Der letzte Urlaubstag
Die zierliche Frau in dem schwarzen Geländewagen gab Gas. Wenn jemand in diesem Moment auf sie geachtet hätte, hätte er eine etwas verheult aussehende Frau gesehen, die richtig verloren in dem großen Auto wirkte.
Es waren noch fünfhundert Meter.
Ihre Gedanken waren nicht im Hier und Jetzt, sondern sie ließ sie zum heutigen Morgen zurückschweifen - als sie das Haus verließ. Es war bereits so sonnig und warm gewesen, dass sie auf eine Jacke verzichtet hatte. Erst vorgestern war sie mit ihrer Familie aus dem Urlaub zurückgekommen. Obwohl sie und ihr Mann in letzter Zeit viele Probleme hatten, es immer wieder Streit gab - der Urlaub war herrlich gewesen. Die Kinder waren beschäftigt und sie hatten wieder mal, endlich mal wieder, Zeit nur für sich gehabt. Sie hatten sich so richtig ausgesprochen. Sie hatten die Zeit gemeinsam genossen, waren abends in einer kleinen Taverne ganz romantisch essen gewesen, danach ein Strandspaziergang am warmen Meer entlang unter einem Sternenhimmel, der mit Millionen und Abermillionen von Sternen übersät war. Sie hatten Zeit füreinander, hörten einander zu, niemand nörgelte am anderen herum, einfach perfekt. An diesen Abenden waren sie glücklich, dass sie ihren Mann überzeugt hatte, dass ihre Kinder groß genug waren, sich ein eigenes Doppelzimmer zu teilen. Sie konnten so die Zweisamkeit richtig genießen. Der Sex war fast wie ganz zu Beginn ihrer Beziehung, nur noch besser. Sie waren leidenschaftlich, hingebungsvoll und zärtlich, gleichzeitig waren sie aber auch so vertraut miteinander, sie wussten was der andere mochte, wie sie einander Vergnügen bereiten konnten. Manchmal, wenn die Kinder gerade von den Animateuren beschäftigt wurden, verschwanden sie sogar für einen kurzen Quikie im Zimmer - ganz so wie vor zwanzig Jahren, als sie noch ganz jung und frisch verliebt gewesen waren.
Noch vierhundert Meter.
Sie dachte an ihr zu Hause. An dieses perfekte, so vollkommen zu ihr und ihrer Familie passende Haus. Sie waren vor ein paar Jahren eingezogen. Obwohl sie damals einen großen Kredit hatten aufnehmen müssen, hatten sie sich finanziell so verbessert, dass sie in etwa drei Monaten die letzte Rate für das Haus bezahlen würden. Es hatte einen großen Garten, einen Wintergarten und eine wunderschöne sonnige Terrasse. Als sie das Haus vor ihrem Einzug umbauten und planten hatte sie ihren Mann überzeugen können, die Küche zu vergrößern und eine zusätzliche Tür in den Garten einzubauen. Jetzt konnte sie direkt aus der Küche in ihren kleinen Kräutergarten gehen. Im Sommer stand diese Tür in den Garten meist ganz weit offen. Wenn es so richtig schön warm war, dufteten die Kräuter und der Geruch des Lavendels, des Thymians, Rosmarins und des Basilikums schien die Küche regelrecht zu fluten. Am Wochenende gingen sie oftmals gemeinsam zum Markt um frisches Obst und Gemüse zu kaufen. Früher, bevor die Kinder da waren, hatten sie sich dann auch immer die Zeit genommen und hatten gemeinsam gekocht. Das bedeutete sie hatte gekocht, aber ihr Mann hatte ihr geholfen, er hatte Zwiebeln geschält und sie in Würfel geschnitten, er hatte das Gemüse geputzt und den Fisch ausgenommen. Mit den Jahren waren sie immer vertrauter miteinander geworden. Als dann die Kinder kamen hatten sie dafür nicht mehr so recht Zeit, aber die Küche war immer noch ihr gemeinsamer Treffpunkt, in dem sie alle gemeinsam aßen, spielten, redeten und lachten. Auch ihre Familienfeiern endeten früher oder später immer so, dass alle in der Küche saßen und plauderten, tranken und sich dort amüsierten. Man hätte fast meinen können, dass das Haus keine weiteren Räume hätte. Aber es war einfach perfekt.
Noch dreihundert Meter.
Sie dachte auch an ihre beiden geliebten Kinder. Die beiden konnten sie manchmal zu Tode nerven, aber kurz darauf waren sie wieder so lieb, dass sie ihnen absolut nicht böse sein konnte. Ihr großer ging seit einem Jahr in die Schule. Das Lernen machte ihm Spaß, die Lehrer konnten nichts Negatives berichten. Noch mehr Spaß machte ihm nur Fußballspielen. Zweimal die Woche, ging er zum Training und sein "Kicken" war für ihn das absolut größte. Seine Schwester sollte nun auch bald eingeschult werden, in anderthalb Monaten war es soweit. Sie war stiller als ihr Bruder, aber trotzdem neugierig und wissbegierig. Sie liebte ihre Bücher über alles und obwohl sie noch nicht zur Schule ging, konnte sie schon lesen. Sie hatte ihre Großeltern so lange genervt, bis diese es ihr beigebracht hatten. Sie steckte eigentlich immer mit ihrer Nase in irgendeinem Buch.
Sie lächelte - als sie klein war, war sie genauso gewesen, nur heute fehlte ihr oft die Zeit zum Lesen. Sie kümmerte sich lieber um ihre Kinder, ihren Mann oder das Haus und den Garten - um ihre kleine perfekte Welt.
Kurz bevor sie in Urlaub geflogen waren, hatte es einen Sonntag gegeben, der war so typisch gewesen. Sie waren alle zusammen bei einem Fußballspiel ihres Sohnes gewesen, zum Anfeuern. Sie jubelten und feuerten an, sie stöhnten bei den Fouls und schimpften über den "blinden" Schiedsrichter. Ihre Tochter saß still auf ihrem Platz und las. Aber wenn ihr Bruder ein Tor geschossen hatte, dann sprang auch sie auf um zu jubeln und mit ihm zu feiern. Die Jungs hatten haushoch gewonnen und es gab danach eine tolle Siegesfeier.
Noch zweihundert Meter.
Morgen waren die Ferien zu Ende. Ihr Mann würde zeitig das Haus verlassen, sie selbst würde etwas später folgen. Auf dem Weg zur Arbeit würde sie erst ihren Sohn in der Schule absetzen und danach ihre Tochter in den Kindergarten bringen. Sie würde mit ihren Kindern zusammen frühstücken und ihr Sohn würde ganz muffelig seinen Kakao schlürfen und seine Cornflakes essen. Er war genauso ein Morgenmuffel wie sein Vater. Ihre Tochter jedoch, würde während sie ihren Kakao trank fröhlich vor sich hinplappern. Vielleicht von dem Buch, das sie gerade las, von dem Traum den sie letzte Nacht geträumt hatte oder von ihren Erlebnissen im Urlaub. Sie war ein richtiger Sonnenschein. Wenn die beiden dann in Schule und Kindergarten waren, würde sie weiter auf Arbeit fahren und dort ihren Mann treffen. Nach seinem Studium hatte er in einem kleinen, mittelständischem Unternehmen angefangen. Da er intelligent, fleißig und zu allen Kollegen immer sehr höflich und freundlich war, war er bald sehr beliebt gewesen und auch dem Chef war das aufgefallen. Es war eine Zeit voller Arbeit gefolgt, sein Chef hatte ihn getestet und mit Arbeit regelrecht zugeschüttet. Aber er hatte den Test bestanden und war erst die rechte Hand vom Chef geworden und als dieser dann vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war hatte er ihm die Firmenleitung überlassen. Es war nur natürlich gewesen, dass sie als die Kinder groß genug waren und sie wieder arbeiten wollte, auch in der Firma anfing und nun die rechte Hand ihres Mannes war. Sie verstanden sich schließlich privat blind, warum sollten sie dies nicht auch beruflich nutzen. Das Unternehmen war, dank ihrer beider beharrlicher Arbeit sehr gesund und konnte auch gegen die große Konkurrenz bestehen.
Noch einhundert Meter.
Sie hatte den Termin eigentlich auf dem Weg zum Bäcker schnell absagen wollen. Es kam ihr so absurd vor. Ihr Verdacht, dass ihr Mann sie betrügen würde, hatte sich im Urlaub einfach aufgelöst. Er war von den Zärtlichkeiten wegewischt worden. Dann dachte sie jedoch, dass sie zumindest die Bezahlung für den Privatdetektiv gleich regeln könnte und entschied sich dagegen.
Also fuhr sie nach dem Mittag doch zu dem vereinbarten Treffpunkt. Ihr Sohn war bei einem seiner Kumpel und spielte Fußball, ihre Tochter lag im Garten und las und ihr Mann war im Hobbykeller verschwunden. Da er seinen Wagen mal wieder vor ihrem geparkt hatte, nahm sie eben schnell seinen.
Sie wollte dem Detektiv gerade die vereinbarte Summe in einem Umschlag geben und ihm erklären, dass sie seine Dienste nicht mehr benötigen würde, als er ihr einen Umschlag zuschob.
Darin waren Fotos - von ihrem Mann - und einer jungen Frau.
Einer anderen.
Ihre perfekte Welt zerbrach in tausend scharfe Scherben.
Egal, woran sie dachte, wohin sie blickte, überall war - Schmerz.
Noch fünfzig Meter.
Da vorne war sie.
Sie, die Andere.
Gleich würde sie über die Ampel gehen.
Dort würden sie sich treffen. Sie, die Andere und sie im Wagen ihres Mannes.
Es war so weit.
Plötzlich ein Blitz und ein Donnergrollen, es fing heftig an zu schütten.
Alles was kein Dach über dem Kopf hatte fing an zu rennen.
Die zierliche Frau in dem schwarzen Geländewagen lenkte ihr Auto zitternd an die Seite und sank mit dem Kopf auf das Lenkrad.
Um sie - nur Schmerz.