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Der letzte Tag
Wie der Schreibtisch glänzt, denkt Hannah. All das bedruckte Papier, die Ordner, die Stifte und bunten Zettelchen, entsorgt, weggestellt und abgeheftet.
Das Telefon, das ihr Tag für Tag den Nerv geraubt hat, es schweigt, die Rufumleitung ist eingestellt.
Ein Kopf lugt durch die angelehnte Tür, erholsamen Urlaub, sagt die Sekretärin und verschwindet in den Feierabend. Wie fast jeden Tag musste Hannah sich noch am Vormittag ihre Wehklagen anhören, Cholesterin, Migräne und undankbare Kinder.
Von wegen Urlaub, denkt Hannah.
Im Fenster sieht sie ihr Gesicht, nicht mehr jung, noch nicht alt, dahinter ein Lichtermeer im dunklen, dunklen Januar, in der Ferne das beleuchtete Ziffernblatt des Roten Rathauses, das rote Blinken des Fernsehturms, rechts Leuchtreklame von Coca Cola.
Wenn noch mal alles neu machen, dann jetzt. Letzte Zugverbindung.
Ihr Abschiedstag, aber das weiß niemand, nicht ihr Vorgesetzter, nicht ihre Kollegen, nicht ihre Familie, nicht einmal die Freunde. Die Kündigungsfrist ist ihr egal, sollen sie sie verklagen, niemand wird ihre neue Adresse herausfinden, und ihr Konto ist bereits leergeräumt.
Zweiundzwanzig Jahre denselben missmutigen Vorgesetzten. Sicherheit, das war, was sie zu wollen glaubte, Voraussehbarkeit, regelmäßige Kontoeingänge, einen berechenbaren Chef. Von Vorteil war, dass es die wenigsten lange bei ihm aushielten, nur sie, weil sie sich abgefunden hatte. Noch ehe neue Kollegen zu ernsthaften Rivalen wurden, warfen sie das Handtuch, frustriert von den Launen des Messies im Orthopädie-Chefsessel.
Eingeschlossen ihre Wünsche nach dem Studium, niemand hat sie mehr gefragt, nichts hat sie gesagt von dem, was ihr Herz begehrte. Nur getan, was sie erwarteten, die anderen.
Wer waren diese anderen, von denen wir glauben, dass sie etwas Bestimmtes von uns erwarten? Wer erwartete denn von ihr, dass sie den ewig gleichen Job als Rechtsanwältin machen musste? Dass sie den ewig gleichen Alltag in demselben Berliner Vorort mit denselben missmutigen Menschen teilen musste? Mit einem glatzköpfigen Fettwanst, dessen einzige Interessen Hertha, Bratwurstgrillen und sein spießiger Schrebergarten in Spandau waren.
Drei Monate ist es her, es war der Tag vor ihrem Fünfzigsten, da änderte sich alles. Potsdam, ein Termin am Verwaltungsgericht, später Vormittag, sie hatte sich gerade auf den Weg zum Hauptbahnhof gemacht, da sah sie eine Frau auf der Straße sitzen. Auch sie hatte kurze, dunkle Haare und mochte wie sie Ende vierzig sein. Aus einem Kleinbus ein Stück weiter stiegen zwei Menschen aus, schlossen sanft die Türen und gingen langsam zu der sitzenden Frau. Hannah sah einen abgebrochenen Spiegel an einem geparkten anderen Auto direkt neben der Frau. Diese versuchte aufzustehen, legte sich stattdessen aber hin. Die zwei aus dem Kleinbus beugten sich zu ihr. Hannah fragte sich, ob sie etwas tun konnte, tun musste. Sie nahm ihr Handy und sah, dass schon einer telefonierte. Weitere Menschen stiegen auf ihren Autos, so dass sich bald eine Traube um die Frau auf der Straße bildete. Eine Weile blieb Hannah unschlüssig stehen, dann ging sie weiter. Ihre Knie schlotterten.
Einige Straßen weiter raste ihr ein Krankenwagen entgegen. Wie immer hielt sie sich die Ohren zu. Ihre Kehle wurde trocken, doch sie ging weiter, kaufte sich zur Zerstreuung eine Illustrierte am Bahnhof und vergaß nach einigen Artikeln den Vorfall.
Am nächsten Morgen hörte sie es im Radio, beim Frühstück. Auf dem Küchentisch lagen ein Geschenk und ein Strauß bunter Blumen, eingepackt, dazu eine Karte. Unfall in Potsdam. Frau Anfang fünfzig zwischen ihrem parkendem Auto und vorbeifahrenden Kleinbus eingequetscht. Tod im Krankenhaus.
Hannah starrte aus dem Fenster auf den herbstlichen, trostlosen Innenhof.
Das war der Moment, in dem sie erwachte.
Jederzeit konnte es vorbei sein. Unfall, Krankheit, ein herabfallender Baum im Sturm, es gab so unendlich viele Gefahren in ihrer scheinbar so vorhersehbaren Welt, jederzeit konnte es auch sie treffen, und da wurde es ihr bewusst: Sicherheit war ein Kartenhaus. Ein Trugschluss, eine Fata Morgana. Sicherheit gab es gar nicht. Hundert Versicherungen konnte sie abschließen, nichts würde es ihr nützen, wenn an irgendeinem beschissenen Montagvormittag ein verschlafender Autofahrer ein wenig zu weit am Straßenrand fahren würde. Routine und Alltag, eine einzige Lüge, denn das Leben war nicht vorhersehbar. Wenn aber schon alles unsicher war, warum dann jeden Tag wie den anderen gestalten? Warum dann nicht das Leben in vollen Zügen genießen? Warum nicht alle Kräfte darauf verwenden, um sie die Lebensträume zu erfüllen, zumindest einen einzigen? Das Geld für die Reise durch Lateinamerika und die Karibik hatte sie doch, und sie war fest entschlossen, sich an dem Ort niederzulassen, der sie am meisten berührte. Wo auch immer der sein mochte, sie war dazu bereit, nichts hielt sie mehr in ihrem alten Leben, das ihr staubig und faulig erschien. Eine Studienfreundin lebte in einem kleinen Dorf am Lago Atitlán in Guatemala, dort würde sie einen Spanischkurs machen, vielleicht einige Monate bleiben.
Dann warf sie die Geschenke ihres Mannes samt Blumen in die Mülltonne, was er nicht einmal bemerken würde, kaufte den teuersten Champagner, trank ihn noch in der S-Bahn aus der Flasche und buchte den Flug. Die Nacht tanzte sie durch und erwachte am Morgen mit dem schlimmsten Kater ihres Lebens, doch das war ihr egal, der Entschluss stand fest und war keineswegs eine der üblichen Träumereien unter Alkoholeinfluss, welche am Tag danach meist vergessen sind. Was sie in den folgenden Wochen erlebte, war die beste Zeit ihres Lebens, ein einziger Flow: Still und heimlich löste sie ihr altes Leben auf, und nachts lachte sie sich ins Fäustchen, wenn sie daran dachte, dass weder ihr schnarchender Mann noch sonst irgendwer auch nur einen blassen Schimmer hatten. Niemand traute ihr so etwas zu, immer war sie nur das zuverlässige Heimchen, das es allen recht machte.
In ihrem Herzen war sie schon immer eine Abenteurerin, in Studienzeiten war sie immerhin mal nach Nordafrika getrampt, und jetzt, da auch ihr Sohn erwachsen war, das Haus schon vor einigen Jahren verlassen hatte und eigene Wege ging, musste sie kein schlechtes Gewissen mehr haben. Er würde allein klarkommen. Ihr Mann war ihr mittlerweile egal.
Bevor auch sie an einem lausigen, kalten Montag im November still und leise von dieser Welt schied, würde sie nur noch das tun, was ihre Sehnsüchte verlangten.
Und vielleicht gab es auf der anderen Seite des Atlantiks irgendwo einen gutaussehenden, gebildeten Caballero, der mit ihr ins Alter tanzte, den Prinzen ihrer Kindheitsträume, der nie gekommen war. Eine Kröte mit Herthaschal hatte sie stattdessen erhalten.
Sie spürt ihr Herz pochen, und in ihrem Magen ist Unruhe.
Am Ventilator hängen noch Zettelchen, der nächste Termin zur Altersvorsorge, Telefonnummern, ein Passwort. Vorsichtig zieht sie sie ab, zerknüllt sie langsam und legt sie neben die Tastatur.
Sie hebt den Monitor an, unter den ein paar Büroklammern gerutscht sind, und klebt eine nach der anderen an den Magneten. Wer wird die Palmen gießen, fragt sie sich, doch was interessiert es sie noch?
Jemand klopft, Cedrik schaut herein. Was sie am Wochenende vorhabe.
Warum fragt er sie das, denkt Hannah, der fragt doch sonst nichts, sitzt immer still in seinem Büro, selbst zum Mittagessen konnte man ihn nicht gewinnen.
Sie lächelt ein künstliches Lächeln.
„Dies und das. Und selbst?“
Er wisse es noch nicht, erwidert Cedrik und verschwindet, ohne sich zu verabschieden.
Kurze Zeit später klopft er erneut.
„War noch was?“, fragt sie.
Der Hüne errötet. „Hab zufällig einen Zettel im Kopierer gefunden. Deiner?“
Nun ist es Hannah, die errötet. Scheiße, denkt sie. Genau das durfte nicht passieren. Wie konnte sie den Zettel im Kopierer vergessen? Sie hatte doch genauestens darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. War extra früh im Büro erschienen, damit sie den Papierkram erledigen konnte, bevor alle erschienen. Hatte sich vergewissert, dass nichts im Kopierer verblieb.
„Danke“, sagt sie und nimmt den Zettel an sich, mit dem Blick einer auf frischer Tat Ertappten.
„Schade“, sagt Cedrik.
„Behältst du es für dich?“, fragt sie.
„Wenn du mir schreibst.
„Was soll ich dir denn schreiben?“
„Wie es ist.“
„Ok.“
Er bedankt sich, lächelt, hebt die Hand zum Abschied und verschwindet.
Sie fährt den Computer herunter, erhebt sich im Drehstuhl, den sie noch eine Weile mustert. Dann nimmt sie ihren Mantel, steckt den Stapel Briefe mit all den Kündigungen in die Tasche, die sie noch zur Post bringen muss, und verschwindet aus ihrem alten Leben.