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Der Letzte
Wie immer saß ich ganz hinten im Bus - allein, neben mir meine Tasche. Ich hatte die Musik ganz laut gestellt, um die anderen Schüler nicht reden und lachen zu hören. Draußen fegte der Wind vertrocknete Blätter durch die Straßen. Ich folgte ihnen mit seinem Blick und wünschte mir, wie sie einfach vom Wind davongetragen zu werden
Der Bus hielt vor der Schule und ich stieg aus, sah mich suchend um. Thom, wo bleibst du verdammt noch mal?, ärgerte ich mich über den unpünktlichen Freund. Heute war doch Zahltag! Ich lief zu den Fahrradständern und wartete auf ihn. Endlich, kurz vor Stundenbeginn kam er.
„Alter, wo warst du?“, blaffte ich ihn an.
„Sorry, hab verschlafen. Wie spät?“ Thom sprang vom Sattel.
„Gleich fängt die Schule an. Keine Chance.“
Thom fluchte und schlug vor: „Dann in der Pause? Wir können uns am Tor treffen, gleich am Anfang.“ Ich nickte widerstrebend.
„Hey, Senne, jetzt bleib mal locker, das klappt schon. Bis später!“ Er knuffte mich in die Seite. Eigentlich hieß ich Angelika-Astrid, aber weil ich so natürlich auf keinen Fall genannt werden wollte und auch jeder Name einzeln beschissen klang, nannte Thom mich immer Senne, abgeleitet von meinem Nachnamen Sennberger. Wir gingen wie immer getrennt rein, Thom mit seinen Freunden und ich allein.
Als der Lehrer meine Klasse endlich in die Pause entließ, stürmte ich zum vereinbarten Treffpunkt. Er war schon da.
„Okay“, sagte ich „Geh.“ Thom nickte und lief hinüber zu einer Gruppe Fünftklässler, unter ihnen Nick, ein mickriger Junge mit reichen Eltern. Mit einem freundlichen Lächeln schob er - selbst ziemlich klein - sich zwischen die Minis, von denen ihn einer sogar überragte. Er sagte irgendwas, packte dann Nick am Arm und zog ihn mit.
„Na, Kleiner“ Ich grinste böse. „Hast du‘s?“
„Ich ... also, nee ...“ Nick schlotterte und machte sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Ich packte ihn am Hemdkragen, hob Nick mühelos auf Augenhöhe und drückte ihn gegen die Schulwand. Thom stellte sich dicht neben uns. Er musste jetzt nach oben schauen, um Nick ins Gesicht zu sehen.
„Jetzt hör mir mal zu“, zischte ich und kostete jede Sekunde aus. „wir waren uns doch einig, dass du uns das Geld besorgst. Du hast deinen Teil der Abmachung gebrochen, also sehe ich keine Grund, warum wir uns noch daran halten sollten, oder, Thom?“ Ich ließ Nick fallen, der weinend am Boden liegen blieb.
„Hmm“ Thom tat so, als würde er überlegen. „Nein, eigentlich nicht.“
Es ekelte mich an, wie Nick sich dreckig, mit aufgeschürfter Haut und wimmernd vor Thoms und meinen Schlägen zurückduckte. Gleichzeitig genoss ich dieses Gefühl. Wir waren die Götter, die über Nick richteten.
„Morgen bringst du uns 200 Euro. Und, wenn ich das mal so erwähnen darf, Schläge auf blauen Flecken tun doppelt weh. Kapiert? Also, wir sehen uns morgen wieder!“ Thom grinste höhnisch und wir schlenderten auf den Hof.
Ich lag auf dem Sofa, aß Spaghetti mit Ketchup und schaute mir dabei irgendwas im Fernsehen an. Meine Mutter war noch bei der Arbeit, sie war Managerin in einer mäßig erfolgreichen Firma, die Kaffeefilter produzierte. Sie kam meistens erst am Abend nach Hause. Manchmal kochte sie dann noch etwas.
Ein Schlüssel klapperte im Schloss und ich sah überrascht auf. Ein Mann kam ins Wohnzimmer, mit grauen, sorgfältig gescheitelten Haaren und im Anzug. Mir fiel die Gabel aus der Hand. Was wollte dieser Spießer denn hier?
„Was woll‘n Sie hier?“, fragte ich ihn deshalb.
„Vivien gab mir diesem Schlüssel zu eurer Wohnung ...“ Meine verdammte Mutter. Manchmal benahm sie sich echt wie die letzte Schlampe, mehrmals im Jahr hatte sie einen neuen Freund, der natürlich sofort Zugang zu unserer Wohnung haben musste. Von ihren vielen One-Night- Stands mal abgesehen. Meines Wissens nach waren das aber immer Versagertypen gewesen, von Nazis über Durchschnittsdeutschen bis hin zu erfolglosen Künstlern.
Grauhaar setzte sich wie selbstverständlich in den Sessel und fragte mich freundlich: „Hast du denn schon etwas Vernünftiges gegessen?“ Ich hob mürrisch die Schüssel mit den Spaghetti an und starrte in den Fernseher. Aus dem Augenwinkel sah ich ein nachsichtiges Lächeln. Der Typ machte mich wahnsinnig!
Ich stand auf, stellte die halbvolle Nudelschale mitten auf das Sofa, um ihm zu signalisieren, dass das mein Platz war und ging dann.
Ich war auffällig in dieser Gegend. Normalerweise liefen hier keine Mädchen mit pinken Dreadlocks und Augenbrauenpiercing herum. Nicht dass ich irgendeiner Szene angehören würde, nein, mir gefiel es einfach. Ich schwang die Beine über einen Gartenzaun und ging über den saftigen Rasen. Die Lloyds wohnten nicht so abgeschottet wie viele andere Millionärsfamilien hier in der Gegend. Nick und ein Freund bauten im Garten eine Burg. Ich legte mich hinter einen Busch und wartete.
„Hey Nickie.“ Der Freund war weg, Nick bastelte allein an der Zugbrücke weiter. Er schreckte auf und und man sah ihm an, dass er beinahe geschrien hätte. Ich klappte spielerisch mein Taschenmesser auf und zu.
„Was willst du?“, fragte er mit piepsiger Stimme. „Geh weg, du darfst hier nicht sein! Ich hol meinen Papa!“
„Ich will mein Geld. Und überhaupt, wusstest du das noch nicht? Bevor man so eine große Burg baut, braucht man eine Genehmigung, sonst muss sie leider, leider wieder abgerissen werden. Ich denke, 100 Euro wären angemessen.“
„Ich hab das Geld nicht!“
„Wie traurig.“ Ich kam auf ihn und die Burg zu. Nick wich zurück und ich konnte die Zugbrücke ungehindert in zwei Teile zertreten. Der Junge drehte sich um und versuchte ins Haus zu laufen, doch ich schnappte nach ihm und erwischte sein T-Shirt. Nick fiel auf die Erde und schlotterte um sein Leben. Ich baute mich bedrohlich über ihm auf.
„Morgen, 300 Euro, denk dran.“ Ich trat nach Nick und machte mich auf den Rückweg. Es ging mir schon wieder besser.
Kippelnd beobachtete ich den Lehrer, wie er sinnlose Zahlenkombinationen an die Tafel schrieb. Eine Reihe vor mir unterhielten sich ein paar Schüler über die Wehwehchen irgendwelcher C-Promis. Ich verfiel in eine Art Dämmerschlaf, was hätte ich auch sonst tun sollen in Mathe.
Plötzlich ging vorsichtig die Tür auf und Herr Goeppler drehte sich verwundert um. Ich schaute nicht, wer ohne zu Klopfen geöffnet hatte, es würden ohnehin nur irgendwelche kreidesuchenden Schüler sein.
Doch der übliche Spruch „Haben Sie ‘n Stück Kreide über?“ blieb aus und ich drehte träge meinen Kopf. Zwei Männer standen in der Tür und redeten leise mit Herr Goeppler. Der Lehrer wirkte ein wenig erschrocken und nickte hastig. Einer der Männer sah sich kurz um und kam dann auf mich zu. Ich schluckte.
„Kommst du bitte mal mit?“, fragte der Typ mich leise. Ich verschränkte trotzig die Arme.
„Warum?“
„Das sollten wir lieber draußen besprechen.“ Ich zuckte scheinbar ungerührt mit den Schultern, aber in Wirklichkeit ging ich schnell alle Möglichkeiten durch. Vielleicht die Polizei. Hatte Nick geplaudert? Unwahrscheinlich, dafür hatte er viel zu viel Angst. Oder meiner Mutter war etwas passiert. Mein Spind war aufgebrochen worden? Ich verwarf alle Überlegungen.
„Also?“ Ich lehnte betont lässig und mit verschränkten Armen an der Wand. Meine Knie zitterten leicht.
„Ich bin Polizeihauptmeister Geerken. Es liegt eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen dich vor.“
Nicks Vater hatte mich gesehen und mit Nick geredet. Dieser hatte gegen mich ausgesagt. Es gab auch noch eine anonyme Zeugenaussage.
Mit Thom habe ich seitdem nicht mehr geredet, aber gegen ihn hatte Nick nicht ausgesagt. Wahrscheinlich würde ich eine Therapie machen müssen. Es kotzte mich jetzt schon an. Meine Mutter sah ich eh schon selten, und jetzt hatte sie dabei auch immer noch so einen seltsamen Blick drauf. Es war eine Mischung aus therapeutisch-mitleidig und angeekelt. Am liebsten würde ich ihr ins Gesicht schlagen. Und Grauhaar noch dazu, er war bei uns eingezogen und dachte, er müsste mich jetzt erziehen.
Heute in der Schule hatte ich beschlossen, mit Thom zu reden.
Ich kreiste also in der Pause über den ganzen Hof, bis ich ihn endlich gefunden hatte. Er sah mich nicht kommen, ich stupste ihm von hinten gegen die Schulter. Er drehte sich um und schien leicht zu erschrecken, als er mich sah.
„Angelika-Astrid ...“ Seine Miene versteinerte. Mein Mund klappte auf.
„Thom? Hast du sie noch alle?“
„Was willst du von mir?“, blaffte er mich an. Seine Freunde standen um uns herum und warfen sich gegenseitig Blicke zu. Einige grinsten vielsagend oder flüsterten sich Bemerkungen zu.
„Geht‘s noch? ... Mein Gott, drei Wochen, und du hast eine gute Freundin schon vergessen. Warum wurdest du eigentlich nicht bei den Bullen verpfiffen?“ Ich legte mich ganz in die Maske der Coolen.
„Soll ich mich etwa selbst verraten? Außerdem war das doch eh nur so eine kranke Idee von dir“ Er lachte laut auf. „Gute Freundin, ja, der war gut ...“ Und dann drehte er sich um und schlenderte weg. Lachte zusammen mit seinen Freunden, drehte sich nicht ein Mal um.
Er war der Letzte - der Einzige seit langem - gewesen. Und doch war alles nur eine große Lüge. Ich stand zitternd da und spürte, wie die Erkenntnis durch mich durchströmte. Er hatte mich verraten, die Welt sah spottend auf mich herab.
Na schön, dachte ich in einem Wahn von Selbsthass. Soll mich die Welt also nicht mehr haben. Aber ihn auch nicht, ihn, der mir das angetan hat ... Als ob er der einzige gewesen wäre. In diesem Moment kam es mir so vor.
Ich fasste mit der Hand in die Tasche und rannte hinter ihm her.
Er schrie auf, als er plötzlich mein Messer im Rücken hatte. Ich zog es raus, stach zu, wieder und wieder. Sein entsetztes Gesicht, Blut, die Schreie der Anderen. Zwei Freunde von Thom versuchten, mich wegzuzerren, doch ich fuchtelte nur wie wild mit der Messerhand und schlug ihnen allen blutende Wunden. Es gab mir den Kick, ich war da, präsent. Mein schönster Augenblick, er sollte auch mein letzter sein.