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Der letzte Gang der Stadt
„Das ist unser Platz“, freute sie sich, „den kann uns niemand nehmen.“
„Sag es nicht zu laut“, meinte er skeptisch, „in letzter Zeit haben sie so Vieles neu gebaut, wer weiß vielleicht steht hier bald schon ein Spielplatz und hier tummeln sich kreischende Kinder mit ihren viel zu besorgten Müttern.“
„Ach, das glaube ich nicht, sie werden diesen Platz so lassen wie er ist. Für immer“, entgegnete Nora und war sich dabei sicher, als wäre sie in den Entscheidungsprozess der Stadt über die Baumaßnahmen direkt involviert.
Vielleicht zweifelte sie aber selbst daran, ob dieser Platz doch nicht schon bald anders aussehen würde, und wollte ihre Zweifel so überspielen. Sie klammerte sich gerne an Wunschvorstellungen. Für sie hatten manche Dinge eine unglaublich starke Symbolkraft, so wie dieser Platz, an dem sie sich gemeinsam jedes Wochenende den Sonnenuntergang anschauten. Auch sonst kamen sie oft hierher, einfach nur um da zu sein.
„Fühlst du das?“, fragte sie mit sanfter Stimme und blickte zu Gerard.
„Ja, wie immer, es ist atemberaubend“, stimmt er ihr zu und nickte zufrieden.
Die Sonne war gerade noch so zu sehen, es waren die letzten Minuten bevor sie für heute vom Himmel verschwinden wird.
„Ist schon faszinierend, bei uns geht die Sonne gleich unter, und woanders geht sie auf“, staunte Nora, so als hätte ihr ein Astronom diesen Sachverhalt gerade erst beigebracht.
„Es ist schon ein Wunder“, stimmte Gerard in das Staunen von Nora mit ein.
Es war eine warme Sommernacht und um Gerard und Nora herum bewegten sich einige Leute durch das Nachtleben der Stadt. Die Beiden mochten es, wenn um sie herum etwas los war und dennoch waren sie in den Momenten des Sonnenuntergangs auch immer irgendwie nur ganz für sich allein. Das Treiben der Menschenmassen verschmolz mit dem Sonnenuntergang zu einer perfekten Kulisse, um das Leben für einige Zeit in vollendetem Glanz zu genießen.
„Wir Menschen sind wie die Sonne“, philosophierte Nora.
„Weil wir, wenn wir wollen, auch alle so schön strahlen können?“, wollte Gerard wissen, worauf sie hinauswollte.
„Nein, das meine ich eigentlich nicht“, erklärte Nora und überraschte ihn, „wir gehen doch irgendwie auch alle auf und unter, manchmal verstecken wir uns, aber manchmal wirken wir auch so auffällig und groß, dass uns eigentlich niemand übersehen kann. Nur wer unsere Schönheit wirklich wahrnimmt, dass wissen wir meistens nicht sicher.“
„Verdammt! Ist das tiefsinnig“, dachte Gerard, sagte aber nichts, weil er der Meinung war, dass ein kurzes Innehalten jetzt besser passte.
„Hättest du gedacht, dass es so kommt“, fragte er dann, „dass wir nach all den Jahren noch immer hier sitzen würden?“
„Scheiße nein“, schluchzte Nora, schüttelte den Kopf und musste dabei lächeln, „wir wollten doch unbedingt weg, einfach nur weg von hier. Ich weiß selbst nicht mehr, warum wir dann doch geblieben sind.“
„Oh man“, rief Gerard aus und begann jetzt auch vor sich hin zu lachen, „ich habe auch keine Ahnung mehr, was uns hier gehalten hat. Fuck! Eigentlich hätten wir ja gehen können jederzeit.“
Nora nahm seine Hand und blickte ihm tief in die Augen. Dann kurz bevor sie sich eigentlich folgerichtig hätten küssen müssen, legte sie, wie jedes Mal, stattdessen ihren Zeigefinger sanft auf seine Lippen. Genau in diesem Moment verschwand die Sonne endgültig vom Himmel.
„Wir haben es komplett verkackt oder?“, erkundigte sich Nora.
Ihre Stimme klang rein und friedvoll.
„Ja haben wir“, antwortete Gerard trocken und sprach genau das aus, was Beide in diesen Tagen so ängstlich machte, „mir wird schwindlig bei der Frage, wie es die nächsten Wochen weitergeht. Können wir bitte einfach hier sitzen bleiben, für immer? “
Nora strich Gerard sanft mit ihrer zarten Hand über die Wangen. Sie nahm ihn in den Arm und presste ihre Körper so fest sie nur konnte aneinander. Dann schauten sie beide Richtung Himmel in der Hoffnung auf irgendein außerirdisches Signal.
„Wir hatten doch so viel vor. Wir hatten so große Pläne“, haderte Gerard, obwohl es hier so schön für ihn und Nora war.
„Wir müssen weg von hier, auch wenn wir uns hier so geborgen fühlen“, erkannte Nora, „sonst wird sich nie etwas ändern.“
„Weißt du ich habe unglaublich Schiss davor, einfach alles hier aufzugeben. Wie können wir uns sicher sein, dass es klappt?“, fragte Gerard ängstlich, denn bei dem Gedanken daran alles, nicht nur das Schlechte, sondern vor allem auch das Gute, mit einem Mal loszulassen, wurde Gerard übel.
„Können wir nicht“, blieb Nora ehrlich, „aber Träume machen nun Mal Angst, wenn sie groß sind. Ich will nicht eines Tages aufwachen und registrieren, dass ich meinen nie wirklich gelebt habe.“
„Dann muss das hier also wohl alles enden, gerade jetzt wenn es am Schönsten ist“, schlussfolgerte Gerard und sah, wie das Wasser des Sees vor ihnen den Mondschein reflektierte und so die Umgebung in ein weiches, weißes Licht hüllte. Die Gesichter der Menschen um sie herum verblassten und auch den Rest der Stadt konnten die Beiden nicht mehr wahrnehmen. Alles was es jetzt noch gab, waren sie und ihre Hoffnungen im Scheinwerferlicht des Nachthimmels.
Ihre Blicke streiften über den Horizont und ihre Köpfe projizierten all ihre Träume und Wünsche für die Zukunft wie einen Film in das tiefe Schwarz des Universums. Ihre Seelen waren längst miteinander verschmolzen und so sahen sie genau dieselben wunderschönen Szenen, die sich vor ihrem geistlichen Auge abspielten. „Siehst du Gerard“, sagte Nora hoffnungsvoll und zeigte in den Himmel, „wir können sein, was immer wir sein wollen.“ „Ja“, nickte Gerard und beließ es dabei. Dem war nichts hinzuzufügen. Und obwohl beide wussten, dass es niemals genauso geschehen würde, wie sie es sich ausmalten, hatte die Zukunft in diesen Augenblicken ihren Schrecken verloren.