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Der letzte meiner Art
Der Letzte meiner Art
Die heiße Sommernacht liegt über Paris wie eine schwere Decke. Die Stadt stöhnt unter der Hitze. Selbst die Seine hat die Hälfte ihres normalen Pegels eingebüßt. Die Bouquinisten an den Ufern und die Händler am Eifelturm haben längst aufgegeben. Bei dieser Hitze kauft niemand etwas. Nicht einmal nachts.Hoch über dem restaurierten Dach der »Notre-Dame de Paris« schmiege ich mich an den heißen Stein der berühmten Kathedrale. Ich kenne diesen Platz auf dem schmalen Vorsprung seit hunderten von Jahren. Hierher komme ich oft, wenn ich Abstand brauche zu den Menschen und ihrem Wahnsinn. Hier oben im Schatten sehen sie mich nicht. Aber heute komme ich selbsts unter den grotesken Wasserspeiern nicht zur Ruhe. Es ist nicht die Hitze, die mich quält. Hitze oder Kälte konnten mich noch nie berühren. Etwas anderes liegt in der Luft und ich spüre, wie die Erde leidet. In mir brodelt eine namenlose, alte Wut, die stärker wird und stärker. Dies ist meine letzte Nacht, aber die Menschheit ahnt noch immer nicht, was auf sie zukommen wird.
Durch die große Fensterrose an der Westseite dringt buntes Licht. Meinen Nachtaugen erscheint es fast zu grell. Wenn ich mich konzentriere, kann ich die Gläubigen singen hören. Wieder spüre ich die Wut. Sie beten einen »Vater-Gott« an, den sie nicht verstehen. Und gleichzeitig vergiften sie die Natur, ihre ursprüngliche Mutter. Natürlich sind es nicht die Christen allein, die meinen Zorn schüren. Es sind die Gierigen, die Egoisten, die Rücksichtslosen aller Religionen und Kulturen. Die ihre eigene Natur vergessen und verleugnen und dann die Erde schlechter noch behandeln, als sich selbst.
Meine Gedanken wandern zurück, zu den Wa´aka Odún des Nordens, damals vor über sechzigtausend Sonnenzyklen. Die Menschen wissen nichts mehr von ihnen. Viel zu lange liegt all das zurück. Eigentlich hätten sie es verstehen können. Wir hatten ihren Schamanen so vieles beigebracht. Und am Ende rotteten sie sich doch gegenseitig aus. Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Spuren dieses großen alten Clans. Nichts, was an sie erinnern könnte. Aber ich erinnere mich.
Ich erinnere mich auch an Xirabreşk, das die Menschen Göbekli Tepe nennen. Es fing so gut an, für viele hundert Jahre waren sie im Einklang. Und dann wieder Gier und Gewalt. Nur die Steinsäulen sind noch zu finden. Ihre Bildhauer waren berühmt. Unwillkürlich schaue ich nach oben, zu den Wasserspeiern der Notre-Dame und für einen Moment denke ich ihre Schöpfer. Längst tot und vergessen. Oft sind es nur die Steinmetze, deren Werke überdauern.
Ich denke an die Rapa Nui und das, was sie der Osterinsel angetan haben. Wieder waren es nur Steine, die am Ende blieben. Die Moai-Statuen sind schön und sie sind berühmt, aber die Wunden der Insel schmerzen noch immer. Ich kann den Schmerz der Erde tief in mir spüren
Ich erinnere mich auch an die Inka von Chichén Itzá. »Hochkultur« nannte man sie. Und am Ende zerstörten sie die Böden, töteten den Wald und starben schließlich. Ob ich das alles miterlebt habe? Nein, natürlich nicht. Wir Wächter verlassen den Kontinent unserer Geburt niemals. Aber alle meine Brüder und Schwestern teilten ihre Gedanken, Gefühle und die Gegenwart der Erde mit mir. Damals.
Jetzt sind sie alle tot. ´Xicoatl starb als letzter. Der Amazonas brannte, Tag für Tag, immer mehr. Dieser alte Wald starb und sein Wächter starb mit ihm: Atemzug für Atemzug, Stück für Stück. Wir leben fast ewig, aber man kann uns trotzdem töten. Wir können sterben. ´Xi starb, weil er all das nicht mehr ertragen konnte. Er ließ sich fallen und starb in dem Wasser, das er so liebte. Jetzt bin ich allein. Allein mit den Schmerzen, allein mit der Wut. Diese Wut ist älter als ich und größer. Es ist die Wut der Erde. Bald wird niemand mehr da sein, der sie aufhalten kann.
Ich teile diese Wut, sie verbrennt mich fast und so breite ich die Arme aus und lasse mich fallen. Meine Flügel wirbeln schwarz um mich herum und ich fliege über den Fluss, schnell wie ein Greif und lautlos, wie eine Eule. Niemand bemerkt mich. Ich muss hier weg. Weg von den Maschinen und ihrem Gestank, weg von den Menschen und ihren gierigen Gedanken. Meine Flügel tragen mich immer höher, bis die Luft klarer wird und kälter. Hoch über der Welt, lasse ich mich gleiten und weine.
Ich weine, weil ich mich erinnere. Unter mir war einst ein Urwald. Vom Mittelmeer bis hoch in den Norden konnte ein Eichhörnchen springen, ohne einmal den Boden zu berühren. Wie wundervoll waren diese Wälder. Uralt und weise. Mindestens einhunderttausend Sonnenzyklen braucht es, bis das Bewusstsein eines Waldes wirklich erwacht. Und weitere zwölftausend Zyklen bis sich – aus einem Ei im Waldboden – ein Wächter erhebt. Daher kommen wir. Nicht aus Gräbern und Gruften. Wir sind nicht untot, wir sind Kinder des Waldes und der Nacht. Aber es werden keine neuen Wächter kommen. All die großen alten Wälder sind tot oder zu kleinen Resten zurück gedrängt. Zerstückelt, verbrannt, vergiftet. Und die Wächter sind tot. Alle haben mir ihren Schmerz hinterlassen. Ich weine, und meine Tränen fallen nach unten, wo sie in der Luft zerstäuben.
An die letzten Jahre, will ich gar nicht denken. Es wurde immer schlimmer. Hiroshima, Seveso, Tschernobyl, Chuandongbei, Fukoshima und so viele mehr. Und noch schlimmer sind die schleichenden Katastrophen. Das Sterben des Waldes, der meine Wiege war, das Verblassen der Korallen, der Würgegriff von immer mehr Beton und Asphalt, die schleichende Vergiftung und vor allem das große Fieber. Sie nennen es „Klimawandel“, verharmlosen, verschleiern, was längst jeder wissen könnte, wissen muss. Die Erde stöhnt im Fieber. Wir haben versagt.
Dabei hatten wir sie alles gelehrt, was notwendig war. Sie hatten die Schamanen und die Druiden. Wir hatten ihnen die »Tabula Smaragdina« gegeben und die anderen weisen Texte. Sie hatten Zarathustra, Jesus von Nazareth und den Buddha. Sie hatten Yogi, Medizinmänner, Seher und Heilige. Ich hatte so sehr gehofft, Franz von Assisi hätte sie erreichen können, Hildegard von Bingen, oder eine der namenlosen Heiligen und Hexen. Sie hätten nur zuhören müssen.
Sie hätten auch auf uns hören können. Wir haben geredet. Zumindest haben es wir versucht. Aber sie hatten Angst vor uns, so wie sie Angst vor allem Fremden haben. So haben sie ihre Lügen verbreitet, wir wären Untote, Blutsauger. Weil wir meistens Nachts kommen, weil wir scheinbar unsterblich sind und unser Speichel rot ist. Als Monster haben sie uns verschrien. Wukodalak nannten sie uns, oder Vampire. Viele haben sie getötet, die letzten sind vor Schmerz gestorben und aus Verzweiflung.
Ich bin der letzte meiner Art. Der letzte Wächter. Und heute Nacht werde ich sterben. Ich werde vom Himmel fallen wie eine Sternschnuppe. Brennend werde ich in den Fluss fallen und vergehen. Nur die Wut wird nicht vergehen. Sie lebt in der Erde, sie fließt in jedem Wasser und weht mit der Luft. Sie ist älter als ich und wenn ich nicht mehr da bin, dann wird sie entfesselt. Ich weiß nicht, wie und wo sie sich entladen wird. Erdbeben, Tsunamis, Taifune überall oder Vulkanausbrüche. Die Erde wird anfangen, sich zu wehren und ich kann sie nicht mehr besänftigen. Ich will es auch nicht mehr.
Und so falte ich meine Flügel zusammen und beginne zu fallen.