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Der letzte Wähler
Mein Name ist Arnolf von Dieling und in den kommenden Minuten werde ich – wieder einmal – über das Schicksal der Welt bestimmen. Mit einem Klick. Mit einem Kreuz. Mit einer Stimme. Der letzten Stimme, auf die sich die Geschicke der Welt stützen, seit die Weltregierung mehrheitlich beschlossen hat, dass 1 Stimme die vollkommene absolute Mehrheit darstellt und daher die demokratischste aller Wahlen ermöglicht.
Dass diese Entscheidung aus einer Not getroffen wurde, ist heutzutage vermutlich nur noch einigen wenigen Politikern und Historikern bekannt. Die Propaganda-Maschinen liefen jahrelang auf Hochtouren, um die Tatsache zu verschleiern, dass stetig sinkende Wahlbeteiligungen die globale Soziokratie zu zersetzen drohten. Aufgrund der konstanten omnimedialen Konsumbotschaften und politisierten “Nachrichten” wurde die Menschheit mehr und mehr ein Passiv, der auf die intelligente Steuerung und Selektion durch immer mächtigere Algorithmen vertraute. Einst, als ich noch Sozioanalyst bei einem der größten Technologie-Konzerne war, trug ich nicht unerheblich zur Schaffung und Gestaltung dieser Algorithmen bei. Vermutlich ist dies mit ein Grund, weshalb ich stets politisch aktiv blieb und meine Stimme abgab.
Ich kann mich noch an die Anfangszeit erinnern, als Wähler rar wurden und die Parteien die kläglichen Reste auf immer subtilere und personalisiertere Arten und Weisen in ihrer Meinungsbildung und Stimmabgabe manipulieren wollten. Als wir weltweit nur noch eine Handvoll waren, glich der Wahlkampf mehr einer Menschenjagd als einem politischen Prozess. Viele von uns gaben einfach auf und kapitulierten, um sich und ihre Freunde und Familie vor der immer brutaleren Hand der Demokratie zu schützen. Die Todesfälle, zu denen es aufgrund von Selbstmorden oder übereifriger Wahlhelfer kam, wurden entweder medial ausgeblendet oder ominösen antidemokratischen Terrororganisationen angekreidet.
Inzwischen bin ich allein. L’état c’est moi! Wie sehr wünschte ich, es wäre anders. Doch da ich mich ständig auf der Flucht befinde, meine Identität ständig neu erfinde und eine Untergrundbewegung in die Welt rufen musste, deren einziges Mitglied ich bin, habe ich keine Chance und keine Zeit, andere davon zu überzeugen, ihre Stimme zu erheben und auf die Schieflage des weltweiten Wahlsystems hinzuweisen. Das einzige, das mir bleibt, ist am Tag der Wahl durch technische Manipulationen meinen Aufenthaltsort zu verbergen und in der Zeit zwischen den Wahlen zu einem Schatten zu werden.
So viel hängt von mir ab. So viel wird stürzen, wenn ich meine Bürgerpflicht nicht mehr wahrnehmen kann. Einst wollte ich die Welt retten. Jetzt versuche ich nur noch, sie am Laufen zu halten. Doch auch meine Zeit geht zu Ende. Ich bin alt und die Jahrzehnte der Flucht haben ihre Spuren hinterlassen. Vermutlich wird es für mich keine nächste Wahl geben. Meine Hände zittern von Tag zu Tag mehr und wenn ich in den Spiegel blicke, sieht mich ein Mann an, dessen Mutter ihn wohl nicht mehr erkennen würde. Erkenne ich mich doch selbst kaum noch.
Vor mir erhellt das Display wie ein tröstendes Lagerfeuer die Nacht. Die hochauflösenden Flaggen der Parteien wehen im virtuellen Wind. Perfekt trainiertes Lächeln ziert die Gesichter der Video-Avas der Politiker als wären sie Eiskunstläufer. Euer Eis ist dünn, meine Freunde. Vermutlich wisst ihr gar nicht, wie dünn tatsächlich. So dünn wie ein Menschenleben, das durch die ständige Reibung, die eure Propaganda und Verfolgung in die Welt schleudert, stetig dünner wurde. Wenn mein Lebensfaden reißt, werdet auch ihr stürzen.
Mein Finger fällt. Meine Stimme zählt. Ein letztes Mal.
Lebt wohl und viel Glück.
Klick.