt den Film sehen, der gerade vor meinen Augen abgelaufen ist.
„Mein Gott, du bist ja nachtragend! Weißt du wie lange das her ist?“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, lasse ich sie stehen und entferne mich mit großen schnellen Schritten. Mit zitternder Hand fasse ich in die meine rechte Manteltasche. Sie ist noch da, natürlich geladen. Die Bewegung eines einzigen Fingers von mir würde genügen, um sie zu vernichten oder wenigstens einen von ihnen. In meinen Ohren dröhnt die Stimme meines Vaters. „Wehr dich, wehr dich doch, Junge! Sonst werden sie nie damit aufhören.“
Es geht mir schon besser. Ich habe keine Angst mehr. Sie sollten jetzt Angst haben.
Schneeflocken. Es schneit Ende Oktober. Ich laufe ziellos durch die Straßen. Weiß einfach nicht, was ich tun soll. Da erregt auf einmal etwas meine Aufmerksamkeit. Eine Frau an die 60 mit schlohweißem langem und glattem Haar lächelt mich an. Mich. Ich kann nicht anders, ich muss sie einfach ansprechen. In freundlichem Ton frage ich sie erst einmal, ob der Platz neben ihr auf der Holzbank noch frei ist. Sie nickt ohne mich anzusehen. Sie hat wirklich ein schönes ebenmäßiges Gesicht, trotz ihres Alters. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr Lächeln etwas mit mir zu tun hatte. Also frage ich: „Warum sind Sie so glücklich?“ Sie lacht. „Ist dir schon einmal die Liebe begegnet?“ Höchst verwundert denke ich über diese Gegenfrage nach. Nun ja, Carla, Linda und Sabrina hatten auch ihre guten Seiten, aber „die Liebe“ stelle ich mir trotzdem anders vor. Deshalb antworte ich: „Nein, ich glaube nicht.“ Plötzlich springt die ältere Dame mit der Leichtigkeit eines jungen Rehs auf. „Komm mit, ich zeige sie dir.“
Ich bin einfach zu perplex um zu widersprechen, außerdem hat sie meine Hand gepackt und zieht mich mit ungeahnten Kräften hinter sich her. Zielsicher biegt sie in die Ahornallee ein und von dort über einen Trampelpfad auf einen kleinen Waldweg. Es geht steil bergauf. Ich gehe keuchend hinter ihr her. Inzwischen ist es stockdunkel geworden. Glücklicherweise spendet der Mond heute genügend Licht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schon einmal hier war. „Wie heißen Sie eigentlich?“, will ich wissen. Sie legt den Finger auf die Lippen. „Psst.“ Wir erreichen eine Lichtung mit einem riesigen See. Ich erinnere mich, es ist der Bernsteinsee. Zielsicher bewegt sich die ältere Dame auf ein kleines Ruderboot aus Holz zu, löst das Tau und gibt mir mit Gesten zu verstehen, dass ich einsteigen soll. Warum eigentlich auch nicht?
Als wir bereits auf die Mitte des Sees zu rudern flüstere ich: „Ein schönes Boot haben Sie da.“
„Ist nicht meins.“
„Wem gehört es dann?“
„Keine Ahnung!“
Langsam beginnt die Frau mir wirklich zu gefallen.
Als wir die Mitte des Sees erreicht haben legt sie sich der Länge nach in das Boot. „Leg dich neben mich.“, flüstert sie. Ich spiele weiterhin mit und tue wie mir geheißen.
Da liegen wir also. Ich nehme einen tiefen Zug der frischen, köstlichen Abendluft, während ich direkt in den sternenklaren Nachthimmel blicke. Das Boot schaukelt leicht hin und her. Alles ist ruhig um uns herum bis auf das Rauschen der Nadelbäume am Ufer. Ich habe mich wirklich lange nicht mehr so wohl gefühlt. Die Frau nimmt meine Hand. Ihre Hand ist ganz warm. Ich würde am liebsten für immer mit ihr hier liegen bleiben. Doch sie richtet sich plötzlich auf und zeigt ans Ufer. Eine ganze Herde Hirsche steht am Ufer, anscheinend um zu trinken. Sie schauen uns an, als hätten sie noch nie so etwas wie uns gesehen. Doch das ist noch nicht alles. Glühwürmchen, unzählige Glühwürmchen umschwirren das Ufer und erzeugen Spiegelungen auf der dunklen Wasseroberfläche.
„Was denkst du, warum sind sie alle hier? Warum sind wir hier?“
„Weil sie Durst haben?“
„Ich denke, wir sind hier, weil wir diesen Ort lieben. Die Luft, den Anblick, die Geräusche.“
Sie schaut mir in die Augen. „Was fühlst du?“
Wahrheitsgemäß antworte ich: „Ich fühle mich entspannt und befreit, so als wäre alles in Ordnung.“
„Gut, dann bist du bereit für Schritt 2.“
Ich wusste nicht, dass dies ein Programm sein soll, das wir hier zusammen durchziehen, aber ich bin bereit, ihr zu folgen, wo immer sie auch hingeht. Wir helfen uns gegenseitig, aus dem Boot auszusteigen. Während ich das Boot wieder vertaue, entfernt sie sich schon wieder in eiligem Tempo. Ich nehme mir noch einen Moment Zeit, um meine Waffe in den See zu werfen, bevor ich hinter ihr her hechte. Sie hat es bemerkt.
„Was war denn das?“
„Nicht so wichtig.“
Sie weiß schon wieder ganz genau, wo sie hin will. Es geht jetzt wieder in Richtung Innenstadt. Ihr Ziel scheint die große Konzerthalle zu sein. Es scheint heute irgendein klassisches Stück gespielt zu werden, wie ich dem Plakat entnehmen kann. Wir betreten den Eingangsbereich, wo ich bereits mein Portmonnaie zücke. Sie ist aber wohl dagegen. „Steck das weg, ich lade dich ein.“
Auch gut, denke ich, aber nicht ohne ein leicht mulmiges Gefühl. Wer weiß, was sie nun wieder vorhat. Sie schnappt sich ein Glas Rotwein von der Selbstbedienungstheke und geht damit die Treppe hoch zu einem der Eingänge, die zu den Tribünen führen. Ein sehr elegant gekleideter Herr fordert uns auf, ihm unsere Karten zu zeigen. In einem gekonnt inszeniertem Zusammenstoß übergießt diese unmögliche Frau doch glatt das schneeweiße Hemd des Herren mit dem gesamten Inhalt des Glases. „Oh Entschuldigung, das tut mir ja entsetzlich Leid!“ Nach einigen Entschuldigungen von uns beiden, eilt der junge Herr davon, um sich umzuziehen. Natürlich nutzen wir die Gelegenheit um uns die besten Plätze der Tribüne zu sichern. An der Dekoration bemerke ich, dass hier gar kein klassisches Stück gespielt wird, es ist wohl eher ein Musical. Die Tribünen füllen sich nun recht schnell, es schein bald loszugehen. Der mit Rotwein übergossene Herr, wird uns in diesen Menschenmassen wohl kaum aufspüren. Der Vorhang öffnet sich. Das Musical handelt von einem Menschen, der nur mit einem halben Gesicht auf die Welt kommt und Zeit seines Lebens ein Außenseiter bleibt. So lange, bis er tatsächlich einen wirklichen Freund findet. Die Musik ist wirklich schön und geht unter die Haut. Meine alte Freundin nimmt schon wieder meine Hand. Am Schluss sagt der Freund des Protagonisten zu ihm: „Für mich bist du nicht behindert oder eingeschränkt. Du bist ganz. Du bist perfekt.“ Danach folgt der Abschluss-Song und ich bin wirklich gerührt. Ich schaue in ihre graublauen Augen und sehe, dass sie glänzen. Sie schaut auf die Leute um uns herum, die alle hingerissen scheinen von dem letzten Lied des Musicals.
„Was denkst du, warum sind sie alle hier? Warum sind wir hier?“
„Wegen der guten Unterhaltung?“ sage ich mit Unschuldsmiene, obwohl ich natürlich weiß, dass sie auf etwas ganz anderes hinaus will. Ich warte ab, denn ich möchte lieber ihre Antwort hören.
„Ich denke, wir sind hier, weil wir die Musik lieben und die unendliche Zahl an Geschichten, die das Leben schreibt.“
Wieder schaut sie mir tief in die Augen: „Was fühlst du?“
„Ich fühle mich, als würde die Musik mich von innen erwärmen. Als wäre alles in Ordnung und ich wäre zur richtigen Zeit am richtigen Ort – mit dem richtigen Menschen.“
„Lass uns weitergehen.“
In einer großen Menschentraube verschwinden wir aus der Konzerthalle. Mit dem gewohnt zügigen Schritt eilt sie voraus. Wo es wohl jetzt wieder hingeht?
Ich kann es kaum fassen, als sie vor dem städtischen Krankenhaus zum Stehen kommt. Sie zieht mich am Ärmel, und manövriert mich durch die Eingangstür. Von dort geht es direkt in einen Aufzug, vorbei an einer sehr vertieften Krankenschwester an der Information. Meine Freundin wird so schnell, dass ich nicht einmal die Gelegenheit habe, die Schilder zu lesen, die mir verraten würden, wo es eigentlich hingeht. Da sie langsamer wird, denke ich, dass wir langsam am Ziel sind, aber alles was ich sehen kann, sind merkwürdige Glaskästen. Als ich näher trete, wird mir klar, dass wir in der Säuglingsstation gelandet sind. Die meisten der Neugeborenen schlafen, aber ein besonders munterer Junge schaut mich an. Ich muss wirklich lächeln über dieses winzige Menschlein. Er beobachtet mich ganz genau, dann lacht er zurück.
Meine alte Freundin legt den Arm um mich. „Wusstest du, dass sie schon direkt nach der Geburt Gefühle empfinden? Und sogar die Gefühle anderer wahrnehmen können?“
„Sie sind wirklich großartig.“
Ich habe erwartet, dass sie mir jetzt die gleichen Fragen stellt wie zuvor, aber das tut sie nicht. Stattdessen sagt sie mir, dass ich die Augen schließen soll. Obwohl sie manchmal verrückte Dinge tut, vertraue ich ihr. Sie gibt mir einen langen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund, der mich in die Knie gehen lässt.
Als ich mich endlich wieder gefasst habe, öffne ich die Augen wieder. Sie ist weg. Sie ist verschwunden und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Ich laufe einer Hebamme in die Arme, die zornig fragt, was ich hier zu suchen habe. Ich gehe nicht weiter auf sie ein, flitze dafür durch die Gänge. So weit kann sie doch in der kurzen Zeit gar nicht gekommen sein. Verzweifelt beschreibe ich einer der Krankenschwestern, wie sie aussieht. Sie nennt mir tatsächlich eine der Zimmernummern. Aber sie ist doch keine Patientin hier. Oder etwa doch? Ich muss dem Hinweis nachgehen.
Und tatsächlich, da liegt sie, meine stürmische Freundin liegt in einem der Krankenhausbetten. In ihrem weißen zerknitterten Nachthemd sieht sie aus, als würde sie schon seit Wochen dort liegen.
„Was soll das?“ frage ich entrüstet. Sie lacht wieder.
„Bist du wirklich krank oder bist du wegen der freien Kost und Logis hier?“
Sie kontert wieder mit einer Gegenfrage: „Warum bist du hier?“
„Weil ich dich liebe.“