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Der letzte Tag
Der letzte Tag
Seit dem Aufstehen spüre ich ein gefräßiges Etwas, das heute zusammen mit mir aufgewacht ist und an meinen Nerven nagt. Nach der Dusche hat es sich zunächst zurückgezogen, aber kaum habe ich mich an den Tisch gesetzt und bei einer Tasse Kaffee den Kalender aufgeschlagen, kommt es wieder. Heutiger Termin: Die Ankündigung einer freudlosen halben Stunde voller Glückwünsche und guter Ratschläge. Danach ist der Kalender leer.
Ich habe mir meinen Ruhestand einmal im Anschluss an einen Banktermin vorgestellt, weil mich jemand nach meinen Vorsorgeplänen gefragt hat. Es sollte ein beschaulicher Lebensabend sein. Ein kleines Häuschen in der Provence, das in ferner Zukunft auf mich wartet. Genauer gesagt im Jahr 2038. Auf eigenen Wunsch vielleicht auch früher. Aber alles ist schneller gegangen und mit einem eigenen Wunsch hatte es nichts tun. Ein ernster Zusammenbruch (Ursache physischer Natur!), schon stand der Termin im Kalender. Dazu kam eine zwanzig Jahre jüngere, belastbare Ausgabe meiner selbst, die meine Stelle übernehmen wird und die ich in den letzten Wochen per Skype – schließlich war ich krankgeschrieben – mit den wichtigen Abläufen vertraut machen durfte.
Heute ist casual Friday. Meine Sachen liegen bereit, wie immer am Vortag herausgelegt. Ob zwecks Verabschiedung eine Krawatte angemessen ist? Ich vermute, einer meiner Vorgesetzten wird anwesend sein und ich will auf keinen Fall einen schlechten Eindruck machen. Ein kurzer Blick auf die Uhr, der Griff nach dem Jackett und ich gehe, mein Etwas im Schlepptau, zur Tür.
Ein gestern in Augenhöhe angebrachter Zettel bringt mich mit dem Hinweis aus dem Konzept, heute, entgegen aller Gewohnheit, an meine Ersatzschlüsselkarte zu denken. Im ersten Moment will ich sie holen, entscheide mich aber doch dagegen. So habe ich Grund zu einem späteren Besuch und den letzten Tag in der Firma durch diesen Kunstgriff noch einmal aufgeschoben.
Der Weg zur Arbeit dauert mit dem Auto kaum zehn Minuten, trotzdem fahre ich immer mit einem Puffer von weiteren zehn. Die Vorstellung, zu spät im Büro zu erscheinen, ist mir ein Gräuel. Heute allerdings sehne ich mich geradezu danach, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Irgendetwas, das die Gleichförmigkeit meiner Routine durchbricht und mir erlaubt, den kurzen Weg auszukosten. Als nichts passiert, fahre ich eine Querstraße vor meinem Arbeitsplatz plötzlich ab und will einmal um den Block. Kaum abgebogen, fühlt es sich falsch an: eine trotzige Geste, lächerlich in ihrer Plattheit. Ich wende, parke den Wagen in der Tiefgarage und fahre hinauf.
Um 8:02 Uhr öffnen sich die Fahrstuhltüren: Die Empfangsdame sieht auf und rüstet sich zum Gruß. Sie staunt wahrscheinlich nicht schlecht, als sich die Türen mit einem leisen Pling wieder schließen, ohne dass ich ausgestiegen bin. Als sie, neugierig geworden, den Etagenknopf drückt, der die Tür des Aufzugs öffnet, und einen Blick hineinwirft, stehe ich erstarrt in der Mitte der Kabine. Erst auf die Frage, ob alles in Ordnung ist, vermag ich zu reagieren.
„Ich bin noch nie zu spät gekommen“, sage ich etwas hilflos in dem Versuch zu erklären, was eben passiert ist. Ich kann ihr ja schlecht erzählen, dass Etwas habe angesichts der künstlichen Verspätung Hunger bekommen und wieder an meinen Nerven genagt. Auch wenn das der Wahrheit entspricht.
„Wenigstens ist das erste Mal auch das letzte Mal, dass Ihnen so etwas passiert“, antwortet sie eifrig und lächelt mich aufmunternd an. „Ich bringe Ihnen gleich einen Kaffee, dann haben Sie etwas zum Wärmen, während Sie Ihr Büro ausräumen.“
„Lassen Sie nur, Frau Kappnik, das ist nicht nötig. Ich brauche nicht lange. Sind ja nur ein paar Sachen“. Mit wiedergewonnener Kontrolle über meine Muskeln haste ich an ihr vorbei zu meinem Arbeitsplatz. Schnell schließe ich die Tür hinter mir, setze mich an den Schreibtisch und lasse zum Abschied meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich mochte mein Büro. Es ist recht hell, ansonsten typisch für den Mittelbau. Nicht zu klein, aber eben auch nicht so groß, dass es für mich nicht seit meinem Einzug Ansporn gewesen wäre, mich weiter unermüdlich in meine Arbeit hineinzuknien, um irgendwann in ein wirklich großes und noch helleres Büro umzuziehen. ,Schluss mit der Träumerei’, ermahne ich mich. ,Hör auf, das Ding in dir zu füttern! Es wächst nur und lacht über dich.‘ Ich sehe auf die Uhr und verstaue die wenigen persönlichen Dinge – ein Bild meiner Eltern, meinen Füllfederhalter und ein bisschen Kleinkram – in meiner Aktentasche. Dann mache ich mich auf den Weg zum Aufenthaltsraum, in den mich meine ehemaligen Kollegen zitiert haben.
Das halbe Dutzend bekannter Gesichter aus meiner Abteilung hat sich artig um den in der Mitte stehenden stellvertretenden Abteilungsleiter Lohmann aufgestellt. Ein etwas gezwungener Applaus empfängt mich und ich ringe mir ein gequältes Lächeln ab. Jemand drückt mir, als ich nähertrete, ein Stück Kuchen in die Hand. Lohmann, ein sonnengebräunter Mittvierziger in Jeans, Hemd und tailliertem Sakko, schüttelt mir die kuchenstückfreie andere. „So förmlich, Stickel? Es ist doch Freitag“, sagt er mit gespielt strengem Gesicht, lächelt dann aber milde, als wolle er mir den krawattenen Fehlgriff ausnahmsweise noch einmal durchgehen lassen. Hätte ich mir eigentlich denken können, was ist schon eine Abschiedsfeier gegen die Macht der Gewohnheit.
„Der Chef lässt sich entschuldigen. Er hat ein strategisches Meeting mit Ihrem Nachfolger. Ich war vorhin schon kurz dabei; alles state of the art, was der einbringt! Muss nach dem Termin hier auch gleich wieder hin.“ Es entsteht eine etwas peinliche Stille, da ich nicht so recht weiß, was ich antworten soll, und stattdessen den Kuchenteller in meiner Hand mustere.
„Aber egal! Der Chef bat mich, Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg zu wünschen und Ihnen im Namen der Firma diesen Gutschein für ein Wellnesswochenende in Bad Godelsberg zu überreichen. Damit Sie mal so richtig ausspannen können.“ Seine Stimme hat sich merklich gehoben, so, als wolle er sichergehen, dass jeder der Kollegen Zeuge dieser großzügigen Geste wird. Einmal in Fahrt, preist er meine zuverlässige Arbeit. Man solle sich doch bitte am unermüdlichen Einsatz des Kollegen Stickel ruhig ein Vorbild nehmen. Er betont es, schließlich bin ich für den Augenblick so etwas wie ein Kollege der Herzen. Wieder gibt es Applaus und man schüttelt mir der Reihe nach die Hand, wünscht alles Gute, ab und an ergänzt von einem: „… der Kuchen ist köstlich! Den müssen Sie gleich noch probieren.“ Ohne rechten Appetit tue ich ihnen den Gefallen. Es wird viel geredet, aber wenig gesagt. Keiner fragt mich nach meinen Plänen, aber ich hätte ohnehin nichts zu antworten gewusst. Ich hoffe inständig, dass der Spuk bald vorübergeht.
Die nun unwiederbringlich ehemaligen Kollegen wünschen mir noch einmal das Beste und verschwinden wieder in ihren Büros. Als sie gegangen sind, tritt Lohmann an mich heran. „Was für ein netter Abschied! Sie wissen ja, wir legen immer größten Wert auf ein gutes Miteinander. Ich finde, ein gelungener Ausstand ist als Teambuilding-Maßnahme eine feine Sache. Da wissen die Leute: Die Firma und die Kollegen kümmern sich bis zum letzten Moment.“ Mit leuchtenden Augen schüttelt er noch einmal meine Hand. „Ach, eines noch, bevor Sie gehen. Sie haben doch bestimmt an die Ersatzschlüsselkarte gedacht?“
Ich bin überrascht. Mit so einer Nachfrage habe ich nicht gerechnet. „Verzeihen Sie, Herr Lohmann, die habe ich völlig vergessen. Ich werde sie gleich am Montag vorbeibringen“, lüge ich, mich nach anfänglicher Überraschung wieder meines Plans entsinnend, den ich vor Arbeitsbeginn geschmiedet hatte. Wenigstens ein kleiner Lichtblick. „Sie haben doch noch nie etwas vergessen! Stickel, es wird wirklich Zeit, dass Sie in Rente gehen!“ Argloses Grinsen lässt darauf schließen, dass mein Gegenüber der Ansicht ist, ihm sei hier ein letzter Spaß zum Renteneintritt geglückt. „Bemühen Sie sich nicht! Wir können die Karte einfach deaktivieren, dann ist sie nur noch ein Stück Plastik. Aber fachgerecht entsorgen! Unserem Unternehmen ist es ernst mit der Mülltrennung.“ Er sieht auf die Uhr. „Entschuldigen Sie, Stickel. Nun muss ich aber auch wieder! Das Meeting – Sie verstehen bestimmt. Wenn Sie mich fragen, müsste der Tag eigentlich mindestens 30 Stunden haben! Ich grüße den Chef und Ihren Nachfolger von Ihnen … Ein fantastischer Mann, habe ich Ihnen das schon gesagt?“ Er winkt noch einmal, dann ist er auch schon zur Tür heraus.
Wieder allein greife ich nach der Aktentasche und will mich gerade auf den Weg machen, als ich ein Räuspern höre.
„War nicht schlecht der Kuchen,“ sagt das Etwas.
„Schokolade ist nicht unbedingt unsere Lieblingssorte, aber das weiß du ja,“ antworte ich pflichtschuldig. „Kommst du mit nach Hause?“
„Klar! Ich achte schon darauf, dass dir in der Rente nicht langweilig wird.“
„Beruhigend wenn sich wenigstens einer bis zu Letzt um einen kümmert. Ich schätze den Firmenwagen wollen sie auch gleich hierbehalten. Nehmen wir die Bahn oder laufen wir?“
„Wir laufen. Zeit haben wir ja nun genug.“