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Der letzte Hirte
Der Morgen war sonnig und klar auf den Hügeln.
Roman Vattenfall blickte in das verschneite Tal hinunter. Unter dem Schnee lag ein kleiner Ort wie eine Leiche unter einem glitzernden Tuch. Nebelfetzen markierten den Lauf eines Baches, der das Dorf durchfloss.
Sein Atem ging schwer und brodelnd. Er war seit Tagen in dieser Eiseskälte unterwegs.
Jetzt aber fühlte er sich voller Tatendrang, und Hunger und Schmerz, die an seinem ausgemergelten Körper fraßen, waren nur ein entferntes Jucken im Hintergrund seines Gemütes.
Die Vorfreude auf kommendes Wohlergehen wurde von der Erinnerung an das letzte Mal getragen. Frisches Fleisch und warme Haut, das Entzücken von Machtgefühl und ausgelebter Begierde durchfluteten seinen Geist und trugen ihn auf einer Welle der Euphorie durch den hüfthohen Schnee ins Tal hinab.
Pastor Carsten Matthis beschirmte die Augen mit der flachen Hand und blinzelte durch das Glitzern des Schnees in die Ferne.
War da eine Gestalt, die sich von der anderen Talseite Richtung Wildberg bewegte? Er schüttelte sich, denn wenn dort keine anderen Geister ihr Unwesen trieben, dann war er einer Täuschung aufgesessen. Seit Jahren war hier niemand, außer den Kindern. Zwei verirrte Lämmer waren der klägliche Rest seiner von der Seuche dezimierten Herde.
Er hatte damals die Kirche zum Spital gemacht, war der letzte Krankenpfleger und schließlich der letzte Totengräber in Wildberg geworden, bis nur er und die beiden Kinder übrig blieben.
Müde schlurfte er in den Wildschütz zurück, jenes Gebäude, das einst ein Ausflugslokal und nach der Seuche eine Zuflucht geworden war.
Im Gästeraum lag Stroh, es roch nach Dung. Er hatte hier Stallungen eingerichtet, in dem eine Ziege, ein Schwein und eine Handvoll Hühner überwinterten.
Der ehemalige Tagungsraum dahinter war nun die Wohnung der Kinder, denn dort stand ein alter Kanonenofen, der mit Holz zu befeuern war. Matthis betrat diese Stube.
Von der Decke hingen Zwiebeln und Kräuter. Eine getigerte Katze lag zusammengerollt auf dem Fensterbrett.
Ein blondes Mädchen im Teenageralter saß am Tisch und schnitt Brot. Ihr brauner Wollpullover hing übergroß an ihr wie ein Sack.
Ein dunkelhaariger Junge mit erstem Bartflaum stand am Ofen und goss Tee auf. „Und ich hab’s wieder gehört, Jenny“, sagte er gerade. „Wenn der Wind aus Norden kommt, ist’s ganz deutlich. Ein Motor!“
Das Mädchen holte zwei Teller und zwei Tassen aus einem Bauernschrank. „Du spinnst, Kevin. Weißt gar nicht, wie sich ein Motor anhört.“
Kevin knallte die Teekanne auf den Tisch. „Weiß ich wohl. Der Pastor hat’s mir erklärt, damals! Wo Menschen sind, da ist Motorlärm, hat er gesagt.“
„Der Pastor?“ Sie tippte sich an die Stirn. „Der hatte Wichtigeres zu tun. Motor? Blödsinn von früher!“
Kevin winkte ab. „Ach, lass uns beten … ich hab’ Hunger.“
Matthis setzte sich zu den Kindern, die für ihn nicht gedeckt hatten. Das war in Ordnung, er hatte seitdem er vor zwei Jahren in den Bach gestürzt war keinen Appetit mehr, im Gegensatz zur Katze, die von der Fensterbank sprang und schnurrend unter dem Tisch Platz nahm.
Vattenfall hockte vor einem Fenster und spähte hinein. Die Rauchfahne hatte ihn zum Wildschütz getrieben.
Ein junges Pärchen ließ es sich drinnen gut gehen. Brot und Käse füllten ihre Mägen. Sein Blick klebte an den Lippen des Mädchens fest, die sich im Rhythmus des Kauens bewegten.
Erregung erfasste ihn, ein Speichelfaden tropfte aus seinem Mundwinkel. Junges Fleisch und Nahrung! Er war am Ziel seiner Träume! Seine Hand tastete unter sein Jackett und spürte eiskalten Stahl, der die Kuppen seiner erfrorenen Finger ritzte. Ein Gefühl von Macht straffte seine Muskeln, besser und härter als jede Droge.
Für eine Sekunde wurde das Gesicht des Mädchens von einem anderen überlagert. Eine flüchtige Erinnerung an Sonne, Strand und Kinderlachen streifte Vattenfalls Bewusstsein.
Er schüttelte sich wie im Albtraum, dann war er wieder im Hier und Jetzt, im Rausch von Hunger und Machtgier.
Die Stubentür prallte mit einem Knall gegen die Wand, und unvermittelt stand ein Fremder im Raum.
Jenny fiel ein Stück Brot aus dem offenen Mund, Kevin schüttete sich Tee auf das Hemd. Unter dem Tisch buckelte die Katze und fauchte. Matthis erhob sich langsam.
Der Fremde sah aus wie dem Grabe entstiegen, knochendürr und in einem zerrissenen schwarzen Anzug gekleidet. Sein graues Haar stand verfilzt nach allen Seiten ab.
Kevin und Jenny blickten sich verwirrt an.
„Woher kommen Sie denn?“ Matthis hatte sich soweit gefasst, dass er einen Satz herausbrachte. Der Fremde ignorierte ihn und zog ein langes Schlachtermesser aus seinem löchrigen Jackett.
Die Tigerkatze fauchte und sprang den Mann an.
Ein roter Blitz fuhr durch die Stube und blendete Matthis für eine Sekunde. Die Katze verharrte im Sprung in der Luft.
Eiseskälte erfüllte Matthis. Alles um ihn war erstarrt.
Ein dunkler Schatten löste sich von dem Fremden und nahm die Gestalt einer Rauchsäule an.
Matthis trat einen Schritt zurück. „Wer bist du?“
Die Rauchsäule formte sich zu einem konturlosen dunklen Mann. Ein klirrendes Lachen erfüllte Matthis Kopf.
„Die Frage ist doch eher, was ich bin, kleiner Mann“, klang eine Stimme hinter seiner Stirn. „Aber das weißt du doch, oder? Mein Name ist Legion. Und mit wem habe ich die Ehre?“
Matthis wich bis zum Fenster zurück. „Matthis. Ich bin… ich war der Pastor von…“
„Einer von den Guten! Na so etwas!“ Die Stimme triefte vor Hohn. „Soll ich den schwarzen Hut aufsetzen?“
„Ja, du hast recht. Einer von den Guten.“ Matthis nahm allen Mut zusammen. „Ich werde nicht zulassen, dass du die Kinder tötest.“
„Hältst du mich für so schlecht?“ Der Dunkle kicherte. „Ich will sie doch nicht töten. Ich werde sie besitzen!“
Ein Blitz zeriss das rote Erstarren, und um Matthis herum erwachte die Welt erneut zum Leben.
Die Katze prallte gegen den vorwärtsgehenden Fremden, der strauchelte und der Länge nach hinschlug. Das Schlachtermesser flog durch den Raum und bohrte sich in die Tischplatte. Kevin zog es heraus und stürzte auf den am Boden liegenden Mann.
„Kevin, nein!“, schrien Jenny und Matthis gleichzeitig.
Eine grelle Lichtbahn schlug durch die Stube und blendete den Pastor ein weiteres Mal. Als sich sein Blick klärte, war der Raum in rotglühende Starre verfallen.
Matthis drängte sich auf die Fensterbank, denn der Dunkle hockte nun in der Mitte des Raumes auf dem Tisch.
Er deutete auf den ausgemergelten Mann im absurden Anzug, der die Arme schützend über dem Kopf verschränkt hatte.
„Schau, kleiner Mann. Der arme Vattenfall war einmal eine große Nummer. Macht und Kraft! Herr über tausende von Arbeitern. Und jetzt? Ein Wrack mit ausgebrannten Batterien.“ Der Dunkle tätschelte Jennys Wangen. „Da lobe ich mir doch diese kraftvolle Jugend. Das ist meine Zukunft. Töten? Nicht doch …“
Matthis sprang von der Fensterbank. „Finger weg!“
Der Dunkle wich vom Tisch zurück und legte den Kopf schief. „Sonst tust du was?“
Matthis schlug ein Kreuz in die Luft und rief mit feierlicher Stimme: „Hebe dich hinfort!“
Ohrenbetäubendes Gelächter flutete den Raum. Matthis wurde schwindlig, er ging in die Knie.
„Sehr witzig“, sagte der Dunkle. „Jetzt fahre ich vor lauter Angst in das Schwein. Oder? Für wen hältst du dich, Pfaffe?“
„Gute Frage“, murmelte Matthis. „Täglich bete ich um Antwort. Warum bin ich noch hier? Was ist meine Aufgabe?“
Er setzte sich an den Tisch. Der Dunkle schlenderte zur Tür. „Was geht’s mich an“, brummte er.
Matthis schüttelte den Kopf. „Vielleicht ging es nur um diesen Moment. Vielleicht bin ich nur hier, weil du irgendwann hier auftauchen musstest.“ Er trat auf den Dunklen zu, der sich in den Türrahmen presste.
„Ich bin beeindruckt, Pfaffe. Du bist nur halb so dumm, wie du aussiehst. So viele Seelen gibt es nicht mehr, um die wir streiten könnten. Und jetzt?“
„Du sprachst von Batterien. Da gibt es Plus und Minus.“ Matthis lächelte nun. „Was ergibt plus eins und minus eins?“
„Das hebt sich gegenseitig auf.“ Die Stimme des Dunklen klang wie aus einem tiefen Tunnel.
„Amen!“ Matthis sprang in den dunklen Schemen hinein.
Das Letzte, was er wahrnahm, war ein Funkenregen aus Licht und Dunkelheit und das sich entfernende Heulen des Dunklen.
Kevin ließ das Messer sinken. „Mensch, hatte ich Angst.“
Er ging neben dem Fremden in die Hocke. Noch nie hatte er so ein Gesicht gesehen, so alt und knochig.
„Tut mir leid.“ Der Fremde roch krank und eitrig. Sein Atem ging stoßweise. „Wollte das nicht … war nicht ich selbst …“
Das Mädchen kam näher. „Schon gut, du hast uns nur erschreckt. Was sollen wir tun? Können wir helfen?“
„Danke.“ Der Mann tat einen letzten, tiefen Atemzug und erschlaffte.
Kevin seufzte. „Ich hatte recht, da sind noch andere“
Das Mädchen knuffte ihn an der Schulter. „Das ist nicht wichtig, jetzt. Wir müssen ihn begraben. Armer Kerl.“
Kevin nickte. „Ich hol die Schaufel, okay. Und wo?“
Jenny strich durch das Haar des Fremden.
„Neben Matthis’ Grab“, sagte sie schließlich. „Dann ist der Pastor nicht so allein.“