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Der letzte Tag
Der letzte Tag
Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch das Schlafzimmerfenster. Es würde ein wunderschöner Sommertag werden...
Meine Freundin und ich streckten unsere Glieder und waren sofort hellwach. Wir hatten beide gut geschlafen, waren ausgeruht, voller Kraft und Unternehmungslust.
„Ein schönes Frühstück wäre jetzt nicht schlecht“, meinte ich gutgelaunt.
„In der Küche sind bestimmt noch ein paar Reste von gestern“, entgegnete sie fröhlich.
„Gut – lass uns mal nachsehen. Kommst du mit?“
„Klar komme ich mit. Schließlich habe ich ebenfalls Hunger! Etwas Marmelade oder Honig wären nicht übel, gegen Wurst oder Käse hätte ich auch nichts.“ Sie sah mich mit gierigen Augen an.
Kurze Zeit später rochen wir in der Küche den Duft des frischen Kaffees, auf dem Tisch standen Butter, frischer Toast, Marmelade, Milch, Honig, ein riesiger Teller mit Schinken und hauchdünn geschnittenen Salamischeiben.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte ich. Wir ließen uns beide am Tischrand nieder. Meine Freundin saß mir gegenüber – ganz still – und sah mich ängstlich an.
„Was ist?“, fragte ich sie etwas erstaunt. „Ich dachte, du hättest Hunger.“
„Ich glaube, wir sollten vorsichtig sein“, flüsterte sie mir zu.
„Weshalb denn?“
„Ich weiß es nicht genau – aber ich habe so ein komisches Gefühl in der Magengegend...“ Ihr Flüstern war jetzt fast nicht mehr zu hören.
„Ach, was du dir wieder alles so einbildest! Da ist doch...“
Jäh unterbrach ich den Satz und erschrak, jede Nervenfaser in mir war augenblicklich zum Zerreißen gespannt und ich musste schlagartig erkennen: Ihre weibliche Intuition war der meinen wieder einmal haushoch überlegen gewesen, denn im Türstock stand plötzlich ein baumlanger Kerl. Er hielt eine Sprühdose in der Hand.
„Nichts wie weg hier!“ rief ich meiner Freundin zu. Wir flüchteten, so schnell wir konnten, von der Küche ins Wohnzimmer.
„Was machen wir jetzt?“ Meine Freundin sah mich ratlos an.
„Wir bleiben hier ganz ruhig sitzen. Dann geschieht uns nichts. Der Typ verschwindet sicher bald wieder.“
Fast gleichzeitig hörten wir beide dieses leise, verräterische Zischen...
„Wir müssen hier schnellstens raus!“ rief ich meiner Freundin zu.
„Aber hier können wir nicht raus. Es ist nirgends eine Tür oder ein Fenster offen“. Ihre Panik war nicht zu überhören.
„Mach schon, wir nehmen den Weg durch die Küche. Dort ist ein Fenster gekippt. Habe ich vorhin gesehen – aber schnell, sonst ist alles zu spät!“
Der penetrante Geruch von Pyrethrum lag bereits schwer in der Luft. Mir wurde speiübel...
Wir flogen los – ich voraus. Im Steigflug von fast 80 Grad mit sirrenden Flügeln rasten wir in Richtung Küche, mir wurde schwindlig, und gerade als ich eine sanfte Linkskurve in Richtung Küchenfenster einleiten wollte, sah ich mit den hinteren Facettenaugen verschwommen, dass meine Freundin abgestürzt war. Sie lag rücklings auf den Küchentisch, nicht weit vom Marmeladenglas entfernt, streckte ihre Beine in die Luft, durch ihren Körper ging ein krampfartiges Zucken, ihr Rüssel hing nur noch schlaff an ihrem Kopf, sie drehte den Körper, versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen, ein letztes verzweifeltes Schwirren der Flügel – dann war sie tot.
Um mich herum wurde es schwarz. Ich fühlte, dass es auch für mich zu spät war; auch ich hatte das Gift bereits im Körper und es entfaltete seine grauenvolle Wirkung, langsam – aber tödlich sicher...
Im Blindflug versuchte ich, das offene Fenster zu erreichen, doch meine Flügel gehorchten mir nicht mehr – ich flog an die Zimmerdecke, prallte ab und landete mehr fallend als fliegend in der offenen Butterdose.
Das letzte, was ich wahrnehmen konnte, war eine Stimme aus weiter Ferne, wie durch einen Wattebausch: „Dieses Jahr sind diese gottverdammten Fliegen aber wirklich lästig!“