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Der Letzte seiner Art
Ein unheimlicher Gedanke: Die Welt versinkt im Tode und man kann nur ohnmächtig seine letzten Gedanken hegen...
Ich, der wohl letzte meiner Art, durchstreife die Erde.
Ich sehe Tod und Zerstörung, aber keine Hoffnung.
Die Erde, ach, wie fremd ist mir diese Welt geworden, seit das Verhängnis unsere Seelen vom Antlitz dieses Planeten wischte, als wären wir kleine Nagetiere und nicht das, was wir dereinst waren: Die Herrscher dieser Welt, zu Land, zu Meer, zu Luft.
Millionen über Millionen von Jahren erzitterten Säuger und alles, was sonst noch im Schoße unserer großen Mutter fleuchte, unter unseren gewaltigen Schritten. Zugegeben, nicht alle diese Schritte waren wirklich gewaltig, aber wie titanisch mag der Kleinste unserer Art auf den Größten der anderen Arten gewirkt haben? Wer hätte es wagen können, diese unsere Herrschaft in Frage zu stellen, uns gar herauszufordern?
Wandelnden Fleischgebirgen gleich, so waren die Mächtigsten unserer Art. Selbst wir, die wir uns von denen, die Pflanzen fraßen, ernährten, wagten es nicht, diese Ungetüme zum Kampfe auf Leben und Tod zu stellen. Vielleicht, wenn wir Jagdgemeinschaften gebildet hätte, wie es die Kleinen der unseren taten, hätten wir die Giganten bezwungen.
Aber wir waren hochnäsig und streitsüchtig. Einmal geriet ich mit einem meiner Art in Konflikt: Die Erde erbebte unter uns, wir rangen miteinander, bissen, schlugen und hieben mit den Schwänzen aufeinander ein.
Ich verließ das Feld als gedemütigter Verlierer und fühlte mich noch einsamer – Natürlich nicht mit diesen schrecklichen Tagen zu vergleichen, doch ich sehnte mich nach Geborgenheit und Kameradschaft. Ausgerechnet jene, auf die wir hinabsahen, die wir jagten und deren hohle Knochen wir mit unseren Kiefern brachen, erzeugten Wehmut in meinem schweren Herzen.
Sie zogen in Herden den Kontinent entlang, stets auf der Suche nach Futter und Sicherheit.
Welch’ entsetzliche Tage sind angebrochen!
Während ich dies erzähle, kühlt meine schuppige Haut ab. Ich wünschte, ich könnte noch einmal einen Sonnenaufgang verfolgen.
Damals, vor dem Tag des Todes, erwachte ich, alsbald die ersten wärmenden Sonnenstrahlen meine Haut sanft umspülten. So deutlich, wie ich nun die tote Welt vor mir sehe, sah ich das alltägliche Wunder des Erwachens der Kinder unserer Mutter; sah ängstliche Wesen ihre Verstecke verlassen, mutigere Geschöpfe einen Fluss oder Tümpel aufsuchen, hörte das Schwirren der Insekten, den warmen Hauch des Windes, wenn er uns blind betastete.
Und dann machte ich mich auf den Weg an ein Gewässer, wo ich meine Haut benetzte. Manchmal, wenn der Tag kühl anbrach, fror ich, aber dieses Gefühl war tausendmal angenehmer als jenes nun, denn ich wusste, es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis es wärmer würde.
Und Zeit hatten wir genug. Daran mangelte es uns nie.
Hatte ich gefressen, schlief ich zumeist. Fliegende Wesen und andere meiner Art machten sich über den Kadaver der unglücklichen Kreatur her, die ihr Leben in mich gehaucht hatte.
Oftmals ließ ich sie in ihrem Schmarotzertum gewähren, was teils an meiner Müdigkeit, teils an meiner Faszination für ihr Treiben lag. Ich konnte lange den gleitenden Flug, dieses elegante Schwimmen in den Lüften derer, die Schwingen hatten, betrachten, ohne dass es mir an Interesse mangelte: Wie mochte unsere frühere Welt von oben, vom Firmament der Sonne aussehen?
Ich fand es nie heraus.
In den Tiefen meines Herzens bedauerte ich es, die Schwächeren um ihr wohlverdientes Leben bringen zu müssen.
Ich weiß, es war der Kreislauf der großen Mutter, der dies forderte, aber ich hasste es zunehmend, töten zu müssen, um zu überleben. Gleichwohl verabscheute ich es, jene meiner Art in rituellen, sinnlosen Duellen zu bekämpfen.
Irgendwann beschloss ich, jedem Kampfe auszuweichen und Platz zu machen, denn an Platz mangelte es nicht – damals.
Jetzt, im Zentrum des Todes, in der geballten Faust des Weltenverschlingers, weiß ich nicht, wohin ich flüchten könnte.
Ewigliche Nacht umfängt mich, heißes Feuer kühlt im Atem des Todes zu kaltem Gestein. Bald werden wir vergessen sein, nicht Legende, noch Vergangenheit.
Wem mag die Zukunft gehören? Wer wird auserkoren sein, im Lichte der Sonne Wärme zu trinken? Schmerz plagt mich, ein Schmerz, der nicht ausschließlich körperlicher Natur ist.
Blut sickert aus unzähligen Wunden in die Narben der großen Mutter, doch ist es nicht diese Tatsache, die mich bekümmert, es ist auch nicht die Gewissheit zu sterben.
Es ist die Sinnlosigkeit unseres Exitus, die meine Gedanken schwärzer als jene Staubwolken, die den Horizont einhüllen, macht.
Ach könnte ich zu Gefühlswallungen wie Wut und Rage noch fähig sein! Ich versuche es, doch sobald ich die leblosen und erkalteten Leiber der meinen erblicke, kehrt sich diese Anstrengung ins Gegenteil um und ich verfalle in Resignation.
Wie könnte ich jemals den Tag des großen Sterbens in Gedanken oder Emotionen fassen?
Ich bin der wohl letzte meiner Art und bemühe mich, in Würde zu sterben und das Ende der meinen, deren pulsierender Teil ich war, so zu besiegeln, wie es unserer Stärke gebührte.
Beißende Winde nagen an meinen Gelenken, frische Wunden reißen unablässig von neuem auf, meine Augen sehen Bilder der Vernichtung, die unbegreiflich sind.
Meine Köperkräfte sind aufgebraucht.
Ich lasse mich nieder, ein letztes wehmütiges Mal.
Ich senke meinen Blick und erkenne Blut, das mein eigenes ist. Hierhin also geht die Reise. Der Erde entrissen, der Erde versprochen.
Ich, der wohl letzte meiner Art, sinke in das pochende Herz der großen Mutter, welche ich mit meinem Blute nun ernähre.