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Der letzte Panda
Heute Nachmittag wird der letzte Große Panda der Welt sterben. Er wird morgens aufstehen, eine spezielle Mischung aus Bambus und Heu essen, sich im hochmodernen Kunstteich waschen, ein paar Runden durch sein Gehege wandern, sich in die Sonne legen, die Augen schließen, gähnen, und dann werde ich ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.
Es wird nicht einfach sein. Der gigantische Kopf, die rätselhafte Schwarz-weiß Färbung, die gemütliche Schwerfälligkeit, die geschminkten Augen… Pandas gehören zu den faszinierendsten und sanftmütigsten Geschöpfen der Erde, und Petey macht da keine Ausnahme.
Aber leider er hat die falschen Sponsoren. Petey wird seit Jahren von Politikern und Naturschutzorganisationen ausgenutzt und missrepräsentiert. Er ist eine Attraktion, er bringt Geld in die Kassen, er lässt die Menschen an eine tierfreundliche Welt glauben. Kurz, er vermittelt ein falsches Bild, und dem muss ich ein Ende setzten. Hinter der WWF mag zwar im Kern etwas Gutes stecken, aber Fakt bleibt, dass diese und ähnliche Organisationen überhaupt nichts bewirken – und die Politik sowieso nicht. Wie ist es sonst zu erklären, dass ausgerechnet das Symbol des Artenschutzes schlechthin in ein paar Stunden ausgestorben sein wird? Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Mit dem Großen Panda werden heute mehr als hundert weitere Spezies für immer die Erde verlassen, gar nicht davon zu sprechen, wie die Natur auf sonstige Weise ausgebeutet, geplündert und vergewaltigt wird. Aber das brauche ich euch gar nicht erzählen, nicht wahr? Dass die Natur am Arsch ist, das wissen wir doch alle...
Es wird nach meinem Attentat auf Petey einen gigantischen Medienrummel geben. Die Politiker werden ausflippen und schärfere Antiterrorgesetze einfordern, in den Schulen werden Lehrer Schweigeminuten einlegen, und natürlich wird die Meute meinen Kopf verlangen. Und wisst ihr was? Den sollt ihr ruhig haben, ich werde ihn euch auf einem silbernen Tablett servieren.
Ein vom Narzissmus geleiteter Soziopath werden die Psychologen sagen, einfach nur böse, werden die Christen behaupten. Der Pandakiller, der Tierquäler, der Gottlose! Ach, wie ihr mich hassen werdet! Ich kann jetzt schon die Empörung in euren gepflegten bürgerlichen Gesichtern sehen. Ihr in euren Einfamilienhäusern, die vor den Fernsehern sitzen. Das tut euch leid, ja? Welch Tragödie, nicht wahr? Der allerletzte Panda, und jemand knallt ihn einfach ab. So was! Ist ja unmöglich!
Und heult ja ruhig, heult bis euch das Fett aus den Tränensäcken quillt. Es ist ja so einfach und schick eine Träne für Petey zu vergießen...
Nur eine kleine Frage, wisst ihr wie der vorletzte Panda hieß?
Die kalifornische Sonne scheint heute über den San Diego Zoo wie in einem Dokumentarfilm über The Summer of Love. Kinder kreischen und essen Eis, verliebte Paare schlendern Händchen haltend an den Tiergehegen vorbei, als gebe es nur sie und sonst nichts auf der Welt, Rentner kichern mit Kumpels und lassen alte Zeiten aufleben. Aus einer Sprechanlage singt Paul Simon: Someone told me it's all happening at the zoo. I do believe it, I do believe it's true. Mmmmm... Mmmmm...
Niemand ahnt, was hier gleich passieren wird. Niemand ahnt, dass Peteys letzte Stunde schlägt.
It’s all happening at the Zoo.
Ich trage einen langen schwarzen Mantel, schlichte blaue Jeans und eine Baseballkappe der Yankees. Es ist natürlich zu heiß für so eine Aufmachung, aber wie soll ich denn sonst zwei Pistolen verstecken?
Ich habe in den letzten Monaten bestimmt an die zwanzig Mal Petey besucht. Ich kenne seine Lieblingsplätze, ich weiß, welche Steine er bevorzugt, welche Bäume er zum Rückenkraulen benutzt. Ja, das machen Pandas. Genau wie Balou.
Ich bin hier auch schon mit Plastikpistolen aufgekreuzt, nur um zu sehen, wie leicht oder wie schwer die Sicherheitsmaßnahmen zu knacken sind. Mich wundert noch immer, wie leicht diese Mission ist.
Ich bin doch im Land der Terrorkrieger und Sicherheitfreaks, oder nicht? In Amerika gibt es mehr Gefängnisinsassen pro Einwohner als in jedem anderen Land der Welt. Das ist Fakt. Paranoia ist hier Volkssport. Orwell lässt grüßen.
Aber um Petey kümmert sich niemand.
Um in das Tiergehege zu gelangen, lasse ich die Pistolen sprechen. Die Tierpfleger in der orangefarbenen Kleidung heben instinktiv die Hände in die Höhe, denn auch sie sind Amerikaner. Sie wissen, dass um jede Ecke der Tod in Form eines degenerierten Psychopathen lauert. Ohne mir zu widersprechen, holen sie mit zittrigen Händen ihre Schlüssel hervor, und gewähren mir Einlass in Peteys Reich.
„Auf den Boden, Hände hinter den Kopf, bis 100 zählen“, sage ich mit schroffer Stimme, und sie gehorchen natürlich. Das dürfte mir genug Zeit verschaffen, aber ich beeile mich trotzdem.
Schon bin ich draußen, und, jawohl, da ist er, wie erwartet, an seinem Lieblingsplatz hinter dem Bambusdickicht. Ich lasse meinen Blick für einen Moment über die Menge schweifen, die in fünfzig Meter Entfernung hinter der Absperrung still geworden ist und mich beobachtet. Ein paar Kinder zeigen mit dem Finger auf mich, und blicken dann nach oben, Richtung Eltern. Aber Mama und Papa können ihnen nicht erklären, wer ich bin. Noch nicht.
Ich zücke meine Pistole, und marschiere zügig auf Petey zu. Der Menge entweicht ein erstickter Schrei. Ich stehe jetzt direkt neben dem letzten Panda der Welt. Ich kann ihn sogar schnarchen hören. Ein tiefes, feuchtes Räuspern ist das, ein Geräusch, wie es nur Bären hervorbringen können. Sein Atem riecht nach einer Mischung aus Kompost und Katzenfell.
Ich hätte schon längst abgedrückt, aber Petey liegt mit dem Rücken zu mir. Ich muss ihn in den Kopf treffen, sonst leidet er womöglich, und das will ich nicht.
„Hey!“, rufe ich und klatsche in die Hände, damit er sich bewegt.
Und schon ist Petey auf den Füßen und sieht mich an.
Einem Panda in die Augen schauen zu dürfen, ist eine Ehre, die nur den wenigsten Menschen zuteil wird. Seine dunklen Augen treffen direkt ins Herz, und zum ersten Mal hege ich Zweifel. Ich will nicht abdrücken. Ich will Petey nicht umbringen. Trotzdem weiß ich, dass ich ihn mit diesem Schuss unsterblich machen kann. Er wird in das Bewusstsein jedes Menschen auf der ganzen Welt treten, und genau das soll er auch. Genau das verdient er. Genau das verdienen auch alle anderen Pandas, die vor Petey gestorben sind, und auch die andren 99 Pflanzen- und Tierarten, die heute ausgestorben sind. Ich kann die Menschheit dazu zwingen, sich auf drastische Weise mit dem Tod des letzten Pandas auseinanderzusetzen, und diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen.
Petey und ich schauen uns in die Augen, und ich glaube, wir verstehen uns. Er weiß, was jetzt gleich passieren wird.
Und er wehrt sich.
Wie ein Mensch richtet er sich auf und schreit mich an. Dieses tiefe, aggressive Bellen hätte ich dem kuscheligen Wesen gar nicht zugetraut. Es ist ein letztes Aufbäumen gegen eine schizophrene Welt, die ihn zu Tode liebt. Ich muss jetzt abdrücken, bevor er mich zerquetscht. Ich muss es tun.
Die Menge schreit auf, die Kinder beginnen zu weinen, und dann fällt der letzte Panda zu Boden.