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Der letzte Trip
Der letzte Trip
Aufgrund der misslichen Umstände des Bruders und durch das Gefühl der Aussichtslosigkeit, das die noch immer anhaltende Arbeitslosigkeit hervorrief, wurde Sebastian depressiv. Es fiel ihm schwer die endlosen Tage des Nichtstuns zu ertragen. Ihm fehlte die Kraft sich Neuem zu öffnen. Selbst die Nachrichten in den Zeitungen interessierten ihn nicht mehr. Nutzlos verstrichen die Wochen und auch Maurits war nicht mehr in der Lage, dem trübsinnigen Sebastian neuen Lebensmut einzuflößen.
Der Engel sah die ausweglose Lage seines Schützlings und war der Auffassung, dass er eingreifen müsse. Für Abhilfe werde er sorgen, aber sie solle diesmal endgültig sein, um Sebastian auch vor zukünftigem Unheil zu bewahren. Der Bote Gottes vertrat die Ansicht, dass ein Aufenthalt in Spanien zur Durchführung seines Vorhabens am geeignetesten sei, da Sebastian dieses südliche Land so sehr mochte. Es sollte aber jetzt kein Eiland der Balearen oder Kanaren sein, sondern eine Insel im Zentrum dieses katholischen Königreiches. Ohne Begleiter solle Sebastian diese besondere Reise machen, damit nichts ihn ablenke.
Nachdem sein Zustand sich dermaßen verschlechtert hatte, dass er sich nur noch der Grübelei hingab, bat Maurits ihn inständig, doch für einige Zeit wegzufahren. Eine solche Veränderung bringe ihn schon auf andere Gedanken. Darüber hinaus sei er es leid, ständig einen Menschen in seiner Nähe zu haben, der unaufhörlich klage. Für beide Seiten sei eine kurzfristige Trennung jetzt vonnöten.
Im Frühsommer raffte Sebastian sich dann endlich auf und machte sich auf den Weg nach Spanien. Dort sah er erstmals Madrid. Diese wunderschöne kastilische Metropole inmitten der iberischen Halbinsel, so hoch und einsam gelegen, zog Sebastian in ihren Bann. Vor allem die eindrucksvolle Plaza Mayor, deren Proportionen in ihm das Gefühl einer wohl tuenden Harmonie hervorriefen, mochte er sehr. Im Schatten ihrer prächtigen Häuser aus vergangenen Jahrhunderten, die kleinen Palästen glichen, verweilte er so gerne. Abends konnte Sebastian dort den Planeten Venus und die zunehmende Mondsichel sehen. Ein herrliches Naturschauspiel bot sich ihm dar.
Die Sterne über ihm waren so unendlich weit und doch funkelten sie, seit ewigen Zeiten schon. Noch zahllose Generationen nach ihm, würden das Gleiche sehen wie er, hier, mitten auf der Meseta, im Herzen der spanischen Hauptstadt. Seine Gedanken fingen an zu schweben. Um sich herum hörte er Englisch, Französisch und Spanisch. Es gab viele Touristen, die auf den Terrassen saßen genauso wie er. An Maurits dachte er. Sein Leben zog langsam an ihm vorbei. An Madame Bovary, die ihre Leidenschaft nur schwer unterdrücken konnte, erinnerte er sich. Sie, die Schöpfung Flauberts, die im Grunde ein unglückliches Leben hatte führen müssen, beherrschte seine Gedanken. "Paul et Virginie" tauchten wieder auf. Der Schiffbruch, das Wasser und die meterhohen Wellen, die jegliche Flucht unmöglich machten, begruben die beiden Liebenden und schwemmten alle Schuld hinweg. Emma Bovary lud Sebastian noch einmal ein, ihre deliriösen Träume mit ihr zu teilen. Kathedralen aus weißem Marmor und Hütten unter schlanken Palmen sah Sebastian. Gitarrenklang und das Geräusch plätschernder Brunnen drang an sein Ohr.
Sebastian wurde abrupt aus seinen Träumereien gerissen, da der Kellner kam und kassieren wollte. Das Plätschern rührte von den Bier- und Weingläsern her, die immer wieder nachgefüllt wurden. Das Gitarrenspiel war Rodrigos "Concierto de Aranjuez", das gerade von einer Gruppe junger spanischer Musikanten, denen die Plaza Mayor als überdimensionales Podium diente, voller Hingabe gespielt wurde. Diese verlockenden Klänge, dieser Ruf nach Aranjuez, war eindringlich und unwiderstehlich. Sebastian bezahlte und machte sich auf den kurzen Weg zu seinem Hotel, das sich in der Calle de la Montera befand. Die Arbeitslosigkeit, die noch immer andauerte, beherrschte wieder seine Gedanken. Er war in das Land Sancho Pansas und Don Quixotes gekommen, um sich, für kurze Zeit wenigstens, davon zu befreien, aber das gelang ihm nur teilweise.
Noch zwei Ausflüge sollte Sebastian machen. Die erste Exkursion führte ihn nach San Lorenzo del Escorial, am Fuße der Sierra Guadarrama. Dieser riesige Klosterkomplex, in dem die meisten spanischen Könige und Königinnen ihre letzte Ruhe gefunden hatten, war ein majestätisches Bauwerk. Seit mehr als vierhundert Jahren schon bewachte es, wie eine wehrhafte Burg, die sterblichen Hüllen der einst gekrönten Häupter. Verblendend wirkte dieses Gebäude auf Sebastian. Es war so überwältigend, dass es ihm unmöglich war, hineinzugehen.
Der letzte Trip führte ihn nach Aranjuez. Sebastian konnte sich diesen Gitarrenklängen der Straßenmusikanten, diesem Lockruf der Plaza Mayor, nicht mehr entziehen.
Er begab sich in die königlichen Gärten. Eine tiefe Stille lag über Aranjuez an jenem Tag. Hierhin, an die mit üppigem Grün bewachsenen Ufer des Tajo, hatte der Engel seinen Schützling an diesem Sonnabend im Juni geleitet, damit die Vorsehung sich erfülle. Schön und friedlich lag der Jardín de la Isla im Sonnenschein. Dieser Garten hatte die Form eines fast gleichseitigen Dreiecks, genauso wie der Platz vor Sebastians Vaterhaus; der allerdings war um ein Vielfaches kleiner. Bewusst hatte der Engel diesen Ort erkoren, da er wusste, dass Flüsse, Bäume und Plätze eine große Anziehungskraft auf seinen Schützling ausübten.
Zwei Seiten dieses Geländes wurden von dem Fluss begrenzt. Sanft umspülten seine Wellen dieses fruchtbare Erdreich, auf dass alles wachse und gedeihe. Von Osten her schlängelte er sich an diese Oase der Stille heran und wand sich dann in weitem Bogen nach Norden, um anschließend seinen Lauf in südwestlicher Richtung fortzusetzen. An der Stelle, wo seine Wasser die erste Ecke dieses Gartens erreichten, befand sich am linken Ufer ein Palast. Von dort hatte man, in gerader Linie, einen Kanal angelegt, der den Tajo mit sich selbst verband. Somit war diese Grünanlage auch zu ihrer dreieckigen Form gekommen und gleichzeitig zur Insel geworden.
Wie mächtige Säulen eines griechischen Tempels wirkten die uralten Bäume, unter denen Sebastian umherschritt.
Nun wurde er auch der Opferstätte gewahr, die lange schon hergerichtet war. Unübersehbar war dieser in der Nachmittagssonne funkelnde Becher auf dem riesigen Altar, an dessen Längstseiten einundzwanzig Stühle standen. Diesen Kelch, der nur für ihn bereitgestellt worden war, nahm er, setzte ihn an und trank ihn aus.
Unweit des Opfertisches sank Sebastian zu Boden und eine große Ruhe kam über ihn, die fast vollkommen war. Leise nur hörte er das Plätschern des Tajo, der nordwärts hinter ihm vorüberfloss.
Scheherazade erschien im Jardín de la Isla. Sie trug kostbare Gewänder in den schönsten Farben. Langsamen Schrittes führte sie die Trinität der Belletristen an ihren Platz. An dem Ende des Tisches, das dem Palacio Real, der sich am Eingang des Gartens befand, abgekehrt war, ließ sich erst David Herbert nieder. Neben ihm nahmen Jean und Georges ihre Plätze ein.
Die zweite Gruppe, die von Scheherazade an ihren Platz geführt wurde, bestand wiederum aus drei Personen. Es handelte sich um Wilhelm, den tapferen, bei dem sich sowohl Ännchen als auch Katharina eingehakt hatten. Wilhelm nahm den Platz neben Georges ein. Dann folgte Katharina neben ihm. Der Stuhl zu ihrer Rechten blieb unbesetzt. Ännchen nahm neben diesem leeren Stuhl ihren Platz ein.
Nun wurde eine Gruppe, die sich aus vier Gestalten zusammensetzte, an den Tisch geleitet. Jimi und Giuseppe gingen Hand in Hand. Violetta am Arm von Jeanne-Antoinette folgte ihnen. Die arabische Prinzessin wies Jimi den Platz neben Ännchen zu. Daneben ließ sich Giuseppe, dann Violetta und zuletzt Jeanne-Antoinette nieder. Nun waren die ersten zehn Plätze, bis auf den freien elften Stuhl in der Mitte, besetzt.
Sebastian konnte sechs Männer und vier Frauen stumm nebeneinander sitzen sehen.
Nun begann Scheherazade die Plätze auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, die dem Fluss am nächsten war, zu füllen.
Die folgende Gruppe, die herangeführt wurde, umfasste lediglich zwei Personen. Seite an Seite schritten Lamoraal und Victoria, die ein kleines Krönchen trug, würdevoll zu ihren Stühlen. Victoria nahm David Herbert gegenüber Platz. Ihr Rücken war Sebastian zugewandt. Daneben ließ sich Lamoraal nieder.
Als Nächstes wurde Emma, die von Paul und Virginie eskortiert wurde, an den Tisch geführt. Behutsam schritten diese drei ihren Plätzen entgegen. Emma nahm neben Lamoraal Platz. Daneben ließ sich Paul nieder und auf dem Stuhl zu seiner Linken nahm Virginie Platz. Vis-à-vis von ihr saß Katharina. Dem freien Stuhl gegenüber befand sich keine Sitzgelegenheit.
Die sechste Gruppe, die von Scheherazade an den Tisch geführt wurde, bestand aus zwei Personen. Sebastian sah Abraham, der Bernadette an der Hand führte, die sich zuerst hinsetzte. Ihr Gegenüber war der virtuose Jimi. Jetzt nahm Abraham noch Platz.
An dieser Seite des Tisches, die Sebastian am nächsten war, gab es noch drei leere Plätze.
Nun führte Scheherazade Leonardo an seinen Platz. Er ließ sich neben Bernadette nieder.
Als Letzte brachte sie Marie an die Stelle, die ihr zugedacht war. Schließlich ließ auch sie, die vor unendlich langer Zeit ihrem Gebieter in tausendundeiner Nacht die wunderbarsten Geschichten erzählt hatte, sich auf ihren Stuhl sinken. Zu ihren Füßen gesellten sich noch drei treue Tiere: Krambambuli, Fidèle und Duxi. Die Haltung, die diese Hunde annahmen, ließ vermuten, dass sie alsbald einschlafen würden.
Scheherazade gegenüber saß die einstmals reiche und mit Titeln überladene Jeanne-Antoinette.
Die letzten zehn Personen konnte Sebastian nur von hinten sehen, da sie ihm den Rücken zukehrten. Es waren sechs Frauen und vier Männer. Bis auf die orientalische Märchenerzählerin, deren Kleider in allen Farben des Regenbogens schillerten, waren die übrigen neunzehn Personen der Tafelrunde in weiße Gewänder gehüllt. Nur Victorias goldener Kopfschmuck sowie der leere Becher erstrahlten im Licht. Kein Laut war zu hören. Nicht ein einziges Wort wurde gesprochen. Sebastian starrte auf den frei gebliebenen Stuhl, der sich zwischen Ännchen und Katharina befand. Jetzt wurde er gewahr, dass die ganze Tischgesellschaft mit fordernden Augen ebenfalls dorthin schaute. Obwohl die Gesichter der letzten zehn Personen ihm abgewandt waren, wusste er doch, dass auch ihre Blicke auf die gleiche Stelle gerichtet waren. Alle warteten nur darauf, dass auch dieser letzte Platz besetzt werde.
Der Engel hatte Sebastian gut geführt. Die außergewöhnliche Großmutter hatte er ihm gegeben und wieder genommen. Die Kindheit mit Maria, die Blue Ridge Mountains, Jerusalem und Agrigento hatte er Sebastian zuteil werden lassen. Die Nacht von Amsterdam hatte er ihm dargeboten. Den Tod des ältesten Bruders und des Bruders von Maurits hatte er Sebastian gebracht. Die Arbeitslosigkeit hatte er ihn spüren lassen und ihm Lourdes und die ganze Welt gezeigt. Der Engel hatte Sebastian durch tiefe Täler und in schwindelnde Höhen geführt. Maurits hatte er ihm als Gefährten an die Seite gestellt. Doch Sebastian ahnte nichts von seinem Engel.
War der Engel von Sebastian ein Liebes- oder Todesengel?
Sebastian berührte das nicht mehr, denn er hatte nichts von seiner Existenz gewusst.
Warum hatte der Engel sich Sebastian nie offenbart, sodass er ihn hätte fragen können, was zu geschehen habe?
Der Engel beobachtete unterdes seinen bleichen Schützling und sah, dass dessen Augen brachen. Er schickte ihm noch einmal den arabischen Traum von Jerusalem.
Domine, non secundum peccata nostra facias nobis.
Sebastianus, pulvis es, et in pulverem reverteris. Dominus autem resuscitabit te in novissimo die.
Amen.