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Der letzte Gedanke
Schreie, ich hörte ihre Schreie. Die Wut in seiner Stimme, die Verzweiflung in ihrer. Das Bild aus Kindertagen kam in mir auf. Ein kleines verschrecktes Mädchen, in einer Zimmerecke kauernd, die Hände fest an die Ohren pressend. Mittlerweile war ich eine gestandene Frau von 35 Jahren, aber die Ängste waren dieselben, wenn ich meine Eltern streiten hörte. Es wurde still und ich hoffte inständig, dass sie sich beruhigt hatten. Doch diese Ruhe vor dem Sturm kannte ich nur zu gut.
Als wenn es gestern gewesen wäre, erinnerte ich mich an den ersten Ausraster meines Vaters und an die Furcht, die aus den Augen meiner Mutter sprach. Er hatte ihr ein Messer an den Hals gedrückt. Die ersten Tropfen Blut benetzten bereits den Fußboden, als ich in die Küche getreten war. Sie hatte ihn wimmernd darum gebeten sich zu beruhigen. In seinen Augen jedoch blitzte solch ein Wahnsinn auf, dass ich erschrak. Noch nie zuvor hatte ich ihn so erlebt, in diesem furchtbaren Rausch.
„Papa?“ Ich starrte ihn an und von einem Moment auf den nächsten ließ er das Messer sinken, um gleich darauf einen bedrohlichen Schritt auf mich zuzumachen. An diesem Abend hatte ich die erste Tracht Prügel meines Lebens erhalten. Dermaßen, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Tagelang hatte ich das Haus nicht verlassen dürfen.
„Sonst fragen dich die Leute noch aus.“ pflegte Vater zu sagen. Am Anfang hatte er sich noch entschuldigt, aber irgendwann erkannte er keine Schuld mehr in seinem Handeln und machte Mutter für all dies verantwortlich. Mit 18 Jahren war ich schließlich in die Arme meines heutigen Ehemannes geflohen, bekam einen Sohn und gründete meine eigene Familie. Ich hatte über Jahre hinweg einen sporadischen Kontakt zu meinen Eltern gepflegt. Dieser Samstag jedoch, war das erste Mal seit langem, dass ich wieder in meinem Elternhaus übernachtete.
Es war ein sehr schöner Abend gewesen, zu schön um wahr zu sein. Mein Vater verhielt sich so, wie zu der Zeit, als er noch seinen Job hatte. Wir hatten gemütlich zwei Flaschen Wein getrunken, gut gegessen und zum Abschluss des gelungenen Abends ein paar Runden Yahtzee gespielt. Von jetzt auf gleich allerdings war Vater wieder zu dem erbarmungslosen Monster geworden, welches ich zehn Jahre, Tag für Tag hatte ertragen müssen.
Er wütete wie ein Berserker, warf die leeren Weinflaschen an die Wand und betitelte Mutter als eine „Schlampe“. Seit seiner Arbeitslosigkeit hatte ihn schon immer der Gedanke gequält, Mutter könnte eine Affäre haben, da er sich selbst für einen Versager hielt. Hin und wieder hatte sie sich tatsächlich mit jemand anderes getroffen, einem Arbeitskollegen, der jedoch nie irgendwelche Gefühle für sie hegte. Das Einzige wonach Mutter sich jemals gesehnt hatte, war jemand, dem sie sich anvertrauen konnte.
Zu meiner Verwunderung hatte Vater sich sehr schnell wieder beruhigt, doch der Abend war für mich gelaufen. Ich wünschte eine gute Nacht und verkroch mich im Wohnzimmer. An Schlaf war aber nicht zu denken. Immer wieder zuckte ich zusammen und verfolgte den Streit mit. Auf gewisse Weise kam ich mir lächerlich und kindisch vor. Ich hätte einschreiten sollen, stattdessen saß ich auf dem Sofa und wartete ab.
Die Stille wurde durchbrochen von einem erneuten Stimmengewirr. Das Geschrei schwoll nun zu einer unerträglichen Lautstärke an. Klar und deutlich vernahm ich ihre Worte.
„Wenn du nicht die Fresse hältst, dann werde ich sie dir stopfen.“
„Wag es nicht mich anzurühren.“
„Du bist ein Miststück. Ich werde dir schon zeigen, wo es lang geht.“
„Tu das bitte…“
Ein dumpfer Schlag erklang. Dann ein weiterer. Die Stimmen meiner Eltern verstummten. Irgendetwas musste geschehen sein. Ich lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Kein Laut war mehr zu hören. Ohne zu zögern sprang ich von meiner Schlafstätte auf und huschte auf leisen Sohlen zu der Tür hinüber, die das Wohnzimmer von der kleinen Eingangshalle trennte. Einen kurzen Augenblick spähte ich durch die Milchglasscheibe. Nichts regte sich dahinter. Mit zittriger Hand drückte ich die Klinke hinunter. Ich schob die Tür ein Stück auf und trat aus dem Wohnzimmer. Die Fliesen auf denen ich lief waren eiskalt und ich hatte das Gefühl, dass diese Kälte meinen gesamten Körper hinaufstieg. Ich bebte vor Angst. Die wilde Entschlossenheit, die ich zuvor noch verspürt hatte, wich auf einen Schlag. Langsam ging ich auf die verschlossene Küchentür zu. Mein Herz pochte wild, als ich sie öffnete. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, als ich meine Mutter in einer Blutlache am Boden liegen sah. Panisch stürzte ich zu ihr. Ich fühlte nach ihrem Puls, konnte ihn jedoch nicht finden. Ich griff in meine Hosentasche, um das Handy hervorzuholen. Da war kein Handy. Sicherlich hatte ich es auf dem Couchtisch liegen lassen.
Verzweifelt begann ich mit einer Herzmassage. Ich kämpfte wie eine Löwin um ein Lebenszeichen meiner Mutter. Minute um Minute verstrich, ohne dass etwas geschah. Meine Augen wurden feucht. Das grausame Bild verschwamm unter Tränen, die schließlich meine Wangen hinunter liefen und sich mit dem Blut auf dem Fußboden vermischten.
Mit weichen Knien stand ich auf und lief hinüber zum Wohnzimmer. Als ich bemerkte, dass die Tür abgeschlossen war, schlug ich die Scheibe ein, um hindurch klettern zu können.
Ich spürte wie warmes Blut meinen Arm hinab lief. Doch es kümmerte mich nicht. Suchend sah ich mich auf dem Couchtisch um, doch das Handy war verschwunden. Als ich mich wieder umdrehte, stand er vor mir.
„Suchst du etwas?“ fragte Vater mich mit bedrohlich klingender Stimme. In seiner rechten Hand hielt er einen Hammer.
„Ich… ich suche mein… mein… Handy.“
Mit einem hinterhältigen Lächeln hob er die linke Hand.
„Meinst du dieses hier?“
„Ja, gib es mir bitte Vater… Mutter braucht Hilfe.“
„Für sie kommt jede Hilfe zu spät.“ sagte er trocken und löste den Griff um das Mobiltelefon. Krachend fiel es zu Boden.
Ich schluckte und warf einen Blick zur Tür. Nur wenige Meter trennten mich von dieser. Mit aller Kraft stieß ich meinen Vater bei Seite und setzte zu einem Hechtsprung an. Ich rollte mich geschickt ab und gewann damit einigen Vorsprung.
„Wo willst du denn hin?“ fragte Vater hämisch.
Ich versuchte aus der Haustür zu fliehen, doch sie war verschlossen. All meine Kraft aufbietend rüttelte ich daran. Gefangen wie eine Maus in der Falle sah ich zu, wie Vater immer näher kam. Als er gerade mal noch drei Schritte von mir entfernt stand, holte er mit aller Kraft aus. Blitzschnell duckte ich mich. Der Schlag ging ins Leere.
In dieser Sekunde dachte ich an meine Familie, was meinen Überlebenswillen ins Unermessliche steigerte.
Mir kam eine Idee. Ich blickte meinem Vater fest in die Augen.
„Wenn du mich töten willst, dann hol mich doch.“
Dann rannte ich zurück in das Wohnzimmer und riss die Jalousien hoch. Vater schwang bedrohlich mit dem Hammer. Der altbekannte Wahnsinn lag in seinem Blick. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
„Na los, hol schon aus.“ dachte ich im nächsten Moment und als hätte mein Vater meinen Wunsch erahnt, ließ er den Hammer in meine Richtung sausen. Wieder duckte ich mich und ein lautes Klirren ertönte. Mein Plan hatte funktioniert. Die Terassentür lag in Scherben zu meinen Füßen und mein letzter Gedanke war:
„Lauf, lauf so schnell du kannst.“
Noch lange hörte ich Vaters wütende Schreie hinter mir, aber ich rannte weiter, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen.
Heute stehe ich vor einem Doppelgrab. Mein Vater hatte eine fünfjährige Haftstrafe wegen Totschlags absitzen müssen. Eine lange Zeit hörte ich nichts mehr von ihm, bis zu dem Tag als bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium festgestellt wurde. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun.
Er hatte mich zu sich ans Sterbebett gerufen. Es kostete mich einige Überwindung ihn zu besuchen. Mit verzweifeltem Blick hatte Vater mich um Vergebung gebeten, doch ich konnte ihm, für all das was er Mutter und mir angetan hatte, nicht verzeihen.
Mittlerweile bereue ich es. Seine Wut hatte immer wieder seine Hoffnungslosigkeit widergespiegelt. Dafür kann ich ihn nicht hassen, lieben kann ich ihn aber auch nicht mehr. Meine Hand zittert, als ich zwei Rosen auf den Grabstein lege. Noch einige Minuten stehe ich einfach nur so da, bis mein Mann seine Hände liebevoll auf meine Schultern legt. Ich drehe mich um und lächle.
„Lass uns nach Hause gehen.“ sage ich. Ich greife nach seiner Hand und wir schlendern auf das Friedhofstor zu, hinter dem das Leben liegt.