Der letzte Wunsch
Der letzte Wunsch
„Im Namen des Volkes, im Namen der Gerechtigkeit! Sie wurden durch das hohe Gericht zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt. Haben Sie noch einen letzten Wunsch?“
Paul Wilkinson war erst vor zwei Tagen zum neuen Vollzugsbeamten gewählt worden. Deshalb wollte er seine erste Hinrichtung so korrekt wie möglich hinter sich bringen.
„Ähm, ich möchte gerne begnadigt werden!“ antwortete der Todeskandidat.
„Das geht leider nicht!“ antwortete Paul. „Damit hätten Sie früher kommen müssen. Sie hätten das Begnadigungsformular 4b mindestens drei Tage vor der Hinrichtung korrekt ausgefüllt beim Gericht einreichen müssen.“
„Aber verstösst das nicht gegen die Menschenrechte? Sie verweigern mir ja meinen letzten Wunsch!“ entgegnete der Verurteilte.
„Das hat nichts mit Menschenrechten zu tun! Wir leben hier in Amerika! Hier herrschen die Rechte des Guten, nicht der Menschen! Und überhaupt: Wenn Sie begnadigt würden, wäre das ja gar nicht ihr letzter Wunsch, ich meine, sie wären ja dann nicht mehr zum Tode verurteilt und hätten gar keinen Wunsch frei und könnten sich somit die Begnadigung gar nicht wünschen. Oder Moment mal, wenn Sie nun…“
„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn der Verurteilte, „das war doch nur ein Scherz!“
Da wurde Paul ein wenig wütend. War es wirklich möglich, dass so ein niederes Individuum ihn, Paul Wilkinson, genannt „der Scharfe“, zum Narren hielt. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
„Warum sind Sie überhaupt hier?“ fragte er das Individuum.
„Sie stellen vielleicht fragen! Ich soll heute hingerichtet werden!“ antwortete dieser.
„Ich meine, WARUM Sie hingerichtet werden.“
„Wegen Tierquälerei!“
„Wegen…was? Das ist doch gar nicht möglich!“ Paul musste zugeben, dass er jetzt doch ein wenig verwirrt war. „Dann muss das, was sie dem armen Tier angetan haben, ja grauenvoll gewesen sein!“
„Wie man’s nimmt“, antwortete der Tierquäler, „ich habe meinem Hund die Überreste meiner Frau zu fressen gegeben. Sie war Alkoholikerin und das arme Tier musste dann mit einer schweren Vergiftung zum Tierarzt. Dieser hat mich dann angezeigt.“
„Schwein!“ brüllte Paul. Er konnte nicht glauben, was er da soeben gehört hatte.
„Nein, kein Schwein. Es war ein Hund. Aber wenn Sie meine Frau meinen, nun, gewisse Ähnlichkeiten waren bestimmt vorhanden…“
„Ich meine Sie!! Sie sind ein SCHWEIN!“ Paul konnte sich kaum noch halten. Der Verurteilte jedoch blieb ganz ruhig.
„Das hat der Richter auch gesagt. Aber wenn Sie meine Frau gekannt hätten, dann…“
„Schweigen Sie! Aber SOFORT!“ herrschte Paul ihn an.
„Wieso schweigen? Ich dachte, ich hätte noch einen Wunsch frei?“
Paul konnte sich nur noch mühsam unter Kontrolle halten. Der Mann brachte es doch tatsächlich fertig, in seiner – nicht gerade beneidenswerten – Lage noch Witze zu machen.
„Natürlich haben Sie das“, zischte er ihm zu, „aber fassen Sie sich kurz, verstanden? In einer Viertelstunde habe ich Feierabend.
„Aber selbstverständlich, Mister…, äh, wie heissen Sie eigentlich? Mein Name ist Miller.“
„Wilkinson, Paul…, jetzt hören Sie aber auf, ja? Das tut hier überhaupt nicht zur Sache. Haben Sie nun einen letzten Wunsch oder haben Sie keinen?“
„Ja aber natürlich, warten Sie einen Moment“ Mister Miller überlegte eine Weile und sagte dann: „Könnten Sie mir wohl den linken Arm losbinden? Wenn ich schwere Entscheidungen treffen muss, reibe ich für gewöhnlich immer an meiner Nase. Wissen Sie, das hilft manchmal ein wenig.“
„Jetzt wird’s mir aber langsam zu bunt, Mister Miller! Wenn ich wegen Ihnen noch Überstunden machen muss, BRINGE ICH SIE UM!!“
„Das tun Sie ja sowieso!“
„NEIN! Das macht das Gesetz! Und jetzt rücken Sie SOFORT mit ihrem beschissenen letzten Wunsch raus sonst vergesse ich mich!“
Paul Wilkinson kannte man eigentlich sonst als eher ruhigen Menschen. Es gab nur zwei Dinge in seinem Leben, die ihn richtig wütend machen konnten: Das Eine war, wenn er vergessen hatte, das Bier kalt zu stellen, wenn er seinen Kumpel Ernie eingeladen hatte und das Andere waren Überstunden. Und diese bahnten sich langsam aber sicher an.
Der Verurteilte bemerkte, dass Wilkinsons Nerven langsam blank lagen und versuchte, zumindest vorläufig, diesen nicht länger zu reizen.
„Also gut, aber könnte Sie mir nun meinen Arm freimachen? Bitte!“
Paul sah sich verstohlen nach dem Richter um, der das Szenario schon die ganze Zeit äusserst skeptisch beobachtet hatte und sich gerade fragte, ob der arme Mister Wilkinson wohl nicht doch ein wenig mit seiner neuen Stelle als Vollzugsbeamter überfordert war und nickte Paul kaum merklich zu.
„Meinetwegen“, seufzte dieser und schnallte dem Verbrecher den linken Arm los worauf dieser sofort anfing, in der Nase zu bohren.
„Sie Schwein!“ rief Paul.
„Das haben Sie schon mal gesagt, glaube ich!“ Miller schaute den Beamten verwundert an.
„Hör sofort auf, in der Nase zu popeln oder ich schnalle Dich wieder an!“
„Aber ich sagte doch, ich müsse mir an der Nase reiben! Und ausserdem, seit wann duzen wir uns?“
Paul bekam vor lauter Wut kaum noch Luft: „ Also gut, SIE, sie…sie…Sie haben gesagt AN der Nase reiben und nicht IN der Nase!“
„Also wenn ich kurz vor meinem Tode nicht einmal mehr popeln darf!“ Miller schaute dabei mit vorwurfsvollem Blick von Paul zum Richter und dann wieder zu Paul.
„Na gut! Dann stecken Sie doch Ihren Finger, wohin Sie wollen“, schrie Paul, „aber rücken Sie um Himmels Willen mit ihrem verdammten Wunsch raus, KLAR?
„Schon gut, schon gut!“ Miller, der es schaffte, auf diesem ungemütlichen, todbringenden Stuhl dazusitzen, als ob er gerade seine Lieblings-Soap am Fernseher reinziehen würde, überlegte noch eine Weile und sagte dann:
„Ich möchte noch gerne ein Buch lesen.“
„Ein….WAS!?“ Paul war entsetzt.
„Ein Buch, das ist so ein dickes Ding mit vielen Seiten und ganz vielen Buchstaben, die ihrerseits aneinandergereiht viele Wörter bilden. Diese wiederum…“
Das war zuviel. Der letzte Rest von Pauls Selbstbeherrschung verabschiedete sich nun endgültig.
„DU ERBAERMLICHER IDIOT! Hast Du das Gefühl, ich hätte noch nie ein Buch gelesen? Hä? Hälst mich wohl für doof, was? Ich habe mindestens schon zwei… oder waren es…ach, das ist doch SCHEISSEGAL! Vergiss Deinen letzten Wunsch! Ich bringe Dich jetzt um! Wo ist denn hier dieser verdammte Hauptschalter…“
„Herr Richter, Herr Richter! Der Mann verweigert mir meinen letzten Wunsch! Das ist strafbar! Auch ich habe meine Rechte…“
„Und ein paar Linke kannst Du auch noch haben, Du…“
Doch gerade als Paul über Mister Miller herfallen wollte – er hatte den Hauptschalter nicht gefunden – traten ein paar andere Beamte hervor und zerrten den wutschnaubenden und nun völlig durchgedrehten Vollzugsbeamten fort.
Mister Miller erstattete daraufhin Anzeige wegen Missachtung seiner Rechte und reichte gleichzeitig ein Begnadigungsgesuch ein, welches vom Präsidenten, der den Fall für seine Wahlkampfpropaganda zu nutzen wusste, zwar nicht genau geprüft, aber dennoch angenommen wurde.
Paul Wilkinson wurde seines Amtes enthoben und durfte daraufhin auf Staatskosten bis auf weiteres zur Kur; in ein schönes, grosses Hotel, wie man ihm versicherte.
Miller hingegen bekam vom Richter zwei Millionen Dollar Schmerzensgeld zugesprochen, kaufte sich eine kleine Acht-Zimmer-Villa mit Swimmingpool und heiratete bald darauf eine junge Frau.
Neusten Zeitungsberichten zufolge ist seine Frau seit etwa zwei Wochen spurlos verschwunden. Er lebe nun alleine mit seinem irischen Wolfshund zusammen und sei inzwischen mit unbekanntem Ziel verreist…