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Der letzte Lauf
Sonntag – erst mal noch ein wenig Gartenarbeit, dann: Laufen oder nicht Laufen? Vielleicht doch besser morgen? – Stimmt ja, morgen ist Silvester, dann ist das Jahr schon wieder zu Ende. Und erneut bestätigt sich, was mir alle Jahre wieder auffällt: je älter ich werde, desto früher überrascht mich das Jahresende. Es muss ein Geheimnis dahinter stecken. Eines, das ich nur allzu gerne lüften würde. Also doch laufen? Dann am besten ein langer Lauf! Ein langer Lauf ist wie ein Tauchgang zum Grunde eines Sees. Ich habe schon so mache Erkenntnis dort gefunden und mit zurück gebracht an die Oberfläche des Alltags. Blick aus dem Fenster: blauer Himmel, ein paar Wölkchen. Blick auf die Uhr: oh, schon bald halb vier und um fünf wird’s dunkel. Dann aber los! Und die Stirnlampe nicht vergessen! Klamotten: besser die Laufjacke. Nur Sweatshirt wird wahrscheinlich zu kalt. Lange Sommerlaufhose müsste noch ausreichen. Und los geht’s.
Am See erst mal einen Parkplatz finden! Puh, da ist noch einer, hätte nicht gedacht, dass trotz der Kälte noch so viele spazieren gehen. Aber dann wird mir klar: es ist der letzte Sonntag in diesem Jahr! Ob die auch alle noch schnell ein Geheimnis ergründen wollen? ... Die ersten Kilometer – ziemlich flach – aber wie im Slalom – so viele Menschen. Dann biege ich ab, zum Höhenrundweg in den Wald. Jetzt geht’s erst mal 5 km nur bergauf. Da ist man alleine! – Ok, fast alleine. Vor mir: ein Mountainbiker. Der ist nicht gerade schnell. Aber es geht ja auch bergauf! Ich komme immer näher. Krieg ich den? Unwillkürlich packt mich der Ehrgeiz. Ich werde schneller. Schon lustig, dass man sich davon nicht frei machen kann und einfach nur ‚sein Ding‘ läuft. Gleich muss ich links abbiegen. Der fährt bestimmt geradeaus. Vorher muss ich ihn noch kriegen, sonst hab ich die Gelegenheit verpasst. Also noch ein bisschen Tempo zulegen. Und dann endlich: ich überhole. Da muss ich doch mal schauen, wer da so drauf sitzt. Von hinten konnte ich nur sehen, dass er eine Kapuze überm Kopf hat – natürlich keine Freizeitjacke sondern Outdoor-Funktionsklamotten, also keiner, der einfach nur nach Hause fährt, sondern ein Sportler. Ein Blick ins Gesicht – ein kurzes „Hallo“, natürlich den Triumpf nicht anmerken lassen, und noch ein kleines Stück dann geht’s links ab. Ein Blick zurück: tatsächlich, er fährt gerade aus. Da bin ich beruhigt, kann wieder etwas Tempo heraus nehmen - bin ja wieder alleine. Und auf dem Weg nach oben merke ich, wie ich den Triumpf noch genieße: der war mindestens zwanzig Jahre jünger als ich! Und ich mache ihn nass, zu Fuß! Tschaka! – Ich gebe zu, das ist infantil, aber das leiste ich mir, es macht irgendwie Spaß.
Auf halber Höhe: Blick zum Horizont über dem See, die Sonne steht schon tief, in der Ferne ein paar Wolkenfetzen, der Himmel wird langsam gelblich. Weiter bergauf - ich fühle mich gut - kommt mir so vor, als könnte ich immer weiter so den Berg hochlaufen. Fast oben, da sind doch tatsächlich zwei Gestalten vor mir, Spaziergänger. Ich nähere mich ihnen von hinten – hoffentlich erschrecken die nicht. Hab schon Frauen schreien gehört vor Schreck, nur weil ich sie von hinten überrascht hatte - ich meine überholt. Also ein hrrrrr Spuck, so zehn Meter vorher, sie drehen sich um. Eine alte Dame, im Wintermantel, schlohweißes Haar, gelockt, etwas blass im Gesicht, bestimmt über achtzig. Ein ‚Hallo‘ im Vorbeilaufen, ein kurzer Blickkontakt und aus ihren Augen sprüht so ein Leuchten, wie von Stolz und Freude, hier noch wandern zu können in ihrem Alter, und von Begeisterung über den herrlichen Blick auf die untergehende Sonne über dem anderen Seeufer. Und ein wesentlich jüngerer Mann, um die vierzig - wohl ihr Sohn. Wintermantel und Kapuze über dem Kopf mit schwarzem Vollbart, braunen Augen. Der Blick fast düster, gedankenversunken, als musste er mitwandern. Anscheinend ein Mensch mit wenig Begeisterungsfähigkeit für Bewegung und Natur. – Wie unterschiedlich Menschen doch sein können, denke ich. Und was man auch tut, wie sehr man sich auch bemüht - oder wie lange - manchmal gelingt es einfach nicht, einen anderen für das zu begeistern, was einem selbst so viel bedeutet!
Die Sonne ist bald weg. Der Himmel wird immer dunkler. Das Gelb verwandelt sich in ein Gelb-Orange. Das muss ich fotografieren! Nur ist’s hier schlecht. Oben auf dem Gipfel muss es optimal sein! Aber das ist noch ein Stück. Schaffe ich es noch bis ganz oben, bevor das schönste Leuchten schon wieder verblasst? Ich werde schneller. Diesmal fällt mir gar nicht auf, dass ich aus einem ganz anderen Grund schneller werde. Dieser Grund kommt von innen. Es ist nicht Ehrgeiz. Es ist der Wunsch, den schönsten Moment des Abends, diesen Anblick von unbeschreiblicher Schönheit einzufangen. Ein – wie ich finde – ehrenvolleres Motiv zum Schneller-Werden-Wollen, aber genauso albern: ich komme oben an, fixiere mein Smartphone an einem Baum, damit das Bild nicht verwackelt – Klick, und nochmal Klick. Ein Blick auf’s Display: albern! Es gelingt mir einfach nicht, es einzufangen. Was ich sehe, ist nur ein Abklatsch, eine schlechte Kopie. Ich bin halt kein Fotograf. Es wird mir wohl nie gelingen, DAS auf ein Foto zu bannen. Egal – versuchen werd‘ ich’s trotzdem immer wieder. Die Chance ist zwar nur ungefähr 1:1 Millionen, aber wenn man’s nie versucht, kann’s auch nie gelingen…
Ab jetzt geht’s erst mal ein gutes Stück bergab. Ich liebe bergablaufen. Und heute klappt’s besonders gut. Der Boden ist zwar uneben, voller Blätter, man weiß nie, wo man mit dem nächsten Schritt landet, aber die Schritte werden immer größer, die Geschwindigkeit immer schneller, der Wind bläst ins Gesicht, das Laufen nähert sich dem Schweben. Der Wald zieht an mir vorüber. Dann fangen die Augen etwas an zu tränen. Der Boden wird unscharf. Wenn jetzt ein Ast daliegt oder ein Stein, dann könnte ich es nicht erkennen. Einen Moment denke ich, ich muss abbremsen, weil ich sonst stolpern könnte und dann: nein, das wäre viel zu schade. Diesen Flow unterbrechen, wo’s gerade so schön ist? Ich hab das sichere Gefühl, dass nichts passieren kann. Und wenn ein Stein dort läge – ich würde ihn ja kaum berühren, vor lauter Schweben. Das Vergnügen dauert eh nie lange, da kommt schon wieder die nächste Steigung.
Der Weg geht wieder ein paar Kilometer bergauf – zurück dorthin wo ich herkomme. Jetzt heißt es: Kräfte sparen. Normalerweise laufe ich so zehn Kilometer. Das hier ist jetzt fast das Doppelte bei rund 600 Höhenmetern und erfahrungsgemäß wird’s dann gegen Ende immer schwerer. Also schön gemütlich den langen Weg bergauf – schau da! Das Pärchen von eben, die Mutter mit Sohn kommen mir entgegen. Ein freundliches Hallo im Vorbeilaufen, aber der Blick der alten Frau ist ganz anders. Das Strahlen ist weg. Der Blick ist diesmal verwundert, verstört, beunruhigt? Irgend so was. Ein ganz klein wenig davon lag schon eben in ihrem Strahlen. Ob die Strecke wohl doch zu lange ist für sie? Hat sie Sorge es noch zu schaffen bis zurück? Und es wird ja langsam dunkel! Oh, das gilt natürlich auch für mich. Aber ich habe ja noch meine Stirnlampe in der Tasche, für den Notfall.
An dieser Stelle hätte ich auf die Uhr schauen können. Von hier aus führt ein Weg zurück zum Wagen, ich wäre in zehn Minuten dort gewesen. Aber ich hab nicht auf die Uhr geschaut. Mir hätte klar sein müssen, dass der jetzt eingeschlagene Rückweg unweigerlich in die totale Dunkelheit führen musste. Aber ich war gar nicht mehr fähig, darüber auch nur nachzudenken. Ich war auf die lange Strecke fixiert. Ist das schon der beginnende Altersstarrsinn? Dass man vom einmal gefassten Plan nicht mehr abweichen kann? Oder fällt einem nur im Rückblick auf, welche Alternativen man gehabt hätte? Es lief so gut bisher, also laufe ich einfach weiter, bergauf – einatmen – ausatmen…
Als ich oben ankomme, ist es schon ziemlich dunkel. Jetzt geht es ein paar Kilometer nur bergab. Das ist meine Chance: jetzt kann ich nochmal richtig Tempo machen, ohne große Anstrengung. Aber man erkennt am Boden kaum noch etwas. Ich sehe den Weg, aber Steine oder Äste nicht mehr. Egal – eben ging‘s ja auch: also im Blindflug bergab. Es zieht sich und zieht sich und dann, endlich sehe ich schon das Ende des Waldes. Der erste Blick auf die dahinter liegende freie Fläche tut sich gegen den schwarzblauen Nachthimmel auf.
Wind kommt auf, kalt und scharf. Und er wird immer schärfer, bis ich merke, dass das Scharfe gar nicht der Wind ist, sondern ganz feine Regentropfen, die mit hoher Geschwindigkeit ins Gesicht gepeitscht werden. Oh nein! Bitte jetzt keinen Regen! Es sind noch fünf Kilometer bis zum Auto, das muss doch jetzt nicht sein! Je mehr sich die Bäume lichten, desto stärker und schärfer wird der Wind; der Regen immer mehr, die Tropfen immer größer. Sind das überhaupt Tropfen? Nein, das ist Schnee, aber harter Schnee, - so eine Art Eisschnee. Ich komme ins Freie, über mir der immer noch schwarzblaue Himmel. Vor mir liegt eine gute Strecke freies Feld. Und mitten darin mein Weg.
Aber was ist das? Es ist ein Anblick, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe. Vor mir in 100 Metern Entfernung eine schwarze Wand oder eine gigantische Walze. So etwas kenne ich bisher nur aus Filmen über Sandstürme in der Wüste. Und sie kommt genau auf mich zu – gruselig! Der Wind wird immer stärker und der Schnee immer mehr. Mein Gesicht beginnt einzufrieren. Meine Beine werden kalt. Ich hätte doch die Winterhose nehmen sollen! Egal – da muss ich jetzt durch! Im Handumdrehen bin ich mittendrin. Von jetzt auf gleich wird es fast komplett dunkel. Aber ich hab ja Gott sei Dank noch meine Stirnlampe. Ich nehme sie aus der Tasche und ziehe sie über den Kopf, mache sie an – nichts passiert. Das gibt’s nicht, ausgerechnet jetzt gibt sie den Geist auf! Wahrscheinlich hat sie eingeschaltet in der Schublade gelegen: wenn ich die Hand davor halte, leuchtet noch ein schwacher Schein, das war‘s. Also mach ich sie wieder aus.
Aber das Band um die Stirn schützt ein wenig vor der beißenden Kälte, ich lasse es an. Ich sehe fast nichts mehr, nur noch verschwommene Schattierungen von Hell und Dunkel. Meine Brille! Ich fühle ans Glas. Der Schnee, der jetzt waagerecht ins Gesicht bläst, hat eine Eiskruste auf den Gläsern gebildet! –Kein Wunder, dass ich nichts mehr sehe. Aber ohne Brille sehe ich fast ebenso wenig. Ich versuche die Gläser mit den Fingern abzuwischen und setze die Brille wieder auf. Das ist etwas besser – für einen Moment – bis das Glas im nächsten Moment wieder vereist ist. Also gebe ich auf, ich lasse sie in der Hand. Jetzt stechen die Eisflocken wie hunderte Nadeln in die Augen. Es ist nicht zu fassen: ich hab‘ die Augen fast ganz zugekniffen und trotzdem treffen diese Eisteilchen in die Augen, dass es schmerzt, es ist nicht vermeidbar, ich muss ja noch etwas sehen. Ich bin froh, dass ich den Weg noch erkenne.
Der Schnee hat auch etwas Gutes: wieder im Wald sind die Bäume dunkel und der Weg schneehell. Ok, ich kenne den Weg ja. Ich muss dem Weg jetzt nur noch folgen, dann komme ich zum Parkplatz. Meine Beine werden immer kälter. Ich merke, dass die Bewegungen immer schwerer werden, ich weiß nur nicht warum: ist es die Erschöpfung oder die Kälte? Mein Gesicht spüre ich fast nicht mehr. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis man Erfrierungen bekommt. Als erstes werden wohl die Ohren abfrieren. Aber ich bin ja in Bewegung, also bloß nicht aufhören zu Laufen. Ich laufe und laufe durch den tosenden Schnee. Gleich muss es bergab gehen. Ich kenne die Strecke genau. Aber es geht nicht bergab. Es geht nur geradeaus. Da müssten Kurven sein. Langsam fängt der Schnee unter den Schuhen zu knirschen an. Ab und zu dunkle Flecken auf dem weißen Boden – Pfützen oder freigewehte Flächen? Egal- ich versuche dran vorbei zu laufen.
Ganz langsam wird es heller - mitten im Wald! Oder kommt es mir nur so vor? Es kann nicht heller werden, der Schnee ist viel zu dicht. Ich schaue kurz nach oben. Kein Mond in Sicht – nur Dunkel. Und doch wird es irgendwie silbrig hell – überall und gleichmäßig, geradezu gespenstig. Man kann höchstens zehn Meter weit sehen und doch wird es hell. Es muss bald bergab gehen! Tut es aber nicht. Wo bin ich? Ich hab die Orientierung verloren, auf dem einzigen Weg am See entlang! Ging es schon bergab und ich hab’s bloß nicht bemerkt? Ich weiß es nicht. Ich komme mir vor, wie im Nirgendwo. Vom See her höre ich ein Plätschern. Was kann das sein? Unmöglich, dass jetzt ein Tier dort planscht! Nein, das ist der Sturm! Er peitscht das Wasser gegen das Ufer. Das Licht wird heller, obwohl es nicht weniger schneit. Jetzt erkennt man ganz deutlich die Schatten der Bäume. Wann geht es endlich bergab? Ich müsste schon längst dort sein! Das Licht wird noch heller, als wären tausend LED’s unsichtbar überall verteilt. Das ist unmöglich! Es ist, als leuchtet mir der Teufel den Weg in die Hölle! Wenn ich jetzt stolpere, mich verletze, den Fuß verknackse, dann bin ich rettungslos verloren. Das Smartphone ist hier nutzlos – im Funkschatten des Vulkankraters. Ich könnte stundenlang schreien – niemand würde es hören. Dann war es das! Ich würde hier in kürzester Zeit erfrieren.
Meine Knie schmerzen mittlerweile, die Beine sind steif. Irgendwann werde ich nicht mehr laufen können. Dann rechts schemenhaft ein Schild. – Ein Schild? Hier kann kein Schild sein! Ich bin nicht mehr in der Lage, zu überlegen, wo ich denn sein könnte. Es gibt auf dieser Strecke nur zwei Schilder – diese Hinweise auf die Vögel des Waldes oder die Geologie des Maares. Ich merke, dass ich nicht mehr denken kann – egal: ich muss nur dem Weg folgen, bis ich an den Parkplatz komme. Der Parkplatz muss irgendwann kommen! Jetzt geht es bergauf! - Bergauf? Der Weg wird breiter. Ich laufe und es ist total verrückt: es ändert sich nichts. Das Bild des weißen Weges und der dunklen Schatten ändert sich nicht. Ich laufe, dass es richtig quälend ist, aber ich komme nicht mehr vorwärts. Dabei ist es total still. Der Wind hat scheinbar aufgehört. Das trockene Knirschen meiner Schritte im Schnee, das klingt wie in einem engen Raum, ist das Einzige, was beweist, dass ich wirklich laufe. Ich muss irgendwann ankommen - wenn ich es noch schaffe – egal was mir meine Sinne vorgaukeln – irgendwann muss der Parkplatz kommen!
Jetzt wird mir klar, dass ich es nicht merken würde, wenn ich zusammenbräche. Es wäre ein fließender Übergang. Es würde mir noch eine Zeit lang so vorkommen, als würde ich laufen, und dann wäre ich plötzlich am Tor - von Frau Holle – oder so…
Doch da taucht es auf: Licht am Ende des Weges, der Parkplatz. Ich hab’s geschafft, und ohne Erfrierungen! Mittlerweile liegen zehn Zentimeter Schnee – auch auf der Straße. Ich komme den Berg nur deshalb rauf, weil ich Winterreifen drauf habe. Am Berg fahre ich an fünf Autos vorbei, die stecken geblieben sind. Und vier Kilometer weiter, zu Hause, ist nichts! Fast kein Schnee, die Straße ist vollkommen schneefrei! Ich komme ins Haus und werde begrüßt: „Und? War’s schön?“ Welche Frage nach solch einem Lauf. – War’s schön! – Aber: ja, ich habe wieder etwas mitgebracht, vom Grunde des Sees. Nur das, was ich eigentlich wollte, war diesmal nicht dabei. - Macht nichts, vielleicht beim nächsten Mal.