Der letzte Windzug
Es war dunkel. Stockdunkel, um genau zu sein. Musste diese blöde Taschenlampe ausgerechnet jetzt versagen? Er hatte eben immer Pech, das war nun mal sein Schicksal. Er konnte alles noch so gut vorbereiten, es ging dennoch schief. Selbst in dieser Nacht. Aber machte es Sinn sich jetzt überhaupt noch aufzuregen? Nein, nicht in dieser Nacht. Obwohl er sonst immer eine Wolke der Depression hinter sich herzog, ja diese ganze arrogante Welt, in der es einfach keinen Platz für ihn gab, regelrecht hasste, spürte er dass in diesen dunklen Stunden alles anders werden würde. Er konnte die Freiheit regelrecht spüren und seine sonst so lästige Nervosität war wie weggeblasen. Vorsichtig stellte er die kleine Taschenlampe ganz auf die Innenseite der Treppenstufe, auf der er in Gedanken versunken stehen geblieben war, so dass niemand darüber stoplern konnte. Er wollte keine Spuren hinterlassen. Eilig hatte er es ohnehin nicht, was hatte er schon noch zu verlieren. Zeit ist ein relativer Begriff und wenn man die vergangene daran misst, was man in ihr aus dem eigenen Leben gemacht hatte, war seine ohnehin nicht besonders viel wert. Langsam schlenderte er die letzten Stufen auf seinem langen Weg hinauf. Er konnte von hier aus bereits den kalten Wind spüren, der dort oben wohl toben musste. Noch eine Umdrehung, einige wenige Stufen und er würde angelangt sein. Er schloss die Augen und ging langsam los. Der Wind stich ihm durchs Haar. Doch anders als er es erwartet hatte, wurde dieser bei seinem Weg nach oben immer wärmer. Wie ein lauer Sommerwind, obwohl es doch eigentlich schon längst Herbst war. Das Pfeifen des Luftzuges wurde immer stärker, doch es klang wie eine leise Musik in seinen Ohren, ein pfeifender Gesang, der ihn nach oben locken wollte. Er wollte innehalten und ihr lauschen, doch da wurde er urplötzlich von einem regelrechten Windstoß gepackt. Er war also aus dem Schatten des Treppenhauses auf das flache Hochhausdach herausgetreten und spürte die angenehm warme Luft jetzt in ihrer ganzen Annemlichkeit. Doch von ihrer schönen Musik war hier nichts mehr zu hören, ganz im Gegenteil. Es war irgendwie merkwürdig ruhig. Nur der dumpf aus der Ferne durchdringende Verkehr durchbrach diese fast irreale Stille. Wie sehr hatte er sich nach so einem Moment gesehnt, in dem er alles um sich herum vergessen konnte. Ein Moment, in dem er sich nicht vor der Zukunft fürchten musste. Ein Moment, in dem er einfach nur existieren konnte. Nicht einmal in seinen von Chaos durchdrungenen Träumen hatte er sich vor dieser schrecklichen Welt und all ihren Tücken verstecken können. Doch in diesem Moment war alles anders.
Er wusste nicht mehr, wie lange er so dastand und diesen Zustand der Ruhe genoß bevor er sich dann nach Sekunden, Minuten oder gar Stunden in die Realität zurück besann und die Augen langsam wieder öffnete.
Es war ein Bild für die Götter. Von hier aus sah die Nacht gar nicht so dunkel und düster aus, wie er sie vorher unten auf der kalten Straße empfunden hatte. Über den Rand des Hochhausdaches blickte er über die hell erleuchtete Skyline hinweg, die in ihrer glasigen Reflektion den schummrig roten Sonnenaufgang reflektierte, die ganze Stadt damit in einen harmonisch goldenen Rotton tauchte und selbst dem imposanten Bergmassiv am Horizont, das doch eigentlich seit Urbeginn der Zeit das alleinige Recht besaß, die Schönheit des Himmel zu berührern, die ganze Show stahl.
War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass die Menschen es zwar geschafft hatten, die Spitze der Welt nicht nur zu erreichen, sondern sie mit ihrer Baukunst auch noch alle paar Jahrzehnte neu definieren, aber über all die Jahrtausende nie wirklich ihr Glück gefunden haben? Ja, wenn er von hier oben auf die Zivilisation herabblickte fragte er sich wirklich, wer von diesen unzähligen, wie Ameisen tagein, tagaus dahinwuselnden Menschen wirklich seine Erfüllung gefunden hatte. Und je länger auf diese Masse an Millionen Individuen herabschaute, die gerade im Begriff war, in ihren Betonblöcken, Barracken, silbernen Skyscrapern und Luxusvillen, aufzustehen, umso mehr erfasste ihn dieser Gedanke mit Wärme und Hoffnung.
Die ersten Sonnenstrahlen blitzten vom Horizont über die noch schlummernde Stadt und trafen seine empfindlichen Augen. Für einen Moment zuckte er zusammen. Ja, hier war ein verdammt guter Platz zum Sterben. Aber nicht an diesem wunderschönen Morgen.