Der letzte Wunsch
Erst als er sich die müden Augen rieb, blickte Niklas von den Akten auf. Er bemerkte die Dunkelheit, die seine Wohnung ausfüllte, nur noch die Schreibtischlampe spendete etwas Licht. Stille, er konnte nur seinen Atem hören. Niklas streckte sich, klappte die offenen Akten zu, als plötzlich das Handyklingeln diesen ruhigen Moment durchbrach. Erschrocken suchte Niklas unter all seinen Unterlagen das Nerv tötende Handy. Ein Blick auf das Display genügte, damit ihm ein kalter Schauer den Rücken hinab fuhr. „Hallo“ sagte er, eine rauchige Frauenstimme erklang „ Niklas, ich bin es deine Mutter“, er schwieg und senkte den Kopf. „ Es ist soweit, Thomas geht es schlechter, er wurde soeben ins Krankenhaus gebracht“. Mit diesem Satz brach Niklas Welt in sich zusammen. Bilder schossen durch sein Gedächtnis, von seinem gesunden jüngeren Bruder, als noch nicht dieser schreckliche Lungenkrebs bei ihm diagnostiziert wurde. Unbeschwerte Zeiten aus der Kindheit. Sie hatten viel Zeit im Bootshaus verbracht und liebten es mit dem kleinen Holz Ruderboot auf den See hinaus zu fahren. Die Stimme seiner Mutter holte ihn schließlich aus seinen Gedanken zurück, als sie fragte, ob er sie verstanden habe. Mit fester Stimme antwortet er knapp „ ich bin auf dem Weg“. Er war zwar müde von der Arbeit, aber zu wissen, dass es Thomas schlechter ging, glich einer unsagbaren Erschöpfung. Für einen Augenblick ließ er die Antriebslosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht zu. Er wusste, sobald er einen Fuß ins Krankenhaus setzte, müsste er stark sein. Mit seinem schwarzen Lexus machte er sich auf den Weg. Es war schon ein Uhr morgens, die Straßen waren leer und somit kam er schneller voran, als ihm lieb war. Er war sich nicht sicher, ob er schon bereit war, schon stark genug war für diesen Augenblick. In Gedanken sagte er sich immer wieder „mach es für Tomi“. Auf dem Kranken-hausparkplatz angekommen, kam ihm dieses große unpersönliche sterile Gebäude noch erdrückender vor, als er es in Erinnerung hatte. Seine Mutter erwartete ihn bereits, schweigend folgte er ihr auf die onkologische Station. „Ich komme gleich nach, ich muss noch mit der Schwester reden, geh du schon mal zu ihm, er liegt auf Zimmer 201“, sagte seine Mutter in ihrem üblichen bestimmenden Tonfall. Mit zitternder Hand berührte er die Türklinke und drückte sie langsam nach unten, er atmete bewusst tief ein und aus, dann öffnete er die Tür. Thomas lächelte ihn an, es war eines dieser Lächeln, das sagte, „schön dich zu sehen, mach dir keine Sorgen!“ Zögernd versuchte auch er seine Lippen zu einem Lächeln zu bewegen, doch der Versuch scheiterte. Sein Bruder bekam eine verzerrte Grimasse zu Gesicht. „Schau ich wirklich so schrecklich aus, auf jeden Fall könnte man das meinen, so wie du mich ansiehst“, sagte Thomas mit ruhiger Stimme. Thomas war, auch wenn er der jüngere war, schon immer der erwachsenere von ihnen beiden. Auch als er erfuhr, dass er diesen Krebs hatte, war er es, der allen Mut machte. Langsam näherte sich Niklas und setzte sich auf einen der Stühle in der Nähe des Bettes. Er räusperte sich, da sein Hals schmerzte „ wie fühlst du dich?“ Aus gütigen und allwissenden Augen sah Thomas ihn an und sagte „ naja, war schon mal besser. Aber sie geben mir Infusionen. Leider war der Krebs schon im fortgeschrittenen Stadium, als er erkannt wurde, somit waren die Heilungschancen mehr als gering. Die Ärzte versuchten Thomas von eine Chemotherapie zu überzeugen, aber Thomas lehnte ab. „Soll ich dir etwas bringen, brauchst du etwas“, fragte Niklas und konnte ihn dabei kaum ansehen. Er kämpfte mit den Tränen. „ich hätte so gern eine Coca Cola“, jetzt musste auch Niklas lächeln. „Kommt sofort!“ Mit neuer Kraft sprang Niklas auf. Endlich hatte er etwas zu tun. Er konnte es schwer ertragen einfach da zu sitzen und zu warten. Er stürmte aus dem Zimmer, und krachte fast in seine Mutter. Sie kreischte. „Um Himmels willen, was ist denn in dich gefahren“. „Ich bin gleich wieder da“, rief er seiner Mutter zu, als er weiter den Gang entlang eilte. Dieser Geruch, die Gänge, hier kann doch keiner gesund werden, schoss es ihm durch den Kopf.
Thomas ist gegen fünf Uhr morgens eingeschlafen, daher fuhr Niklas zurück in seine Wohnung. Die Müdigkeit brach über ihn herein, als er die Wohnungstür aufschloss. Er stellte den Wecker und entschied drei Stunden zu schlafen, bevor er wieder zu Thomas fuhr.
Er atmete noch einmal die frische Luft ein, bevor er das stickige, nach Desinfektion riechende Gebäude betrat. „Da bist du ja“, sagte Thomas als, Niklas durch die Tür kam. „Gut, dass du vor Mutter hier bist, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen“. Thomas’ Stimme nahm einen beunruhigenden Unterton an. Das machte Niklas stutzig, aber er sagte nichts. „Niklas, ich weiß, dass du es nicht verstehst, warum ich mich gegen eine Chemotherapie entschieden haben. Aber ich hab mich damit abgefunden, dass meine Zeit zu Ende ist, ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich habe nur Angst hier sterben zu müssen“, bei diesem Satz brach seine Stimme. Ohne nachzudenken nahm Niklas die Hand seines Bruders und hielt sie ganz fest, auch Thomas drückte seine Hand. Diese Geste sagte mehr als tausend Worte und beide verstanden deren Bedeutung. Nach einer kurzen Pause sprach Thomas weiter. „ Ich wünschte mir so sehr noch einmal mit dem Ruderboot auf den See hinaus zu fahren, so wie wir es früher immer getan haben. Du weißt, Mutter wäre damit nicht einverstanden, daher wollte ich, dass wir es ohne ihr Wissen machen. Sie klammert sich noch immer an der Vorstellung, dass ich wieder gesund werde“. Niklas fehlten die Worte, noch nie wurde in seiner Familie so klar gesprochen. Er konnte nichts mehr dagegen tun, die Tränen suchten sich nun einen Weg. „Ich weiß, egal was ich sage, euer Schmerz ist groß, aber seid euch gewiss, dass es mir gut gehen wird, du fragst dich sicher, woher ich das wissen kann. Ich kann es spüren. Eine tiefes inneres Gefühl, das mir sagt, dass es in Ordnung ist“. Niklas sah ihm in die Augen und erkannte darin, dass er überzeug war von dem, was er sagte. Niklas nickte. „Morgen um sechs Uhr früh komme ich dich holen“. Am nächsten Morgen holte Niklas Thomas trotz Einwände der Ärzte und ohne das Wissen ihrer Mutter aus dem Krankenhaus, er fuhr mit ihm zum Alten Bootshaus. Thomas war schwach und konnte nur langsam und mit Unterstützung von Niklas den Weg vom Auto zum Boot bewältigen, aber ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Niklas wickelte Thomas in Decken ein, stieß das Boot vom Steg weg und sprang hinein. Thomas ließ den Blick über das Wasser gleiten und ein Gefühl des Friedens breitete sich in ihm aus. Langsam ging die Sonne auf, der Himmel färbte sich in den schönsten Farben, so als würde es nur für Thomas so sein. Niklas ruderte bis in die Mitte des Sees, er legte die Ruder bei Seite. Thomas lehnte sich mit dem Rücken an Niklas Brust, der wiederum hielt ihn, damit er sich nicht anstrengen musste. Beide schwiegen und sahen dem Farbenspiel zu. Dann sagte Thomas „Danke, und sei dir dessen bewusst, wir sehen uns im nächsten Leben wieder, genieße dein Leben und lass es nicht von Trauer bestimmen“, mit diesem Satz schlief Thomas in Niklas arme ein. Niklas weinte und wiegte seinen Bruder in den Armen und sah weiter der aufgehenden Sonne zu, als er sagte „wir sehen uns wieder, ich liebe dich“.