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Der letzte Telog
Unter lauten Flügelschlägen zog die Gestalt an mir vorbei. Kandolanische Fledermäuse: groß aber ungefährlich. Noch Minuten nachdem sich das Tier in die tieferen Gänge zurückgezogen hatte, konnte ich ihren typischen Geruch vernehmen: widerlich! Es roch wie eine Mischung aus Schweinestall und Kadavern.
Ich tat einen Schritt nach dem anderen auf den steinigen Boden. Die Höhle war weitläufig und ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich genau gehen musste. Sicht verlieh mir nur die kleine Helmlampe an meiner Stirn.
Nach weiteren Stunden, zahlreichen Gabelungen und weiteren, gefühlt hundert stinkenden Fledermäusen, fand ich es endlich: das Grab des Telog Mo. Ich schaltete meine Stirnlampe ab, sie war nicht mehr notwendig. Der gesamte Saal war in ein blaues Licht gehüllt, das von scheinbar jeder Oberfläche, der Decke und dem Boden ausging und jede Kontur, jede Vertiefung, dieser Konstruktion erkennen ließ.
In jeder Ecke des Raums fanden sich Säulen, die so bearbeitet wurden, dass sie den Anschein erweckten aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen zu bestehen. Wände und Decke waren mit hervorragend gearbeitetem Stuck bedeckt, der die bekanntesten Legenden um diesen einst großen Herrscher darstellten und die zahlreichen Kreaturen die er einst bezwungen haben soll.
Genau wie die zahlreichen Ikonen der legendären Gestalt war auch der Sarkophag geformt. Er stellte ein exaktes Abbild der Person dar, die ich auf den Gemälden und in den Skulpturen im Museum von Tingpock gesehen hatte.
Als ich in den Saal hineintrat wich das blaue Licht vor mir zurück – es kroch regelrecht davon. Konnte das sein? Waren das die Sintabil? Aber sie galten seit über 400 Jahren als ausgestorben – seitdem der letzte echte Telog gestorben war. Ich beugte mich herab, näher zum Boden und jetzt erkannte ich, dass es sich tatsächlich um kleine Käferchen handelte, deren Körper blaue Lumineszenz erzeugten – genau wie die Sintabil beschrieben wurden. Angeblich wurden sie von einer Art psychischen Energie angezogen und nährten sich von ihr. Den Legenden zufolge beherrschten die Telogs genau diese Art von Energie. Die Bewohner Kandolans erklärten, dass sie mit ihr übermenschliche Taten vollbringen konnten, auf denen die zahlreichen Legenden beruhten, die sich um die ehemaligen Herrscher dieses Planeten ranken.
Es gab viel was über die Telogs, über den Lauf der Zeit, in Vergessenheit geriet. Darunter die Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Niemand wusste heute mehr woher diese Wesen kamen. Waren sie Eingeborene des Planeten, eine Rasse aus der sich die heutigen Kandolianer entwickelt hatten? Oder stammten sie von einer anderen Welt? Waren sie Überlebende einer sterbenden Rasse die sich auf diesen abgelegenen Planeten gerettet hatten? All das waren mögliche Antworten, doch keine war belegt. Eine weitere Frage lautete, warum sie überhaupt ausgestorben waren. Wie konnte eine solch mächtige Rasse, die in der Lage war mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken zu töten, einfach aussterben? Auch konnte mir kein Historiker des Universums beantworten warum die Telogs in entfernten Höhlensystemen begraben wurden und weshalb die Hinweise auf ihren Standort scheinbar willentlich verschleiert oder sogar vernichtet wurden.
Die historischen Aufzeichnungen wiesen große Lücken immer dann auf, wenn ein Telog gestorben war – mal abgesehen von dem Wissensschwund den Bibliotheken und Museen natürlicherweise durch die Unruhen der Zeit erfuhren. Wurde in den Schriftstücken vom Tod eines dieser Herrscher berichtet, dann folgten in der Chronologie keinerlei Aufzeichnungen, die kurz nach diesem Ereignis datiert sind und plötzlich setzen sie wieder ein und berichten von den großen Taten, des neuen Mannes auf dem Thron. In manchen Fällen wurde noch von einer Art Krönungszeremonie berichtet, die den neuen Herrscher in seiner Funktion zu begrüßen schien, doch bei manchen Führungswechseln fehlte selbst dieser Bericht.
Ich suche schon seit einigen Jahren nach dem Grab eines dieser legendären Figuren und nachdem mir die Aufzeichnungen dieser Welt nicht weiterhalfen wand ich mich an die nächstbessere Quelle: an ihre Bewohner. Nach vielen erfolglosen Gesprächen wurde ich von einem abgemagerten Mann angesprochen, dessen Erscheinungsbild durch die typische blasse Haut und die strahlend violetten Augen der Kandolianer geprägt war. Sein schneeweißes Haar war an den Seiten wegrasiert und zog sich als ein einzelner, dicker, geflochtener Strang vom Haaransatz der oberen Stirn bis zum Hinterkopf, wo er zusammengebunden als Zopf endete. Gekleidet in eine schäbige dunkle Robe, trat er aus einer Gasse, als ich gerade an dieser vorbeilief. „Ich weiß was Sie suchen und ich kann Ihnen helfen.“ Nach dieser Aussage zuckten seine Mundwinkel zu einem merkwürdigen Lächeln, das krampfhaft und falsch wirkte, nach oben.
Ich vertraute dem Mann nicht, doch er war meine einzige Spur und so gab ich ihm was er für seine Hilfe wollte – was bei weitem nicht viel war, wenn man bedenkt, dass dieser Mann mich tatsächlich zum Grab des letzten Telogs geführt hatte. Woher er diese Informationen hatte wusste ich nicht und zu fragen traute ich mich nicht, wichtig war nur, dass sie korrekt waren.
Schritt für Schritt trat ich durch das Lichtermeer, welches sich vor mir öffnete und hinter mir wieder schloss. Bis ich direkt am Sarkophag des letzten großen Herrschers stand, der letzten Ruhestätte des Mannes der das Volk der Kandolianer im ganzen Universum bekannt gemacht hatte und ihm den Ruf einer mächtigen und grausamen Kultur einbrachte, die keinen Widerstand duldete. Allerdings wurden die Kandolianer auch für ihre Gerechtigkeit, Gastfreundlichkeit und ihre hervorragenden kulturellen Werke aus allen Bereichen bekannt. So waren sie keineswegs blutrünstig. Wenn sich der Feind ihres Reiches ergab, ließen sie ihn ziehen oder nahmen ihn auf, doch stellte sich jemand gegen sie, so wurden sie aus der Geschichte getilgt, wie die Standorte der Gräber der Telogs.
Heute waren die Kandolianer nur noch ein Schatten, ihrer damaligen Hochkultur. Kaum war der letzte Telog gefallen, krochen die Feinde aus ihren Löchern hervor, in die sie sich zurückgezogen hatten, um sich dem Reich nicht im offenen, ehrenvollen Kampf stellen zu müssen. Es dauerte nicht lange und das Reich war zerschlagen. Heute finden sich im Universum nur noch wenige Planeten, die von ihnen bewohnt werden. Vielerorts hatten sie sich mit den Ureinwohnern vermischt, so dass zahlreiche Mischvölker entstanden waren und reinblütige Kandolianer fand man wohl nur noch hier, auf ihrer Heimatwelt.
Als ich den Sarkophag erreichte musterte ich die Struktur, die feine Arbeit dieser ehemaligen Hochkultur. Jedes Detail war hervorragend abgebildet, die Gesichtszüge wirkten dermaßen lebensecht und es war als würde mich der Telog, selbst, aus diesen Augen heraus anfunkeln.
Als ich meine Hände an den Deckel des Grabgefäßes legte, zogen sich auch hier die Sintabil zurück. Konnte ich es wagen? Durfte ich das Grab eines Gottes öffnen?
Begleitet von einem knirschenden Geräusch, schob ich den schweren Deckel vorsichtig von dem Sarkophag und es erwartete mich ein überraschender Anblick: Die blauen Käfer bildeten eine perfekte humanoide Form ab und erleuchteten das Innere. Vorsichtig führte ich meine Hand in Richtung des dargestellten Kopfes und als die Sintabil sich zurückzogen kam darunter die weiße Haut eines Kandalianers zum Vorschein. Wie konnte das sein? Seit 400 Jahren lag dieser Mann hier unten und die Haut war noch immer erhalten? Zunächst erschrocken, kam mir gleich eine Antwort in den Sinn: die Sintabil – Sie mussten den Körper konserviert haben! Zwar war mir noch nicht bewusst wie sie das angestellt hatten, doch eine alternative Erklärung für diesen Umstand fehlte mir.
Unter dem Zischen der hydraulischen Scharniere öffnete ich den Sichtschutz meines Helms, ich wollte das Antlitz dieses Mannes mit eigenen Augen, unverfälscht erblicken. Zunächst wurde ich geblendet, vom Licht der Sintabil, doch nach einigen Augenblicken hatten sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt und so ergötzte ich mich an der natürlichen Schönheit, dieses Geflimmers.
Ich bewegte meine Hand zum Kopf und lies sie so nah heran sinken, bis die Käferchen das gesamte Gesicht freigaben. Es war erstaunlich wie akkurat die modernen Abbildungen des Telogs waren, obwohl ihn seit Jahrhunderten niemand mehr erblickt hatte.
Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte trocken und die Augen waren geschlossen. Ungewöhnlich fand ich, dass die Augenhöhlen nicht leer zu sein schienen. Mit einem Mal schlugen die Augen auf und strahlten mir in intensivem Lila entgegen. Wie war das möglich? „Endlich…“ erklang eine leidende Stimme, in meinem Kopf. Die Lippen des toten Mannes bewegten sich nicht. „… solange habe ich gewartet. Nun ist die Zeit endlich gekommen!“ Die knöcherne Hand schnellte hervor und ergriff mich an der Kehle. Schlagartig hörten die Sintabil auf sich vor mir zurückzuziehen und taten nun genau das Gegenteil: sie kamen auf mich zu. Sie krochen vom Boden her an meinen Beinen hinauf, über den Arm in mein Gesicht, überall spürte ich das Kribbeln der kleinen Beinchen. Ich versuchte mich loszureißen, packte die dünne Hand, die erstaunlich viel Kraft aufbrachte und zerrte an ihr, versuchte sie zurück in den steinernen Sarg zu drücken, doch es gelang mir nicht. Schlagartig merkte ich, wie die Kraft in mir schwand, wie ich müde wurde und mich der Wunsch nach Schlaf überkam. Mir fielen die Augen zu – nur für einige kurze Augenblicke – dann riss ich sie wieder auf. Ich lag auf dem Boden des Saals und über mir stand kein geringerer als Telog Mo, in seiner vollen Pracht. Sein langes, weißes Haar war zu dicken Zöpfen verflochten, die über seinen Rücken bis zu seiner Hüfte reichten. Durch seine weiße Haut zeichneten sich am ganzen Körper kräftige Muskeln ab.
„Ich danke dir Fremder!“ ertönte die Stimme, nun in vollen Tönen, im ganzen Saal. „So lange Zeit lag ich hier und ich begann schon daran zu zweifeln mich jemals wieder zu erheben, doch du hast es vollbracht, hast einen Gott zum Leben erweckt. Wie fühlst du dich damit?“
Ich wollte etwas sagen, doch meine Stimme versagte mir den Dienst. „Schhh!“, erklärte der Telog, „…schone deine wenige Kraft, bald hast du es geschafft.“
Dann wurde mir wieder schwarz vor Augen und ich hörte nur noch wie sich jemand mit stapfenden Schritten von mir entfernte, mit ihm ging auch das Kribbeln auf der Haut.