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Der letzte Brautstrauß
Der letzte Brautstrauß
Es war schon spät und der Rausch des Hochzeitsfestes glättete sich wie die Wogen einer See, wenn der Sturm nachlässt.
Simon Winter saß an einem Tisch weit hinten im Raum und beobachtete die Hochzeitsgesellschaft. Viele waren schon gegangen, der Rest saß in engen Grüppchen um die wenigen Tische nahe der Tanzfläche herum. Er hatte schon einiges getrunken, zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und dachte an Charlotte. Sie war eine sehr enge Freundin der Braut, so wie er einer der engsten Freunde des Bräutigams war. Simon kannte Charlotte fast so lange, wie er die Braut kannte.
Sie wurde ihm bei einer der ersten Gelegenheiten vorgestellt, als Braut und Bräutigam sich noch gegenseitig in die ihnen jeweils ureigenste Welt einführten. Es war für Simon ein beklemmender Moment gewesen, die Vorstellung war wie der Auftritt auf einer Bühne gewesen: „Und hier ist einer meiner besten Freunde, klatschen Sie jetzt für Simon Winter – der Star in meinem Leben: er kennt mich seit zwölf Jahren und weiß nur Gutes über mich zu berichten“. Die Braut stellte Charlotte ganz unverfangen als „beste Freundin“ vor. Charlotte machte damals auf ihn einen großen Eindruck, weil sie sofort abwinkte und etwas schüchtern entgegnete, dass sie die Braut eben relativ gut kenne.
Simon bestellte sich ein weiteres Bier und fragte sich, wie gut er den Bräutigam wirklich kannte, und ob es richtig war, diese Hochzeit so tatkräftig zu unterstützen. Braut und Bräutigam kannten sich erst seit wenigen Monaten, den Antrag machte der Bräutigam nur drei Wochen nachdem sie zusammengekommen waren. In Simons vorsichtiger Sicht weltlicher Angelegenheiten sah es eher wie ein unüberlegtes Experiment aus, statt eines durchdachten Schrittes in die Ewigkeit der Liebe und des Zusammenlebens. Braut und Bräutigam dieser Hochzeit waren die letzten aller Bekannten von Simon, die heirateten.
Er war der einzige übrig gebliebene Single, und dieser Gedanke ließ ihn heute Abend unruhig auf dem Stuhl hin- und herrutschen. Er bestellte ein Bier nach dem anderen und schaute nervös durch den Raum.
Bis er Charlotte sah. Sie war schon die ganze Zeit anwesend, aber Simon hatte sie bisher kaum gesehen. Sie war noch schöner als die letzten Male, als er sie zufällig getroffen hatte. Sie blickte ebenfalls nervös im Raum herum und zupfte ständig an ihrem Rocksaum. Nach kurzer Zeit war Simon klar, warum Charlotte so unruhig war. In wenigen Minuten würde das offizielle Essen beendet sein und die Braut würde den Brautstrauß werfen.
Ein Ritual, das bei den ersten Hochzeiten im Bekanntenkreis noch große Begeisterung bei allen Frauen auslöste – denn jede träumt natürlich davon, die nächste Braut zu sein – und bei den Männern, insbesondere bei den Lebensabschnittspartnern aller am Brautstraußfangen beteiligten Damen, eher eine Besorgnis erweckte.
Bei dieser Hochzeit würde es keine Überraschungen geben. Auch keine ängstlichen Herren. Und vor allem keine Erwartungen seitens der Damen. Charlotte war die letzte unverheiratete Dame in diesem Kreis und Simon war sich sicher, dass das Ergebnis eindeutig sein würde. Auch wenn sich mehrere der Damen für den Fang bereitstellen würden, so wäre dies nur eine Geste der Höflichkeit, damit Charlotte nicht ganz alleine dastand. Sobald der Strauß geworfen würde, würden alle anderen Damen respektvoll beiseite treten, damit Charlotte, die nicht gut fangen konnte, dieses Mal ohne Schwierigkeiten erfolgreich sein könne.
Allerdings wäre dies ein Fang ohne Zukunft. In Charlottes Leben gab es keinen, für den sie den Strauß hätte fangen müssen. Sie hatte keinen Freund, keinen Verlobten, sie lebte schon seit ewiger Zeit allein. Oft hatte Simon sich gefragt, wieso sie ständig Single war, denn er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand wie Charlotte nicht ständig zwischen mehreren Liebhabern würde wählen müssen.
In gewisser Hinsicht war Simon froh, dass es diese Art von Ritualen nicht für Herren gab. Zu offensichtlich wäre es gewesen, dass er als einziger männlicher Single auf dieser Hochzeit anwesend ist. Eine Demütigung wie die von Charlotte hätte er nicht ausgehalten.
Er sah von seinem Platz weit hinten im Raum zu, wie sich fünf Damen aufstellten, um den Strauß zu fangen – vier verheiratete Damen und Charlotte. Die Arme. Er fragte sich, ob diese Farce nicht eher seelische Zerstörung hervorrufen, als dass sie eine romantische Vorfreude kreieren würde.
Die Braut stellte sich vor die zum Fang bereiten Damen und erklärte in wenigen Worten, dass der Fängerin das Glück hold sein werde, denn sie werde die nächste Hochzeit feiern. Die vier bereits verheirateten Damen schauten verlegen zu Seite, nur Charlotte lief rot an und schien im Boden verschwinden zu wollen.
Simon schüttelte den Kopf. Wie konnte Charlotte sich so erniedrigen lassen! Er hatte Charlotte schon immer gerne gemocht, viele Jahre lang hatte er sich nichts mehr gewünscht, als mit ihr zusammen zu sein. Aber nie hatte er ihr näher kommen können.
Das ganze Ritual war für ihn unverständlich rücksichtlos. Er ging näher heran, bis er direkt neben den fünf Damen stand und sah zu, wie die vier verheirateten Damen vorsichtig beiseite traten, damit Charlotte den Strauß fangen konnte. Es wurde verhalten Applaus geklatscht, auch Simon ertappte sich dabei, wie er ein-, zweimal in die Hände klatschte.
Simon wollte schon zu seinem Platz zurückgehen, als die Braut sich wieder an die gesamte Hochzeitsgesellschaft wandte und erklärte, dass es ja nicht nur den Brautstrauß gäbe, um die nächste Braut zu küren, sondern den Strumpfband-Wurf, um den nächsten Bräutigam zu ‚ernennen’. Simon ließ fast sein Bierglas fallen – von diesem Brauch hatte er noch nicht gehört. War das nur eine dumme Idee der Braut?
Im gesamten Bekanntenkreis, insbesondere unter den hier Anwesenden, gab es nur einen, der hierfür in Frage käme: er selbst. Ihm lief ein eisiger Schauer den Rücken herunter.
Die Braut stand weiter vorne und erklärte, dass sich nun alle ledigen Herren nach vorne begeben sollen. Simon stand in der Menge wie ein Fels in der Brandung, als er auf einmal merkte, wie ihn der Bräutigam von hinten leicht nach vorne schubste, sodass Simon plötzlich in dem Kreis von vier anderen Gästen stand, gegenüber der Braut.
Er sah kaum hin, als die Braut das Strumpfband warf, aber es spielte keine Rolle. Die anderen Herren traten vorsichtig zur Seite, sodass das Strumpfband Simon, der sich gerade nach Charlotte umsehen wollte, am linken Ohr traf. Die Braut rief begeistert, dass Simon der nächste Bräutigam werden würde und alle klatschten heftig Applaus.
Rechts von ihm sah er nun endlich Charlotte, mit einem schüchternen Grinsen im Gesicht. Langsam ging er auf sie zu, den Blick auf den Boden gerichtet, als ob auf seinem Weg die Worte lägen, die er in wenigen Sekunden gerne sagen würde.