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Der letzte Bibliothekar
Den ganzen Weg über bis zum Byzantium brütete Etlam Pagoda im Stillen vor sich her. Er sah nach draußen. Während ihn der Pod über verschlungene Gebirgspfade zum Plateau beförderte, bat sich ihm eine letzte Gelegenheit, den Anblick der Welt in sich aufzunehmen.
Sie fuhren vorbei an den Ruinen alter Bergdörfer. Die Berge waren dicht bewaldet, die Straßen kaum befestigt. Über seinem Kopf, zwischen der lichter werdenden Schneise aus Baumkronen, zeichnete ein Bergvogel eine kerzengerade Linie. Über weite Teile seiner Anreise tauchte er immer wieder auf und begleitete Etlam - eine Dohle, rabenschwarz, mit grauen Flecken auf dem Federkleid. Als junger Mann hatte er oft stundenlang an der bretonischen Küste gestanden und im roten Abendlicht dem Reigen ganzer Schwärme zugesehen. Das war über hundert Jahre her.
Die bretonische Küste war inzwischen Geschichte.
Ebenso der Anblick gesunder Schwärme.
Vor zwei Wochen hatte er beschlossen, den Transfer zu veranlassen. Er hatte sich Zeit mit der Entscheidung gelassen. Nicht, weil er glaubte, dass ein Teil von ihm durch den Transfer weiterleben würde und ihn diese Vorstellung ängstigte. Sondern weil er sich nicht sicher war, ob er ein Leben geführt hatte, das eines Transfers würdig war.
Diese Bedenken hatte der Bibliothekar zerstreut.
Jedes Leben, Etlam, hat einen Platz im Byzantium. egal wie entbehrungsvoll, egal wie schuldbeladen.
Man hatte ihm versichert, dass der Transfer schmerz- und klanglos vonstatten gehen würde. Nur stillhalten. - Und meine Gedanken? - Während des Transfers? - Ja. - Bedeutungslos.
Wird es weh tun?
Nein.
Werde ich sterben?
Nur wenn du es willst.
Nur wenn ich es will.
Sonnenflecken besprenkelten das Innere des Pods, Äste streiften die gläserne Haube. Ich will nicht. Aber ich glaube, meine Zeit ist gekommen. Es gibt keinen Grund, sich zu wehren. Es ist, was es ist. Das Niemandsland zwischen der Entscheidung zum Transfer und dem Transfer selbst war fast genommen - er war fast da. Der Pod bewältigte die letzten Kurven des Gebirgspasses und erreichte nach einer halben Tagesreise endlich das Ziel.
Das byzantische Mausoleum.
Auf einer geschliffenen Steinplatte, groß wie zehn Fußballfelder, ragte die monumentale Erinnerungsstätte zwischen Lärchen und Birken weit in den Himmel hinauf. Die Säulen und Karpellen bestanden aus weißem Kristall. Drei Trabanten wanderten in künstlicher Umlaufbahn um die Kuppel herum, zogen Wolkenfetzen hinter sich her und warfen riesige Schatten.
Sie waren einen weiten Weg gekommen, bemerkte Etlam. Er stand am Klippenrand und überblickte das Tal. Das Wolkenfeld unter ihnen schwappte träge gegen das Bergland. Linsenförmige Tupfer erklommen die Gebirgswände, und von Osten her wehte ein kalter Windzug, der nach Morgentau und Kiefernharz roch.
Er hatte nur noch Stunden bis zu seinem Tod.
Er beschloss, sie hier zu verbringen - an einer Klippe, mit Mutter Natur zu seinen Füßen.
Der Bibliothekar musste eine ganze Weile neben ihm gestanden haben. Etlam bemerkte den Mann erst, als er hörte, wie die Robe knisterte. Ohne sich umzudrehen sagte er:
"Ich will keine Beerdigung, keine Beisetzung."
Still pflichtete ihm der Bibliothekar bei.
"Und es ist mir gleich, was mit meinem Körper passiert. Verbrennt ihn. Vergrabt ihn. Es spielt keine Rolle."
Die Laufschienen, die ihm das Vorankommen ermöglichten, gaben ein maschinelles Surren von sich, als er sich umdrehte um dem Gastgeber die Hand zu schütteln. Der Händedruck war fest, das Gesicht haarlos und gütig, wenn auch von einer gewissen Traurigkeit belegt, die, so dachte Etlam, einen festen Platz im Leben eines Bibliothekars haben musste.
"Wollen wir?"
Man hatte sich eingehakt und folgte dem langsamen Gang des Bibliothekars. Gemeinsam schritten sie unter kleine Kuppeln aus Milchglas, die überall in der Halle das Sonnenlicht trübten. Die Atmosphäre machte Etlam benommen. Von innen erinnerte das Mausoleum an eine leere Sixtinische Kapelle - keine Fresken, keine Bilder, nur Kalkstein, Marmor und Weiß.
"Die Dinge, an die ich mich nicht erinnere..."
"Nichts ist verloren. Nichts vergessen."
Dann wurden beide Männer sehr, sehr still. Der Bibliothekar, weil er Etlam mit Geduld begegnen wollte. Etlam, weil er sich diesen Zeitpunkt selbst ausgesucht hatte und darauf wartete, dass etwas passierte, er konnte nur nicht recht sagen, was. Der Bibliothekar beobachtete ihn. Er hatte genug Männer und Frauen zum Transfer gebracht. Er wusste, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt das Bedürfnis erwachte, etwas zu erzwingen, eine Form von Gewahrwerdung oder Erkenntnis. Doch die kam nie. Der Tod blickte dann nackt zurück, stattdessen. Ihr seid nicht zum Sterben hier, erinnerte er sie dann. Sondern, um eure Geschichte zu konservieren. Empfindliche Momente, in denen man von ihm Dinge erwartete, die eigentlich Priestern zufielen.
...ich habe Schreckliches getan, Bibliothekar.
...Vergebung findet ihr durch das Byzantium. Nicht durch mich.
Sie betraten einen Kreissaal. Die Spitze der Kuppel öffnete sich. Licht fiel wie ein brennender Degen auf die Kopfablage der byzantischen Pritsche. Etlam bemerkte zwei Männer, die in schwarzem Neopren hinter der goldenen Skizze einer Schaltfläche standen. Einer von ihnen sah zu ihm, der andere ignorierte ihn. Der Kreissaal war groß, aber nicht so groß, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Hände nahmen ihm die Robe ab. Dann begannen die Wände, zu pulsieren wie das Innere eines fluoreszierenden Organismus.
Das Glühen zeugte vom Erwachen des Byzantiums. Seine Datenwolke trieb wie ein Schwarm Fische dem Licht in der Dunkelheit zu. Dieses Licht waren die Ablagerungen in Etlams Großhirnrinde, und wie ein Schwarm kreisten sie dieses Licht von allen Seiten ein.
Etlam Pagoda fürchtete den Tod.
Er legte sich auf die Pritsche. Durch das Loch in der Decke sah er Wolken, die sich wie zerfaserte Wolle träge an der Sonne vorbeitrugen.
Vorsichtig öffnete man seine Laufschienen und legte spindeldürre Beine frei. Er fühlte Scham, erblickte Leberflecken auf der käsig-weißen Haut eines zerschmetterten Körpers, dem er alles abverlangt hatte.
"Alles?", fragte er. Er sah aus dem Augenwinkel, wie der Bibliothekar nickte und die Schienen beiseite legte.
"Bis...zu früher? Ganz früher?"
"Der Transfer wird alles berücksichtigen, Etlam.", die Stimme des Bibliothekaren wurde leise. "Jede gelebte Sekunde."
Er sah direkt ins Licht der Sonne.
Da fühlte er den ersten Stich.
Silberne Fäden liefen nun in seinem Kopf zusammen und krönten den alten Mann mit Speicheln aus Licht. Ameisenfüße machten sich bemerkbar, bishin zur Beckenlinie, unterhalb derer er kein Gefühl mehr hatte. Das Pulsieren in den Wänden schwoll an. Die gekurvte Stelle hinter ihm gab noch mehr Fäden frei. Er hörte ihr Zischen - wie Asklepiosschlangen bewegten sie sich langsam auf seinen leberfleckigen Kopf zu.
"Ich habe einem Mann sein letztes Mahl genommen, und ihm den Kopf mit einem Stein eingeschlagen."
"Etlam."
"Ich ließ eine Mutter und ihr Neugeborenes an der Bretagne zurück. Es war mein Kind. Ich kehrte nie zurück."
"Etlam."
Der Transfer war bereits in Gange. Der alte Mann verstand die Stille in seinem Kopf nun besser. Dann wandte er sich dem Bibliothekar ein letztes Mal zu.
"Bibliothekar.", flüsterte er.
"Ich bin hier."
"Es steht jemand an meinem Bett. Ich kann ihn sehen."
"Schließ die Augen.", flüsterte der Bibliothekar und legte ihm die Hand auf die Brust. Der Herzschlag wurde spürbar schwächer und erstarb anschließend vollends.
Das war nicht ungewöhnlich.
Manche Gäste starben gleich im Anschluss an den Transfer, nicht wenige währenddessen. Viele Männer sackten vor den Toren des Mausoleums zusammen. Andere erhängten sich in der angrenzenden Tundra, baumelten von den Birken und mussten von spazierenden Klerikern oder Bibliothekaren abgehängt werden. Der Bibliothekar selbst hatte aufgehört zu zählen, wie viele Männer und Frauen er im Wald gefunden hatte - den Henkersknoten konnte er inzwischen blind lösen.
Er schloss Etlams Augen.
Dann aktivierten sich die Sensoren, und sein Körper wurde vaporisiert.
Ein paar Flocken Asche stiegen durch das Loch der Kuppel nach draußen. Der Bibliothekar betrachtete die herrenlosen Laufschienen. Es handelte sich um die nutzlosesten Objekte der Welt, zugeschnitten auf einen Körper, der nicht mehr existierte.
Dann nahm er auf der byzantischen Liege Platz. Das Loch in der Kuppel schloss sich, das Hologram der Konsole löste sich auf und seine Kleriker verließen den Kreissaal. Das einzige Licht kam von den Wänden - ein beiges, warmes Pulsieren, das von den Verdauungswehen des Byzantiums zeugte.
Er befestigte den Aktuator an seine Schläfe und aktivierte ihn.
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"Samuel? Bist du bereit?"
"Sofort."
Er nahm sich die Zeit und befestigte das Emblem direkt über dem Herzen. Es handelte sich um eine dünne Sichel über einem Balken - das Zeichen byzantischer Novizen. Dann strich er die Robe glatt. Sie saß wie angegossen. Das Gesicht im Spiegel war frei von distinkten Merkmalen, bis auf eine breite Kerbe auf seiner Oberlippe, deren Anblick nichts nennenswertes in ihm auslöste. Eine einfache Hasenscharte, die in der alten Welt wahrscheinlich verantwortlich für eine Reihe verletzender Spitznamen gewesen wäre. Im Mausoleum selbst war er Samuel, der Novize, doch ein paar Kleriker nannten ihn auch einfach nur Sam.
Er warf zwei kleine, hellblaue Kapseln ein, die den Tremor in seinen Extremitäten unterbanden. Er war nervös. Ob er bereit sei. Wie in Gottes Namen konnte man sich auf so etwas vorbereiten?
"Er hat bereits angefangen.", hörte er den Kleriker sagen. Ich weiß. Und er erwartet, dass ich zu ihm stoße. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
Samuel folgte dem Kleriker anschließend durch die vielen Hallen und Stockwerke des Mausoleums. Heute fand ein einziger Transfer statt. Samuel wusste lediglich, dass es sich um einen hundertdreißigjährigen Mann aus der ehemaligen Bretagne handelte.
Als sie einen gewölbten Gang im achten Stock durchliefen, begann der Kleriker, mit flüsternder Stimme zu sprechen.
"Du darfst nicht zuviele Fragen stellen."
"Ich weiß.", Samuel schloss auf.
"Wenn er dich etwas fragt, und du es nicht weißt, gib es einfach zu. Er mag es nicht, wenn man versucht, Unwissen zu verschleiern."
"Werde ich mich dadurch nicht zu sehr...entblößen?"
"Nicht, wenn du gut vorbereitet bist."
"Der Fundus ist nahezu endlos. Ich kann nicht alles wissen."
"Das weiß er. Er wird nichts unmögliches von dir verlangen. Aber er will wissen wollen, was du weißt. Du wirst wissen wollen, was er weiß."
Stille.
"Mentor und Novize. Wie es sein sollte."
Sie erreichten die Kreistreppe. Bevor sie auf die erste Stufe stiegen, ertönte ein einziger, gläserner Ton.
"Die Sonne steht jetzt am höchsten.", sagte der Kleriker und blieb stehen. Er ging dazu über, Samuel stillschweigend zu mustern. In seinen Augen lagen keine Güte, keine Mißgunst, nichts, was sich als einfache, menschliche Regung ausmachen ließe. Hinter der eisblauen Iris hätte genauso gut ein Scanner sitzen können, der Samuels biometrische Daten las.
"Sei mir nicht böse, Novize. Aber ich bin mir nicht sicher, warum man ausgerechnet dich ausgesucht hat." Ein zweiter Ton erfolgte, diesmal laut und vibrierend, wie von der Kirchenglocke eines alten Doms.
"Alles an dir ist gewöhnlich."
"Vielleicht hat man mich deshalb ausgesucht."
"Vielleicht.", der Kleriker griff in seine Robe, reichte Samuel den Aktuator und deutete ihm, den Rest des Weges alleine zu gehen.
Es war das erste Mal, dass er die Halle betrat und in die Nähe der byzantischen Liege kam. Sie war nichts besonderes. Sie erinnerte an einen Patientenstuhl aus der Medizintechnik der alten Welt, lag senkrecht auf einer metallischen Empore auf und wirkte verloren in der Weite des Kreissaals.
Der Bibliothekar lag auf ihr. Sein Kopf war umhüllt von einer Kapsel aus dunkelblauem Licht - er befand sich bereits mit allen Sinnen im Byzantium.
Es waren totenstill in der Halle. Solange man den Aktuator bei sich hatte, konnte man von überall ins Byzantium. Samuel war nicht sicher, weshalb sein Mentor ausgerechnet den Ort des Transfers so gerne dafür wählte.
Er befestigte das Gerät an seinen Kopf. Hitze breitete sich aus. Ein Miniaturgewitter schickte gelbe Blitze an das Nervenzentrum hinter seine Schläfen, Entladungen, die bis in den Frontallappen wanderten und weite Teile seines Gehirns in ein organisches Modem verwandelten.
Dann ging er vor der Pritsche in den Schneidersitz und aktivierte das Modul.
Gischt.
Sie benetzte sein Gesicht.
Winde stürzte in den Kragen seiner Robe. Er begann zu husten und zu frieren und sich den Regen aus den Augen zu blinzeln. Vom Scheitel bis zur Sohle kroch die Realität des Byzantiums nun in ihn hinein.
Er befand sich an einer steinernen Küste unter einem wolkenverhangenen Himmel. Die Bretagne? Vielleicht. Alles fühlte sich echt an - das Salz auf seinen Lippen, in seinen Ohren, die Kälte des Wassers und das Geräusch der Wellen, die gegen Fels schwappten. Er zog den Kragen seiner Robe höher, wider besseren Wissens, nämlich dass weder die Kälte noch die beißenden Winde echt waren.
Jahre des Studiums.
Der Vorbereitung.
Trotzdem kämpfte sein Verstand mit den ersten Eindrücken. Er begriff, dass er derjenige war, der den Betrug der Sinne an sich selbst ausbaden musste - sein Gehirn war gewissermaßen die Retina, auf die das Licht des Byzantiums fiel.
Keine Panik. Du musst der Illusion vertrauen. Dich ihr überlassen.
Anders ging es nicht.
Ein Schritt nach dem anderen. Ein Schritt nach dem anderen.
Samuel konzentrierte sich auf seine Atmung.
Über dem Ozean gebaren sich lautlose Blitze. Der Regen zog als diffuser Vorhang über das Land und begoß die angrenzenden Wiesen und Felder. Ein Leuchtturm ragte unweit von ihm inmitten einer Landzunge auf und strahlte in die Fluten, offenbarte ihre dunkelgrünen Tiefen. Er ging ein paar weitere Schritte, ehe er auf dem nassen Stein ausrutschte und als nächstes verstand, dass es das Byzantium mit Schmerzen genauso ernst meinte wie mit allem anderen auch.
Er zog das Neopren hoch und betrachtete die Schwellung, die sich innerhalb von Sekunden abzeichnete. Es war schmerzhaft genug, doch der Aktuator bemerkte den Vorgang. Er kappte die Spitzen der Empfindung und beschleunigte ihre Transienz. Nach ein paar Sekunden war vom Schmerz nur noch ein dumpfes Echo übrig.
Dann erschien eine Hand in seinem Sichtfeld.
"Willkommen, Samuel."
Der Bibliothekar zog ihn hoch. Seine Robe war durchnässt. Er verhalf Samuel zu einem sicheren Stand, dann warfen sie einen gemeinsamen Blick in die Fluten.
"Die Abende an der Bretagne waren in Wirklichkeit wärmer. Selten so stürmisch, zumindest zu dieser Jahreszeit." Der Bibliothekar kletterte über die Steine, näher ans Wasser heran. "Aber Etlams Schuld, die an diesen Augenblick hängt, lässt ihn kälter und rauer erscheinen, als er in Wirklichkeit war."
"Es ist unerträglich.", flüsterte Samuel.
Sie liefen eine Weile, doch der Leuchtturm schien nicht näher zu kommen. Er entzog sich ihnen wie ein wanderndes Gemälde. Bald schon mischte sich unter das Wellenrauschen und Tosen das laute Weinen eines Kindes.
Am Fuße des Leuchtturms sah Samuel dann eine Silhouette, einen verwaschenen Tintenfleck, der zu Leben kam. Allmählich stiegen Farben durch diesen Fleck wie durch ein dunkles Fenster. Er erkannte, dass es sich um eine Mutter handelte, die verzweifelt versuchte, ihr Neugeborenes zu besänftigen. Ihr braunes Haar tanzte im Wind.
"Auch wenn die Messbarkeit nicht immer einfach ist: Die Intensität des Erlebten und bestimmte Aspekte der Erinnerung verhalten sich linear zueinander. Ebenso der Raum, durch den wir schreiten."
"Je tiefer die Erinnerung reicht, desto größer ist der Raum."
"Desto länger dauert es, durch ihn zu kommen. Die Dehnung und der Schmerz stehen in einem proportionalen Verhältnis zueinander. Positiv eingefärbtes wiederum..."
"...antiproportional. Der Raum ist gestaucht."
"Mehr als das. Aber alles zu seiner Zeit, Samuel."
Das Gesicht des Bibliothekars leerte sich. Das erste Mal bemerkte Samuel den Argwohn seines Mentors.
"Es wird Tage dauern, bis wir den Turm erreichen."
Ohne auf ihn zu warten, schritt er los. Samuel folgte ihm wortlos - deshalb war er hier, sagte er sich. Um zu wandern und zu lernen.
"Sechszehn Minuten.", flüsterte Samuel fassungslos.
Er hatte immer noch Schwierigkeiten, das Gefühl der Gischt, die Kälte und den Geruch von Seetang abzuschütteln. Der Bibliothekar reichte ihm einen Becher mit einer blauen Flüssigkeit - flüssiges Alprazolam, das ihn beruhigen sollte.
Sie befanden sich wieder in ihrer Wirklichkeit, genau genommen im Wohnraum seines Mentors. Es handelte sich um eine schnörkellose, kreisrunde Suite in den höheren Stockwerken des Mausoleums, von denen aus man das Tal bis zum Ende seiner östlichen Ausdehnung überblicken konnte.
"Der Chronometer zeigte mir dreiundzwanzig Tage an."
Er hätte sich ermattet fühlen müssen. Stattdessen schien es ihm, als hätte er die Erschöpfung und die Entbehrungen am Fuße des Byzantiums abgestreift und zurückgelassen. Die Eindrücke mischten sich unter das Feld seiner echten Erinnerungen - wie das Bild eines Seesterns oder das einer blauweißen Muschel, die er am Leuchtturm aufgelesen hatte.
"Es war eine lange Reise. Du hast dich gut gemacht. Viele unterschätzen, wie zäh das Byzantium sein kann."
"Wie war der Name des Mannes?"
"Etlam. Etlam Pagoda."
"Er hat Frau und Kind zurückgelassen."
"Und sich nie dafür vergeben."
"Ihre Gesichter waren schwer zu greifen."
"Das Byzantium braucht seine Zeit, um die Lücken in den Manifestationen zu schließen."
Der Bibliothekar legte die Robe ab und offenbarte den dunkelblauen, fluoreszierenden Neoprenanzug darunter.
Samuel blickte hinaus. Bis zu den Gipfeln reichte das Wolkenbeet, es sah aus, als hätten die Götter ein weißes Bad eingelassen. Der Bibliothekar wickelte den Aktuator in ein Leinentuch und legte ihn anschließend behutsam in eine Truhe.
"Du bist europäischer Abstammung?"
"Verzeihung?", Samuel schüttelte sein Zittern ab.
"Dein Urgroßvater. Galveston."
"Ach. Ja, natürlich. Engländer."
"Und dein Vater?"
"Hirte."
"Ein Rückkehrer?"
"Ich entsamme einer langen Linie von Juristen."
Der Bibliothekar schmunzelte.
"Für die gibt es schon lange keinen Bedarf mehr."
"In der Tat. Deshalb der Rückkehr zur Natur."
"Deine Mutter starb bei deiner Geburt?"
"Ja."
"Bedauerlich."
Samuel presste die Lippen zusammen. Das folgende Schweigen behagte ihm nicht, schien seinen Mentor jedoch kalt zu lassen.
"Ich habe unterschätzt, was für ein schmerzhaftes, bedauernswertes Leben Etlam geführt hatte. Sonst hätte ich eine andere erste Exkursion für dich gewählt."
"Es ist in Ordnung. Es war genau richtig. Empfanden Sie es auch so?"
Der Bibliothekar warf Samuel einen sonderbaren Blick zu. "Als du zu mir gestoßen bist, war ich bereits ein halbes Jahr unterwegs. Aber ansonsten, ja."
Stille. Samuel versuchte die Dimensionen zu begreifen, mit denen sich ein Bibliothekar auseinanderzusetzen hatte.
"Das Byzantium kann ein bedrohlicher Ort sein. Viele verkraften die temporale Asymmetrie nicht. Er ist also nicht ungefährlich. Außerdem haben wir Feinde. Viele Anhänger der alten Weltordnung wollen das Byzantium und das Mausoleum vernichtet sehen."
"Aber man weiß sich zu schützen, nicht wahr?"
Der Bibliothekar schürzte die Lippen und trank den blauen Likör aus.
"Nicht so gut, wie ich es gerne hätte."
"Ich verstehe diesen Hass nicht.", sagte er. "Wir konservieren doch nur die Geschichte."
"Mehr als das. Wir konservieren Wahrheit."
Samuel schmunzelte.
"Jetzt klingen sie wie ein Gelehrter der alten Welt."
"Nun, die Idee des Byzantiums ist sogar noch älter als die alte Welt, Samuel."
"Was würden Sie denn sagen, ist das Byzantium? Wie würden sie es bezeichnen?"
Der Bibliothekar ließ sich nicht lange bitten und antwortete sofort.
"Es ist die gebündelte Wahrheit allen gelebten Lebens. Der Blick des Lebens auf sich selbst."
"Das ist poetischer als alles, was Haynach je über das Byzantium gesagt hat."
"Haynach war ein Narr."
"Er war ein großer Gelehrter."
"Ein Genie sogar. Aber er hat das Byzantium nie besucht."
"Er redete von einer Ansammlung biographischer Sphären. Mehr sei das Byzantium nicht."
"Haynach verstand die Implikationen dessen nur unzureichend. Man besucht die Wahrheit, die die Menschen in ihren Herzen tragen, die Wahrheit über sich selbst, die sie mit niemandem teilen."
"Haynach kritisierte, dass der Mehrwert dessen überschaubar sei."
"Die einzige Innenwelt, zu der die Menschheit Zeit ihrer Geschichte Zugang hatte, ist die des Individuums. Das Byzantium macht allen Individuen alle Innenwelten zugänglich. Wenn das keinen Mehrwert produziert, nun...ich wüsste nicht, was sonst..."
"Ein monumentales Unterfangen - für eine Reihe vergleichsweise banaler Erkenntnisse."
"Das klingt wiederum nach Shapiro."
"Ich lese zur Zeit vor allem die Kritiker des Byzantiums."
"Das ist gut. Das sollst du. Aber weder Shapiro noch Haynach verstanden den eigentlichen Zweck unseres Unterfangens."
"Der da wäre?"
"Wir kartografieren Geschichte. Geschichte der alten Welt, der Menschheit, der Individuen. Wir schlüsseln sie auf. Die Summe des Gelebten, des Gefühlten, des Wahren - sie blieb der Menschheit bisweilen unzugänglich. Geschichte ist nicht mal denen zugänglich, die sie leben.", der Bibliothekar blickte über das Tal. "Nur das Byzantium kennt die Wahrheit."
"Und Menschen wie Sie.", sagte Samuel. "Bibliothekare."
Sein Mentor erwiderte nichts. Er sah dem trägen Wandern der Wolken zu, beobachtete, wie die Sonne allmählich einen blutroten Streifen hinter die Berge niederlegte.
"Du willst Bibliothekar werden."
"Ja."
"Dann hast du viel vor dir. Fünf Monate sind nicht viel, um zu lernen, was du zu lernen hast. Aber ich bin froh, dass du Interesse gezeigt hast. Und jetzt hier bist."
Der Bibliothekar setzte sich, nahm einen Füllfederhalter zur Hand und schrieb ein paar Worte auf ein Blatt Papier nieder. Samuel faszinierte es, dass viele Bibliothekare noch so arbeiteten.
"Du hast Potential."
Er lächelte. Dass ihm seit Stunden eine Frage im Halse stecken blieb, versuchte er erst gar nicht zu verbergen.
Der Bibliothekar goss sich ein bisschen von der blauen Flüssigkeit nach.
"Frag ruhig."
"Warum ich?"
Sein Mentor lehnte sich zurück.
"Du möchtest sicher hören: Wegen deiner Intelligenz und deinen enormischen kortischen Kapazitäten. Nicht wahr?"
Samuel schwieg.
"Doch das wäre nur ein Teil der Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist: Weil du keine Geschichte hast.", sagte er mit strenger Stimme. "Somit kann dein Herz im Byzantium nur schwer in die Irre geführt werden. Du wirst keine Schwierigkeiten haben, zu verstehen, wo die Linie zwischen dir und dem Byzantium verläuft. Sicher, deine zugegebenermaßen schwache Konstitution hat uns zu denken gegeben, aber ich bin zuversichtlich."
Samuel blickte perplex in die Leere.
"Versuch, das nicht als Beleidigung aufzufassen."
"Tue ich nicht."
"Sicher?"
"Es ist nur..."
"Deine körperliche Konstitution ist nicht die beste, wie gesagt. Du wirst viel mit den Sensorik-Tanks arbeiten müssen. Außerdem empfehle ich dir, einmal wöchentlich die kampische Abteilung aufzusuchen."
"Ich habe morgen einen Termin für meine erste neokortische Dusche."
"Gut. Mach dich mit den Gepflogenheiten vertraut. Wenn du Fragen hast, ich bin hier. Oder im Transfersaal."
"Danke."
Der Blick des Bibliothekars blieb streng, als er Samuel über den Tisch hinweg die Hand reichte.
"Fünf Monate. Fünfzigtausend Leben. Viel Glück."
5 Monate später
Am Morgen seiner Prüfung hätte Samuel Galveston nicht weniger aufgeregt sein können.
Vielleicht lag dies an der doppelten Dosis Relaxantien, die er zu sich genommen hatte, aber er saß auf einer Steinbank vor der Fakultät, beobachtete, wie sich ein Unwetter über dem Mausoleum zusammenbraute und fütterte in aller Ruhe ein paar Tauben. Er war einem möglichen Scheitern gegenüber nicht gleichgültig. Im Gegenteil. Würde dies eintreten, wäre er hoffnungslos verloren, ohne Frage. Nein, der Grund lag in der sensorischen Übersättigung des Novizen - es passten keine weiteren Emotionen oder Eindrücke in ihn hinein.
Die fünf Monate, die er zum größten Teil im Byzantium verbrachte hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen, äußerlich wie innerlich. Das erste Mal in seinem Leben hatte er sich einen Bart stehen lassen, der sich dichter anließ als erwartet. Auch sein Haar war länger geworden. Dass er jedoch aufgehört hatte, sich die Nägel zu schneiden, war einem anderen Grund als dem der mangelnden Hygiene geschuldet.
Jedes Mal, wenn er aus dem Byzantium zurückkehrte, bohrte er die Nägel seines Ring- und Mittelfingers fest in die Handflächen. Das war das erste, was er tat, wenn er den Aktuator ablegte und das letzte am Abend, bevor er zu Bett ging.
Er bohrte so lange, bis sich der erste, echte Schmerz bemerkbar machte. Etwas, was der Akutator im Byzantium unterbunden hätte. Dies war sein Lackmus-Test, eine einfache Prüfung, mit der er sich vergewisserte, dass er erfolgreich in seine Wirklichkeit zurückgekehrt war.
Während er darauf wartete, aufgerufen zu werden, dachte er über die Spuren nach, die das Byzantium selbst in der Geschichte hinterlassen hatte.
Das Hirn, Schauplatz allen Seins, war zugleich Schauplatz der letzten, vielleicht finalen Kränkung der Menschheit geworden. Auf der kosmologischen, biologischen und psychologischen war die neurologische Kränkung gefolgt, die Einsicht, dass die Realität als Souverän unbrauchbar und die sensorischen Tore des Hirns auf vielen Wegen durchschritten werden konnten. Eine alte Einsicht, die bereits in der Antike Gegenstand von Gedankenexperimenten gewesen war. Sie entwickelte jedoch eine traumatisierende Eigendynamik, als die Technologie, die dem Byzantium zugrunde lag, allmählich ihren Weg ins alltägliche Leben fand. Sie war mitverantwortlich für die Stille, die sich über weite Teile des Planeten ausgebreitet hatte - die Karte, das Hirn, hatte sich in das Territorium verwandelt.
Die Menschheit hatte sich in sich selbst zurückgezogen.
Samuel schloss die Augen. War dieser Rückzug ein Triumph, oder ein finales Kapitulieren gegenüber der Natur und dem Erbe der eigenen Geschichte? War sie eine unweigerliche Konsequenz des technologischen Fortschritts?
Fest stand: die Menschheit hatte sich diese Stille teuer zu stehen kommen lassen.
Er dachte an die Worte seines Mentors. Dass der Zweck des Byzantiums darin lag, die Geschichte der Menschheit zu kartografieren. Dies war jedoch kein Selbstzweck und man durfte Zweifel äußern, ob die Erforschung der letzten hundert Jahre Lehrhaftes zutage fördern würde. Bislang jedenfalls dokumentierte sie über weite Teile nur den Schrecken des Kollapses. Auf einer seiner vielen Reisen war ihm der Vergleich mit dem Kübler-Ross-Modell eingefallen, das beschrieb, welche Phasen ein sterbenskranker Mensch durchlief: Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression.
Akzeptanz.
Der kollektive Kanon der Menschheit war in den letzten hundert Jahren ähnlich verlaufen.
Nicht-wahrhaben-wollen. Leugnen. Kollektiv, noch zur Jahrtausendwende. Um 2030 dann die unweigerliche Diagnose: Der Organismus, auf dem die Zivilisation saß, von dem er zehrte, war erkrankt, sterbenskrank, und es folgte Zorn, die zweite Phase, die Stufe, als die domestizierenden Effekte der Zivilisation revidiert wurden und ein Geist des Barbarismus durch die Welt ging. Der Kollaps der alten Welt, Europa. Die dritte, kurze Phase, ein Aushandeln, das neue transatlantische Bündnis, ein kurzes Besinnen, eine Phase, die Samuel in den byzantischen Sphären als besonders irrsinnig erlebte. Die Gunst Gottes wurde wiederentdeckt. Dann: die Befriedung des Westens, die Proklamation von Topeka. Doch kurz darauf zerfielen die Vereinigten Staaten, und der indisch-pakistanische Konflikt eskalierte. Die Besinnung brachte keine Lösung, was folgte, waren Jahre schwarzer Depression. Inseln des Lebens wurden in Festungen verwandelt. Es folgte der Exodus der subtropischen Kontinente, der Marsch der Milliarden. Pakistan, Indien und der Nahe Osten verwandelten sich in nuklear verseuchtes Niemandsland. Und als sich die Phase der Akzeptanz endlich einstellte, hatten sich bereits ganze Kontinente in Friedhöfe verwandelt.
Gegerbte Knochen in der Wüste.
Die Bilder mancher Sphären würden ihn nie verlassen.
Einem Team von norwegischen und russischen Wissenschaftlern gelang es im Frühjahr 2062 schließlich, die kalte Fusion zu stabilisieren, und eine sechste Phase läutete sich ein, eine Phase der Erneuerung. Ab da griff das Kübler-Ross-Modell schon nicht mehr, aber Samuel war so frei gewesen, dem Modell noch eine letzte, siebte Phase hinzuzufügen.
Die Phase der Stille.
Seine Gegenwart.
Er wurde aufgerufen.
Ein junger Kleriker, der auf den Namen Orestas hörte, holte ihn ab. Gemeinsam gingen sie durch einen Innenhof, unter einen silbernen Torbogen hindurch und hinein in das byzantische Foyer. Eine Gruppe älterer Bibliothekare hieß ihn mit einem kaum bemerkbaren Nicken willkommen. Samuel erwiderte die Begrüßung und folgte dem Kleriker anschließend bis zum Hörsaal. Die Tür wurde geöffnet, und der Novize betrat die Bühne seiner wichtigsten Prüfung.
Vier Bibliothekare saßen in der vordersten Reihe an einem weißen Tisch. Sie glichen einander, haarlose Humanoide mit gütigen, hellen Augen, weißen Gewändern und dünnen, farblosen Lippen. Die körperliche Essenz des Homo Sapiens, auf das nötigste heruntergebrochen.
Ihre Hände waren ausnahmslos ineinander gefaltet. Sein Mentor, der stämmiger war als der Rest, saß vier Reihen hinter ihnen, ganz außen am Rand. Als Samuel hereinkam, waren seine Augen geschlossen. Er wirkte erschöpft und ausgezehrt.
Samuel riss sich von seinem Anblick los und betrat das Podium.
"Willkommen, Samuel. Wir hoffen, du hattest keine beschwerliche Anreise."
"Lange, aber nicht beschwerlich. Danke, Lectorem."
"Du hast eine schwierige Zeit hinter dir. Ein exploratives Studium des Byzantiums, wie es dir ermöglicht wurde, gehört zu den herausforderndsten überhaupt. Dafür siehst du ausgeruht aus."
"Danke, Lectorem. Ich fühle mich gut.", er machte eine kurze Pause. "Ich fühle mich bereit."
Ein formelles Lächeln erschien auf dem Gesicht des Lectorem, des byzantischen Vorstandes, der die Hände nun voneinander löste und sich zurücklehnte. Eine rätselhafte Energie ging von ihm aus. Wie konnte jemand, der tausend Leben im Byzantium gelebt hat, eine derart höfliche und zurückhaltende Art an den Tag legen? Samuel schluckte. Es blieb so lange still, dass er befürchtete, etwas vergessen zu haben, irgendeine wichtige Formalität.
"Soll ich beginnen?"
"Ganz mit der Ruhe. Gib uns doch erstmal deine Zeit."
"Etlam Pagoda eingeschlossen?"
Der Lectorem nickte.
"Neunundzwanzigtausend und elf Tage, zwölf Stunden und acht Minuten."
"Das sind fast 100 Jahre."
"Fast."
Sein Mentor beugte sich nach vorne.
"Wie fühlst du dich?", hakte der Lectorem nach. Bevor Samuel sein Wohlbefinden bekräftigen konnte, biss er sich auf die Zunge.
"Ich bin noch damit beschäftigt, die Eindrücke zu ordnen."
"Du hast die Tanks und Duschen in den letzten Monaten nur eine Handvoll Male genutzt, Samuel.", der Lectorem sah ihm direkt ins Gesicht. "Das ist nicht akzeptabel. Die Neurohygiene der Großhirnrinde und des Neocortex sind unverzichtbar."
Die wichtigste Prüfung seines Lebens begann mit einem Tadel.
Das ist nicht gut.
"Ich wollte auf Nummer sicher gehen, nichts zu vergessen."
"Du wirst dich doch nicht für immer an alles erinnern müssen."
"Aufgrund des Examens wollte ich mir keine Lücken erlauben."
"Lücken gehören dazu. Zu wissen, wo sie sich befinden dürfen, ist genauso Teil der Tätigkeit eines Bibliothekars."
Samuel sagte nichts und starrte geradeaus. Sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, der Lectorem könnte es hören.
"Gut. Also, wie dem auch sei - wollen wir beginnen?"
Die ersten Fragen betrafen Sphären aus dem mittleren einundzwanzigsten Jahrhundert.
Sie bereiteten Samuel keine Probleme.
"Parham Salimitabar.", sagte der Lectorem. "Erzähl uns von ihm."
"Er war ein iranischer General. Ein Mann, der bis zuletzt keine Schuld in dem sah, was er getan hatte. Eine ruhige, gestauchte Sphäre. Besonders zum Ende hin."
"Signatur?"
"C-O-3-3-4-5-BY00."
"Erzähl mir von seiner Kindheit."
"Auch ruhig, zum größten Teil. Er traf insgesamt eine Entscheidung mit Prioritätsstufe Delta. Um diese zu verstehen, sind die Stunden wichtig, in denen er und sein Bruder sich in einem U-Bahn-Netzwerk verliefen."
"Weshalb?"
"Parham hatte behauptet, die Karte vergessen zu haben, aber das war eine Lüge gewesen. Er hatte sie absichtlich daheim gelassen."
"Weshalb?"
"Er wollte sich seinem Bruder beweisen."
"Das weißt du woher?"
"05. August 2041. Er gestand es ihm."
"Weshalb ist das von Bedeutung?"
"Er verstand den Zorn seines Bruders darüber nicht, nach all den Jahren. Sie legten den Nährboden für die Zweifel, die ihn zehn Jahre später einen Angriffsbefehl auf die bubiyanische Küste unterbinden ließen. Dreizehn Tage später bekam er Nasenbluten und wurde in seinem Bad ohnmächtig. Das Blut bildete ein herzartiges Muster auf den Fließen. Parham vergaß den Anblick nicht. Er ließ sich untersuchen und man entdeckte einen malignen Tumor im Frontallappen. Eine Woche nach der Diagnose kam er ins damalige Byzantium und veranlasste den Transfer. Zwei Wochen später starb er."
"Du stufst die Episode bei Bubiyan als P-Delta ein?"
"Hätte er von Buschehr aus gefeuert, hätten die Posten bei al-Dschubail interveniert. Die Folgen wären katastrophal gewesen und hätten wahrscheinlich zu einem Ausbruch eines iranisch-saudischen Krieges geführt."
Der Lectorem sagte eine Weile nichts.
"Würden Sie...eine andere Einstufung vornehmen?"
"Ich hatte die Episode auf Phase Ksi eingestuft. Aber du bringst mich dazu, dies zu überdenken. Ich glaube du hast Recht - er war sehr weit oben in der Befehlskette."
Er schrieb etwas nieder.
"Fahren wir fort."
"Was ist das Byzantium, deiner Meinung nach, Samuel?", fragte der Bibliothekar neben dem Lectorem.
Er sah zu seinem Mentor, der den Blick erwartungsvoll erwiderte.
"Ein Konservatorium der Wahrheit. Ein Ort, wo die Geschichte der Menschheit aufbewahrt wird, wie sie sich abgespielt hat. Eine Dokumentation des Gelebten all jener, die ihr Wissen und ihre Erinnerungen dem Byzantium übertragen haben. Aus ihrer Sicht."
"Wahrheit beginnt mit dem Tod."
"Wahrheit beginnt mit dem Tod.", wiederholte Samuel.
"Dieses Wort, dieser...Begriff. Wahrheit. Findest du, er ist angebracht?"
Samuel stockte.
"Das Byzantium ermöglicht es, Wahrheit zu...erforschen."
"Erkläre, was du damit meinst."
"Weil das Byzantium die Wirklichkeit abbildet, in ihrem episodischen Wesen und der Verankerung im visuellen und orbitofrontalen Cortex."
"Du redest von Wirklichkeit. Nicht von Wahrheit."
"Die Abbildung der sensorischen Wirklichkeit, der selegierten, organisierten und interpretierten Information - sie ist der Stoff, aus dem sich unsere Erkenntnisse schöpfen. Die wiederum unser Handeln anleiten."
Stille.
"Auf dieser Grundlage lässt sich Wahrheit suchen und erforschen. Näher werden wir ihr nicht kommen."
Sein Mentor blickte aus dem Fenster. Trotz des golden eingefärbten Lichtes wirkte er immer noch müde. Samuel beschloss, ehrlich mit dem Prüfungsausschuss zu sein.
"Das Byzantium kann die großen Fragen der Menschheit nicht beantworten. Es ist der Art unterworfen, wie unser Hirn unsere Wirklichkeit ordnet, wie es die Lücken in unserer Wahrnehmung schließt. Das Byzantium ist so fehlerhaft wie wir es selbst sind."
Stille.
"Es kann die Probleme der Menschen nicht lösen, uns jedoch helfen, den Kern unserer Geschichte besser zu erfassen. Die Fehler der Vergangenheit."
Der Lectorem lehnte sich zurück und sah nach draußen. Ein Wolkenzug warf einen trägen Schatten in den Hörsaal, der wie ein Geist über die Tische und Stühle glitt und sich vor Samuels Füße in Luft auflöste.
"Fahren wir fort. Miranda Cosgrove."
Nach zehn Stunden war die Sonne hinter den Bergen versunken und die Temperaturen gefallen - es war tief in der Nacht, als das Colloquium sein Ende fand. Samuel war ermattet. Der Dank fiel knapp und formell aus, die Stirn des Lectorem lag in tausend Falten und erinnerte an eine brüchige Gipsmaske.
Ihm fiel erst auf, dass er keinen Schluck Wasser getrunken hatte, als er im Flur stand. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, also gurgelte er Wasser aus einem Hahn und war plötzlich wieder ganz Mensch. Neue Klarheit kam über ihn. Er war sich sicher, versagt zu haben.
Die Tür zum Hörsaal schwang auf, das Gemurmel der Bibliothekare und Gelehrten wurde hörbar. Er vernahm nur Wortfetzen und zwang sich, Ruhe zu bewahren. Ein Kleriker kam den Flur herunter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und plötzlich war er sich seines Scheiterns gewiss.
Er hatte alles über die Leben der Menschen zu wissen. Das war deine Aufgabe, nicht dieses verdammte Sinnieren darüber, welche Bedeutung das Byzantium hat. Als Teil des Rates und Diener des Byzantiums würde es seine Aufgabe sein, wie ein Gelehrter in den antiken Bibliotheken Alexandrias nun in den biographischen Sphären, ihren Schnittpunkten, und gesamtgeschichtlicher Bedeutung bewandert zu sein. Statt Regale würde er Sphären ablaufen. Statt Arithmetik hatte er die transferierten Leben zu untersuchen.
Doch er hatte zu oft und zuviel über den Wert dessen, was das Byzantium darstellte, philosophiert, hatte sich nicht helfen können, als all diese aufgestauten und zurückgehaltenen Gedanken aus ihm herausgesprudelt waren - Gedanken, die einem Lectorem zufielen, nicht einem einfachen Novizen.
Als sein Mentor den Flur herunterkam, war seine Miene jedoch gelöst. Er lächelte ihn an.
"Das war sehr gut, Samuel."
"Ich bin mir nicht sicher. Ich habe das Gefühl, dass der Lectorem nicht zufrieden mit mir war."
"Deine Abhandlungen über epistemologische Überzeugungen und deren Auswirkung auf die byzantische Topographie war unnötig lang, aber sinnig. Ich glaube, der Lectorem war insgesamt von dir überzeugt. Auch, wenn du dir anscheinend den Kopf über Dinge zerbrichst, die eher untypisch für einen Bibliothekar sind."
"Das tut mir leid."
"Entschuldige dich nicht. Dein Wissen war bemerkenswert, deine Antworten klug."
"ich habe falsche Schwerpunkte gesetzt."
"Die Natur des Byzantiums, nicht nur sein Zweck, sind für dich eben von großem Interesse. Das war mir auch bewusst, aber ich muss gestehen, die Tiefe deines Interesses unterschätzt zu haben."
"Ist das ein Problem?"
"Das kommt drauf an, Samuel. Deine Aufgabe wäre die eines Bibliothekars, nicht eines Lectorems. Deshalb bist du hier."
"Ich weiß."
"Gut. In den nächsten Stunden wirst du von uns erfahren, ob wir diese Berufung für dich sehen."
"Ich habe enorme Kapazitäten."
"Das weiß ich, Samuel."
"Überzeugen Sie den Lectorem."
"Das kann niemand.", eine sanfte Berührung an der Schulter, die erste väterliche Geste zwischen den beiden. "Gedulde dich noch ein wenig."
Er erhielt seine Antwort, während er auf einer Bank vor dem Mausoleum döste.
Die Gestirne des Byzantiums drehten ihre Kreise weit über ihm und sein müder Blick folgte ihrer Umlaufbahn. Würde dies sein neues Zuhause werden? Oder würde er zurückkehren müssen, in die ärmliche Provinz, dazu angehalten, jahrzehntelang von seinen möglichen Fehlern heimgesucht zu werden und jede einzelne Minute des Colloquiums zu rekapitulieren, für immer unfähig, Frieden zu finden?
Denn fest stand: Nur ein einziges Mal durfte man sich auf eine Stelle im byzantischen Rat bewerben. Allen Seelen unter der Sonne war dies gestattet, aber allen nur ein einziges Mal.
Er wusste nicht wohin sonst mit sich. Dies war sein Ort, sein vorbestimmtes Zuhause, daran hegte er keine Zweifel.
Er konnte nur hoffen, dass der Rat dies ähnlich sah.
Dann sah er seinen Mentor. Mit verschränkten Armen kam er den Hügel hoch. Er brauchte nichts zu sagen - Samuel sah den Sanftmut, das Wohlwollen im Blick des Mannes. Er nickte Samuels Gewissheit ab, und Novize und Mentor umarmten sich.
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In den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Bibliothekar war Samuel vor allem damit beschäftigt, falsche Vorstellungen und Erwartungen abzulegen.
Er schob dies auf die akademische Blase, in der er Jahre seines Lebens zugebracht hatte. Oft hatte er die Selbstberichte der Bibliothekare nur überflogen und sich stattdessen mit dem Wesen des Byzantiums und der Sphären auseinandergesetzt - jetzt saß er da und begriff, dass er im Grunde vor allem zwei Aufgaben hatte.
Den Transfer zu veranlassen und zu überwachen.
Und den Hinterbliebenen Fragen über die Verstorbenen zu beantworten.
Oft musste er an Andreas Haynachs Worte denken, nämlich dass das Byzantium einen Garten der Erinnerung für die Hinterbliebenen darstellte, ein zu Leben gekommenes Fotoalbum - nicht mehr. Samuel konnte verstehen, dass jemand, der das Byzantium nie besucht hatte, zu einem solchen Schluss kommen konnte.
Schließlich hatte er Söhnen nie die Wahrheit über ihre Väter erzählen müssen.
Hatte er nie Töchter vom niemals endenden Groll gegenüber ihren Müttern befreit.
Oder Brüder und Schwestern im Tode versöhnt.
Geschichte zu kartografieren war also nur ein kleiner Teil seiner Tätigkeit. Er hörte nie auf, sich vordergründig als Kundschafter der biographischen Sphären zu sehen. Doch er akzeptierte, dass Seelsorge Bestandteil seiner Rolle war und dass sich sein Kopf neben Namen und Daten vor allem auch mit Geheimnissen füllte.
Denn jedes Geheimnis, jeder noch so schreckliche Betrug, jeder Zweifel, jeder mörderische Akt, jeder Raub, jede Lüge, jedes Fundament der Schuld wurde von den Bibliothekaren in Erfahrung gebracht. Viele sahen im Transfer einen finalen Ablass, die letztmögliche Erlösung von Schuld. Andere begriffen mit wachsendem Entsetzen erst nach dem Transfer, was sie getan hatten - doch da gehörte ihnen ihre Geschichte schon nicht mehr. Denn der Transfer war auch ein Akt der Aneignung, der Überschreibung und Entmachtung - deine Geschichte gehört jetzt dem Byzantium.
Samuel dachte an ein junges Mädchen, keine zwölf Jahre alt, das sich für den Transfer eingefunden hatte. Sie war krank, so krank, dass man nicht damit rechnete, dass sie die nächsten Monate überstehen würde. Ihr Name war Carina gewesen. Und sie starb dann, Wochen später, im Schlaf, ein ruhiges, schweigsames Mädchen, dass keine Träne vergoss und Samuel Fragen über die Geschichte des Mausoleums stellte. Die Mutter erschien nach ihrem Ableben mindestens einmal die Woche und ließ sich von Samuel aus den Gedanken ihrer verstorbenen Tochter vorlesen.
Er dachte an ein wissenschaftliches Duo aus der frankogermanischen Föderation, das fieberhaft an der Konzeption und Herstellung von Kryo-Kammern arbeitete. Es kam halbjährlich für einen aktualisierenden Transfer ins Byzantium. Man war so sehr aufeinander angewiesen, dass ein vorzeitiges Ableben von einem der beiden verheerende Konsequenzen auf die Forschungsarbeit haben würde. Als der Fall dann eintrat und einer der Männer an einer seltenen Blutkrankheit erkrankte, diente Samuel nach dem Tod des Mannes als Sprachrohr seiner Gedanken - sein Partner kam ins Byzantium und suchte Hilfe in der Sphäre seines Kollegen, Antworten auf Fragen, die Samuel zwar nicht verstand, aber liefern konnte. Als der Durchbruch dann endlich gelang und Doktor Dupont sein Thesenpapier vorlegte, dankte er Samuel im Vorwort überschwänglich.
Er wanderte in den Ruinen Teherans. Besuchte den Friedhof in Jerusalem. Er offenbarte und sah Schreckliches und war in den ersten Jahren vor allem mit den Sphären ehemaligen Militärpersonals beschäftigt. Es war erschreckend, wieviele Entscheidungen in der alten Welt, selbst in den höchsten Rängen, von persönlichen Ressentiments geleitet waren, wie geläufig die willentliche Inkaufnahme menschlichen Elends war, vor allem kurz vor dem Kollaps. Und es war erschreckend wieviel Schuld die Männer und Frauen in den Parlamentsgebäuden willentlich auf sich geladen hatten. Samuel bezweifelte, dass die alten Diplomaten und Politiker begriffen, wie tief der Transfer reichen würde - und wie detailliert die Bibliothekare ihre Beweggründe aufschlüsseln würden.
Im dritten Jahr kehrte sein Mentor von einer Exkursion im asiatischen Großraum zurück. Nach Samuels Vereidigung hatte das Verhältnis einen enttäuschenden Verlauf genommen. Er hatte sich mehr erhofft - sein Mentor zeigte nur wenig Interesse an seinem Werdegang und wirkte in den Videokonferenzen oft abwesend und ermattet. Erst als Samuel hörte, dass er wieder dauerhaft eine Suite im Byzantium beziehen würde, beschloss er, das Gespräch mit seinem alten Freund zu suchen, diesmal von Angesicht zu Angesicht.
An einem besonders sonnigen Tag im August kamen sie auf der Bank zusammen, wo Samuel Jahre zuvor auf sein Urteil gewartet hatte. Wie damals saß Samuel auf der Steinbank und sah seinen Mentor den Hügel hinaufkommen, doch diesmal war alles anders.
Die ehemals hünenhafte Gestalt war eingefallen wie die eines Greises. Es war erschreckend. War er an Rheuma erkrankt, an einer Geißel aus der alten Welt? Er erinnerte an einen kranken Baum, der Gang schlurfend und verloren, die Augenlider auf Halbmast, während im Blick selbst ein beunruhigendes Funkeln brannte. Als er sich neben Samuel setzte, konnte dieser förmlich die Hitze spüren, die von ihm ausging. Sie hielten eine Weile Konversation, über das Byzantium, seine Gäste, über das Gebirge, das sie umgab, ehe Samuel den Mut aufbrachte, ihn auf seinen Zustand anzusprechen.
"Es ist nichts.", sagte er.
"Sind Sie krank?"
"Nein."
"Mit Verlaub. Sie wirken so.", er pausierte. "Seit...geraumer Zeit schon."
"Ich bin müde, Samuel. Das ist alles."
Samuel nickte die Worte seines Mentors ab. Augenscheinlich hatte er kein Bedürfnis, ehrlich mit seinem ehemaligen Novizen zu sein.
"Sie können mit mir reden. Das wissen Sie."
Die Augen des Mentors weiteten sich und zogen sich wieder zu, als wäre er die Helligkeit nicht mehr gewöhnt.
"Der Lectorem ist sehr zufrieden mit dir.", sagte der alte Bibliothekar. "Ich habe eine richtige Entscheidung getroffen, als ich dich für den Rat vorschlug."
Das Schweigen, das auf diesen Satz folgte, war auf unerklärliche Weise so traurig, dass Samuel die Stirn runzelte.
Dann erschien eine silberne Bergkatze auf dem Platz vor dem Mausoleum. Das Tier und der Mentor verkeilten ihre Blicke ineinander. Die spitzen Ohren richteten sich auf, das borstige Fell erzitterte, als ein kalter Wind über den Platz fegte. Die Gedanken des Mentors strömten auf das Tier ein, doch es wusste nichts mit ihnen anzufangen. Es löste sich, überquerte den Platz, folgte dem Gesang der Winde zwischen den Felsspalten und verschwand anschließend hinter einer Klippe.
Sein Mentor erhob sich, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und ging leicht gebückt zurück ins Mausoleum, ohne sich zu verabschieden.
Zwei Tage später saß Samuel in seinem Gemach, an seinem Marmortisch und entspannte nach einer neokortischen Dusche. Dopamine und Endorphine fluteten seinen Blutkreislauf, wie immer nach einem Aufenthalt in der kampischen Abteilung. Er wiederholte seine Fehler von früher nicht - einmal alle vierzehn Tage unterzog er sich einer vollständigen sensorischen Deprivation, alle sieben Tage einer NKD. Er hatte eine lose Liebschaft mit einer jungen Klerikerin, die vor zwei Jahren ins Mausoleum gekommen war. Sie hatte die Nähe zu ihm gesucht, nicht umgekehrt - anders wäre die Liebschaft wahrscheinlich auch nie zustande gekommen.
Er beschloss, sie anzupingen und zu fragen, ob sie am späten Abend zu ihm kommen wolle, als die Tür unerwartet aufging und der Lectorem hereintrat.
Samuel schoss hoch, doch mit einer einfachen Geste gab ihm der Lectorem zu verstehen, dass auf Formalitäten zu verzichten sei. Er schritt die Suite ab, blieb vor dem marmorweißen Globus stehen, den die Klerikerin Samuel vor ein paar Monaten geschenkt hatte und nahm anschließend Platz.
Samuel spiegelte die Bewegungen des Lectorem und achtete darauf, dass sein Gesäß den Stuhl nicht vor ihm berührte.
"Ein männlicher Bibliothekar. Eine weibliche Klerikerin. Bei weitem die typischste Konstellation im Mausoleum.", ein Lächeln erschien auf dem Gesicht, wieder allzu formell und seltsam leer. "Anastasia ist eine brillante Klerikerin. Gute Wahl.", ein Augenzwinkern oder schelmisches Grinsen blieben aus - Samuel brachte nur ein knappes "Danke" hervor und verkrampfte am ganzen Körper.
"Du machst dich gut, Samuel."
Er entspannte.
"Es füllt mich immer noch mit großem Stolz, hier sein zu dürfen, Lectorem."
"Du besitzt ein natürliches Verständnis für die ipsative Natur menschlicher Biographien. Deine kortischen Kapazitäten sind enorm. Du bist ein Glücksfall für das Byzantium und das Mausoleum."
"Danke, Lectorem."
Dann folgte erneut Stille. Der Lectorem schien eine Weile geradewegs durch ihn hindurch zu sehen.
"Ich fürchte, mein Besuch hat einen eher unerfreulichen Anlass. Der unmittelbar an eine Bitte geknüpft ist, die ich an dich habe."
Er brauchte es nicht auszusprechen - Samuel spürte sofort, dass es um seinen Mentor ging.
"Es geht ihm nicht gut.", sagte der Lectorem, als hätte er seine Gedanken gelesen. "Er leidet, schon seit langem. Und wir sind nicht sicher, weshalb."
"Es ist mir auch aufgefallen. Er wirkt...obsessiv. Etwas beschäftigt ihn."
"Wir haben ihn vorübergehend suspendiert. Er befindet sich in der kampischen Abteilung zur Untersuchung."
"Glauben Sie, es handelt sich um Langzeitauswirkungen?"
"Nein. Wir achten sehr darauf, wem wir diese Aufgabe zutragen und er hat immer gut auf sich acht gegeben. Wir haben einen anderen Verdacht."
Stille. Samuel stand auf, schenkte dem Lectorem Wasser in ein gekühltes Glas ein, das dieser ergriff und lange betrachtete, ehe er den ersten Schluck trank.
"Du hast in der Tat Recht. Etwas beschäftigt ihn. Reichenbach glaubt, er ist im Byzantium auf etwas gestoßen. Etwas, das er nicht versteht."
"Interessant."
"Es ist nur eine Vermutung. Deshalb auch meine Bitte an dich."
Der junge Bibliothekar verkeilte die Hände unter dem Tisch ineinander. Seine Aufregung entging dem Lectorem nicht - nichts schien ihm zu entgehen, er war wie ein Schwamm, der auch die geringste Regung seines Gegenübers aufsog.
"In seinem Zimmer befindet sich sein Aktuator."
"Lectorem..."
"Vollziehe nach, wo er sich zuletzt befand, Samuel. In Ordnung?"
Samuel nickte vorsichtig. Er hatte das Gefühl, den Schlüssel für ein fremdes Haus ausgehändigt zu bekommen, und das behagte ihm nicht.
"Du zweifelst."
"Nein, Lectorem. Es ist nur..."
"Du fragst dich, warum ich das nicht selbst nachvollziehe.", er nickte, stand auf und begann, sich zu entfernen. Kurz blieb er erneut vor dem Globus stehen. "Ein Lectorem kehrt ab einem gewissen Punkt nicht mehr ins Byzantium zurück. Das hat viele Gründe."
"Ich verstehe.", sagte Samuel.
"Wenn du weißt, wo er war. Weißt, welche Fragen du ihm stellen musst, geh ihn besuchen."
Die Gestalt des Lectorem war so flüchtig, dass Samuel fest damit rechnete, ihn als nächstes wie einen Geist durch die Wand gleiten zu sehen. Er verließ seine Suite stattdessen wieder über die Tür, geräuschlos und still und überließ Samuel tiefer Grüblerei und der Sorge um seinen ehemaligen Mentor.
Der Aktuator seines Mentors befand sich nicht wie früher eingewickelt in Seide in einer Holzbox, sondern lag auf dem gläsernen Tisch. Ein dunkelblaues Pulsieren ging von dem Gerät aus - er war lediglich in den Ruhemodus versetzt worden. Es wirkte, als hätte ihn sein Mentor wütend entfernt und von sich geworfen.
Samuel überlegte, wie es wäre, wenn jemand seinen Aktuator ohne sein Einverständnis nutzen würde - eine fürchterliche Vorstellung. Aktuator und Bibliothekar waren eine Einheit. Diese Einheit auf diese Weise zu infiltrieren, aufzubrechen - jede Faser seines Körpers wehrte sich dagegen. Doch an der Bitte des Lectorem gab es nichts zu rütteln und er konnte es nicht abstreiten: Der Vetrauensvorschuss schmeichelte ihm.
Er steckte den Aktuator ein, lief nach draußen und drehte ein paar Runden um das Mausoleum, ehe er sich abseits eines Gebirgspfades auf eine Steinbank niederließ. Als er den Aktuator an seine Schläfe legte, spürte er die Wärme, die von dem Sensor ausging - bis zuletzt hatte ihn sein Mentor exzessiv genutzt.
Das blaue Licht des Byzantiums hüllte ihn ein, dann gebaren sich die ersten Schemen in der Dunkelheit.
Vor sich sah er in einer virtuellen Matrize die Dokumentation der letzten Aktivitäten. Er fegte sie zur Seite und ließ sich per kortischen Befehl an die Sphäre bringen, die sein Mentor zuletzt besucht hatte.
Der Vorhang lichtete sich. Konturen schmolzen durch das Dickicht byzantischer Nacht, Kontraste und Raster näherten sich wirklichkeitstypischen Mittelwerten an. Es war, als würde jemand einen Eimer aus flüssigem Licht über Schemen ausleeren, die dann wie glühendes Metall rasch abkühlten, sich mit Schneegestöber füllten und im Anschluss die ihnen zugedachte Form annahmen: ein Abziehbild der Realität, das ihr in Sachen sensorischer und informativer Dichte in Nichts nachstand.
Samuel wartete geduldig die Manifestation ab und stutzte anschließend, als er merkte, wo er sich befand.
Das Mausoleum?
Das Bild wurde schärfer. Samuel erkannte die Wände und den Querschnitt sofort.
Ich bin im Transfersaal.
Per Aktuator vergewisserte er sich, in wessen Sphäre er sich befand.
Etlam Pagoda.
Die letzte Sphäre, die sein Mentor besucht hatte, war die des Etlam Pagoda, die Sphäre seiner persönlichen Feuertaufe.
Er überprüfte das Chronometer. Es zeigte ihm an, wo genau er sich befand: In den letzten Minuten vor dem Transfer des alten Mannes, kurz vor seinem Tod.
Seine astrale Gestalt riss herum, als sich die Tore zur Halle öffneten und er sah, wie Etlam Pagoda, gestützt von seinem Mentor, langsam auf die byzantische Liege zuging. Der Raum war nicht nennenswert gestaucht - Pagoda war seinem Ende recht gleichmütig begegnet. Der Timer des Chronometers passte sich an. Dann überprüfte Samuel den Verlauf des Aktuators.
Ein eiskalter Schauer überkam ihn.
Ungläubig überflog er die Angaben.
Sein Mentor hatte diesen Moment, als er Etlam zum Transfer gebracht hatte, diese zehn Minuten vor seinem Ableben, in den letzten zwei Jahren mindestens sechstausend Mal aufgesucht.
Mein Gott...
Samuel blickte auf, beobachtete, wie sich der alte Mann auf die Pritsche niederlegte und der Mentor seine Schienen entfernte. Der Raum hellte auf, Licht fiel durch die Öffnung der Kuppel, Schatten, besser gesagt die diffuse Erinnerung an ihnen, kamen auf Etlam herunter. Dann stockte der Moment, weil der alte Mann an dieser Stelle ahnte, dass er nach dem Transfer loslassen und sterben würde. Licht pulsierte in den Wänden. Es dauerte nicht lange, dann nahm der Augenblick wieder seinen gewohnten Fluss auf, und sein Mentor stellte sich neben den alten Mann und legte ihm die Hand auf die Brust.
Die zwei Kleriker entfernten sich, der Transfer ging von statten, dann verdunkelte sich die Welt - Etlam war an sein Ende gekommen.
Der Vorhang fiel.
Samuel stand nun in völliger Dunkelheit.
Die modulare Projektion erschien vor ihm.
Ende des Chronometers. Wie gewohnt kein Licht am Ende des Tunnels. Das ist alles? Samuel war ratlos. Nichts an diesem Moment erschien ihm ungewöhnlich, nichts erklärte, weshalb er für den Mentor von solch enormer Bedeutung gewesen war. Ein Transfer, wie er ihn schon tausende Male zuvor durchgeführt hatte.
Er registrierte seinen Besuch in der Dokumentationsmatrix, deaktivierte diese und verließ anschließend das Byzantium.
Er fand sich auf der Steinbank wieder und entfernte den Aktuator. Eine dünne Gewitterfront zog heran, wie ein dunkelgraue Schale, die durch den Rest der Wolken wie durch eine Eisscholle brach.
Winde brandeten auf.
Die silberne Bergkatze stand am Ende des Pfades und betrachtete ihn. Er konnte nicht sagen, wie lange das Tier dort schon gestanden hatte.
"Pagoda?", fragte der Lectorem.
"Ja."
"Ein einfacher Transfer."
"Nichts daran ist besonders.", bestätigte Samuel.
Der Lectorem lehnte in seinen Sessel. Das Regenprasseln gegen seine Fensterwand verstärkte sich. Während der Gelehrte seinen Gedanken nachhing, erlaubte es sich Samuel, die Suite zu mustern.
Die Wände waren kahl, schmucklos und erstrahlten in einem grellen Weiß. Auf einer kleinen Empore stand ein Glaskasten, der den ehemaligen Aktuator des Lectorems beherbergte. Es schien ein älteres Modell, größer und klobiger, das mit einer Schiene am Ohr befestigt wurde.
Ein klassisches Stilleben eines gefüllten Obstkorbes hing darüber. Ansonsten befanden sich nur noch ein schneeweißer Tisch sowie der Sessel in der Suite. Keine Pritsche, kein Bett, keine Möbel. Samuel konnte beim besten Willen nicht sagen, wo und wie der Lectorem nächtigte.
"Das ist seltsam."
Die Winde, die sich angekündigt hatten, waren nun zu orkanartigen Böen ausgewachsen, die die höher gelegenen Wolkenzüge auseinanderzogen. Sie hatten also einen formidablen Ausblick auf das Gebirgstal am Fuße des Mausoleums, dessen dünner Flußlauf und grüne Weiten von einer grauen, tosenden Melange verschleiert wurden. Samuel pflichtete ihm bei. "In der Tat."
Sie trugen weiß, er, der Lectorem und der Bibliothekar mit dem Namen Reichenbach, der mit dem Rücken zu ihnen an der gläsernen Wand stand und ins Tal blickte. Jedes Mal, wenn es blitzte, zuckten die Finger seiner rechten Hand zusammen.
"Hat er sich schon geäußert?", fragte Samuel. Er war in der Präsenz eines der ranghöchsten Bibliothekare - Reichenbach galt als unnachgiebig und launisch. Er wählte seine Worte mit Bedacht.
"Nein.", sagte Reichenbach. "Er schläft viel." Sein Blick folgte den Mustern, die der Regen auf dem Glas zeichnete, Tropfen, die erzitterten, zerplatzten und sich in transparente Rohrschach-Muster verwandelten.
"Er ist also besessen von den letzten Minuten des Etlam Pagoda. Weshalb?"
"Das gedenke ich ihn zu fragen, Lectorem."
"Du hast dir die Episode wie oft angesehen?"
"Acht Mal. Ich werde aber noch ein paar Mal zurückzukehren."
"Wir übersehen etwas.", flüsterte Reichenbach.
"Das wissen wir nicht. Es ist immer noch möglich, dass eine Geisteskrankheit ausgebrochen ist."
"Ein Prävalenz-Risiko hätte sich im Screening gezeigt."
"Vielleicht nicht. Vielleicht haben wir es mit einer seltenen Ausnahme zu tun, und Konstantin ist...einfach nur erkrankt." Der Lectorem stand auf und gesellte sich an Reichenbachs Seite. "Geh zu ihm, Samuel. Richte ihm unsere Genesungswünsche aus."
"Das werde ich, Lectorem."
Das waren auch die ersten Worte, die er an seinen ehemaligen Mentor richten wollte. Der Lectorem und der Bund der Bibliothekaren sind für Sie da. Doch sie würden ihm nur widerwillig über die Lippen kommen - zu beklemmend war der Anlass, zu unergründlich der Zustand des Mannes.
Er befand sich nun in einer der unteren Anlagen, weit unter dem Mausoleum, mit Tonnen von Gestein und Granit über seinem Kopf. Die schiere Masse über ihm schien einen unmerklichen Druck auf seine Schläfen auszuüben, während er auf einem Pod den silbernen Korridor hinabfuhr, vorbei an großteils leeren Krankenzimmern, die hinter unsichtbarer Verglasung ins Gestein hineinragten. Eine einzige weitere Person war in den unteren Anlagen zu diesem Zeitpunkt zugange, eine junge Frau in goldenem Neopren, die ihm auf ihrem Pod entgegenkam und ihn keines Blickes würdigte.
Nach ein paar Minuten bremste sein Pod von alleine ab und er stieg von der silbernen Schale hinab. Er sah ins Krankenzimmer. Es war so karg, wie er es erwartet hatte, mit sensorischen Panelen an der Decke, die ununterbrochen biometrische Daten lasen. Sein Mentor lag mit dem Rücken zum Glas auf einer Pritsche. Die Fußballen waren dreckig, er hatte die Arme um sich geschlungen und die Fötushaltung angenommen.
"Der Lectorem...und der Bund der Bibliothekare richtet Grüße aus. Man hofft auf Ihre baldige Genesung."
Roboterhafte, leere Worthülsen, auf die der Mentor nicht reagierte.
Samuel rümpfte die Nase.
"Rede mit mir, Konstantin."
Er hatte seinen Mentor noch nie beim Namen genannt. Er bezweifelte, dass das überhaupt jemand in den letzten Jahren oder gar Jahrzehnten getan hatte. Da drehte sich der kahle Kopf des Mannes. Blutunterlaufene, glasige Augen fanden Samuel, dann richtete sich Konstantin langsam und ächzend auf. Das Skelett unter der dünnen Haut zeichnete sich ab, er hatte dreißig, vielleicht vierzig Pfund verloren und bewegte sich, als würde er durch ein unsichtbares Watt stelzen.
Die Panele blitzten und gaben ein grünes Schimmern von sich.
"Mein Gott.", Samuel berührte das Glas, sank auf den Pod, der sich nun in Sitzhöhe befand.
Sein Mentor nickte leicht, wie in Bestätigung dieser zwei Worte. Dann folgte ein schmerzliches Lächeln, als wolle er fragen Wessen Gott? Wessen Gott, Samuel?
Plötzlich bekam es Samuel mit der Angst zu tun.
Angst davor, dass der Mann gefährliches Wissen mit ihm teilen könnte.
"Weißt du, was dich von mir unterscheidet, Samuel?"
"Konstantin. Du musst wieder essen."
"Wenn du dich erinnern solltest - eins unserer letzten Gespräche, bevor du mit dem Studium begonnen hast. Du hast mich gefragt, weshalb du. Erinnerst du dich? Du hast mich gefragt, weshalb man dich ausgesucht hatte."
"Ich erinnere mich."
"Erinnerst du dich auch an meine Antwort?"
Samuel schluckte. "Weil ich keine Geschichte habe."
"Weil du keine Geschichte hast. Nun, jetzt hast du eine. Die Geschichte des Byzantiums ist nun deine Geschichte.", seine Stimme war brüchig, kaum lauter als ein Flüstern. "Du warst...bist das leere Gefäß, in das seine Geschichten hineinströmen."
Er hielt kurz inne. Blickte über seine Schultern zu den Sensoren.
"Das war bei mir nicht so. Als ich hier hin kam, trug ich bereits eine Geschichte mit mir herum. Eine lange, schwierige Geschichte, die von Anfang an zuviel Raum einnahm. Ich war ein denkbar ungeeigneter Kandidat. Denkbar ungeeignet..."
"Ich kenne deine Geschichte, Konstantin."
"Tust du das?"
"Du warst Arzt. Du warst ein Mann, der den Kranken half, als er jung war, dessen Handwerk überflüssig wurde, als..."
"Als die neue Welt geboren wurde. Ja. Aber das ist nicht meine Geschichte.", kraftlos ließ er den Kopf hängen, schüttelte ihn leicht, als wolle er sich von ein paar Spinnweben befreien. "Das ist nicht meine Geschichte..."
"Man macht sich große Sorgen. Ich mache mir große Sorgen."
"Weshalb bist du hier?"
Samuel biss sich auf die Zunge, zwang sich, ehrlich zu sein - soviel verdiente der Mann hinter der Glasscheibe.
"Ich bin hier, weil ich verstehen will, was dir widerfahren ist."
"Was einem Bibliothekar eben manchmal widerfährt."
"Das ist nicht wahr. Es gibt keine dokumentierten Fälle rapider, psychischer Degeneration wie bei dir, Konstantin, zumindest nicht unter Bibliothekaren."
"Ist es das, was dir der Lectorem gesagt hat?"
"Ja, aber ich habe es auch selbst überprüft. Da ist nichts. Deine Blutwerte sind in Ordnung. Deine Neurochemie stimmt, hinsichtlich aller relevanter Rezeptoren und Transmittern.", Samuel erhob sich und kam näher ans Glas. "Etwas anderes ist passiert."
Der Blick seines Mentors ängstigte ihn. Er ging geradewegs durch ihn hindurch, der Blick eines Sterbenden, der sich zunehmend vom Diesseits abkapselte und in einem unsichtbaren Äther davontrieb.
"Was glaubst du, was passiert ist?"
"Ich...weiß es nicht. Ich weiß nur, wovon die letzten zwei Jahre besessen gewesen bist."
"Besessen?"
"Pagoda. Etlam Pagoda. Du hast seine Sphäre besucht, immer und immer wieder."
"Ja.", flüsterte er, "Das habe ich."
Samuel war angespannt, als würde die Glassscheibe zwischen den beiden nicht existieren, als müsse er damit rechnen, dass sein ehemaliger Mentor eine todbringende Klinge hinter seinem Rücken versteckte.
"Du hast seine letzten Minuten unzählige Male aufgesucht. Weshalb?"
Eine einzige Sekunde verstrich, mehr hatte es nicht bedurft und Samuel verstand sofort - er hatte seine Chance auf eine Antwort verspielt. Das Weshalb - es war zu pressend gewesen. Ob echt oder nicht, ob Geisteskrankheit, Hirngespinst oder fundamentale Sinnkrise: Eine Erkenntnis hatte den Mentor in einen Schatten seiner Selbst verwandelt.
Konstantin schleppte sich zurück zur Pritsche.
"Ich habe hingesehen. Ich habe mir den Moment immer wieder angesehen. Du führst ihn zur byzantischen Liege. Die Kuppel öffnet sich. Schatten. Die byzantischen Fäden, dann lässt Pagoda los. Du bist das letzte, was er sieht."
"Du hast hingesehen.", sagte Konstantin. Er legte sich wieder hin, in die gleiche Position und schlang die Arme wieder um sich. "Aber hast du auch hingehört?"
Samuel stutzte.
Konstantin rührte sich nicht mehr.
Schweigend wohnte er dem Mann bei, dem er soviel verdankte, und sah ihm anschließend eine Weile beim Schlafen zu, ehe er sich wieder entfernte.
Hast du auch hingehört?
Das war leichter gesagt als getan.
Auch wenn das Byzantium zu den bedeutendsten Erfindungen seit dem Feuer gehörte - es war immer noch eine Erfindung der Menschen und somit intrinsisch fehlerhaft. Feuer war Feuer - die Essenz war die Form. Das Byzantium wurde im Feuer der Erinnerungen geschmiedet - eine Essenz, die ihre endgültige Form noch suchte und im Zuge dessen mit seinen Makeln rang.
Von einem dieser Makel zeugte das byzantische Rauschen, eine undefinierbare Geräuschkulisse mit chaotischer, oszillierender Wellenform. Es handelte sich um Kaskaden von Stimmgewirr und zivilisatorischem Raunen, das sich konstant im Hintergrund hielt und von allen Bibliothekaren, die sich länger im Byzantium befanden, ausgeblendet werden musste wie ein nervtötender Tinnitus. Generationen von Klerikern war es bislang nicht gelungen, das byzantische Rauschen zu eliminieren, doch war ihnen in den letzten Jahrzehnten eine spürbare Reduktion gelungen. Wie genau das Rauschen zu Stande kam, war nicht klar, fest stand: Das Byzantium hatte Probleme bei der Replikation und Manifestation von Information, die vom auditiven Cortex verarbeitet worden war.
All das machte den Akt des Hinhörens schwieriger als angedacht, besonders, wenn es sich um Flüstern handelte.
Um das Flüstern eines Sterbenden.
Samuel war wieder in Etlam Pagodas Sphäre, an der Schwelle seines Todes und umlief die Pritsche in den entscheidenden Minuten zum zwanzigsten Mal. Inzwischen war ihm aufgefallen, dass Etlam etwas in Konstantins Ohr zu flüstern schien, Sekunden vor seinem Tod.
Wenn man sich des byzantischen Rauschens bewusst wurde, drängte es sich verstärkt in die Wahrnehmung. Also musste Samuel knien, meditieren und sich konzentrieren. Er hatte eine Schleife programmiert, die ihn die entscheidenen Sekunden immer und immer wieder betrachten ließ, so oft, bis er glaubte, das Flüstern festsetzen zu können.
Das Flüstern des Etlam Pagoda.
Er stand auf, glitt durch die erkämpfte Stille und ging an die Pritsche, wo er Etlams Mund genau beobachtete.
"Es steht jemand an meinem Bett, Bibliothekar."
Samuel folgte dem Blick des Sterbenden.
"Er ist hier. Ich kann ihn sehen."
Leere.
Der Blick ging in die Leere.
Samuel lief ein paar Schritte zurück, fror den Moment ein und stellte sich in die Schneise von Etlams glasigem letztem Blick. Er betrachtete das gefrorene Licht, die Reflexionen der byzantischen Fäden. Er blickte immer wieder um sich und sah niemanden außer Konstantin und Etlam.
"Er könnte ihn selbst gemeint haben.", sagte Reichenbach. "Konstantin."
"Das glaube ich nicht.", sagte Samuel. Er war zu aufgeregt, um seinen Tonfall gegenüber Reichenbach zu justieren. Er wandte sich dem Lectorem zu, der seine Empfindungen hinter einer düsteren Miene verbarg. .
"Lectorem. Sein Blick. Er hat etwas fixiert, was nicht in der Sphäre zu sehen ist."
"Eine Mutmaßung."
"Ich lade Sie ein, es sich selbst anzusehen, Reichenbach. Seine Pupillen fixieren etwas."
"Dann müsste es zu sehen sein."
"Ist es aber nicht. Lectorem. Das ist ja das Erstaunliche..."
Müder Augenschlag. Ein Blick hinaus in einen Sturm, der nicht zur Ruhe kommen wollte und unablässig am Mausoleum rüttelte. Die Suite des Lectorem wirkte so aufgeräumt und leer wie beim letzten Mal.
"Wenn Samuel Recht hat, und Etlam Pagoda in seinen letzten Minuten eine Erscheinung hatte, müsste davon etwas, und seien es nur Schemen, sei es nur eine Veränderung der Atmosphäre, im Byzantium ersichtlich sein."
"Ich weiß.", sagte Reichenbach gereizt.
"Wir haben genug Transfers gehabt, die über den Todeszeitpunkt hinausgingen. Genug sind auf der byzantischen Liege verstorben. Und ihre Sphären zeigen oft in den Minuten vor dem Ableben Reminiszenen von Visionen, Silhouetten. Von Familienmitgliedern, ätherischen Entitäten. Verstorbenen. Das Byzantium ist voll von solchen Erscheinungen und Einbildungen.", sagte Samuel.
Reichenbach schwieg. Als er aus dem Augenwinkel den Lectorem anfunkelte, zeigten sich das erste Mal Zweifel. Lange sprach niemand der drei, jeder hing seinen Gedanken nach und es fiel Samuel zu, nach einer halben Stunde wieder das Wort zu ergreifen.
"Darf ich Sie etwas fragen, Lectorem? Ist es möglich, dass jemand auf das Byzantium zugreifen und Teile darin löschen kann?"
"Nein.", sagte der Lectorem. "Ich weiß, dass das die nahliegendste Erklärung ist, Samuel. Aber das Byzantium kann nicht...gehackt werden."
"Wie sicher sind Sie?"
"Genug, Bibliothekar. Vergegenwärtige dir deine Position.", zischte Reichenbach.
"Es ist in Ordnung, Reichenbach. Ich verstehe Samuels Neugier. Und ja. Ein derartiger Zugriff würde von uns bemerkt werden. Ich nehme an, dass du die Registrierungs- und Aktivitäts-Historie bereits nachvollzogen hast?"
"Ja. Ich habe keinerlei verdächtigen Aktivitäten ausmachen können, Lectorem, ich wollte nur..."
"Diese Technologie existiert nicht, Samuel. Derart auf den Quellcode des Byzantiums zugreifen zu können ohne erheblichen Schaden anzurichten oder zumindest auf sich aufmerksam zu machen - das ist schlichtweg nicht möglich."
"Es kann immer noch sein, dass er diese Worte einfach nur gesagt hat, weil sie ihm kamen. Ohne tieferen Grund. Dass er auf etwas Bezug genommen hat, dass..."
"Ich kenne Etlam Pagodas Sphäre inzwischen sehr gut. Es..."
"...fällt dir sehr leicht, mir ins Wort zu fallen, Samuel.", sagte Reichenbach, ohne ihn anzusehen.
"Verzeihung. Ich...bin sehr aufgewühlt. Es ist nur...das ist es, was Konstantin in den Wahnsinn getrieben hat, Lectorem. Ich will ihm helfen."
Stille.
"Es ist unerklärlich. Etlam Pagoda hat etwas gesehen, in seinen letzten Minuten. Etwas, das im Byzantium keine Spuren hinterlassen hat."
Der Lectorem flüsterte Reichenbach etwas zu, der die Worte eifrig abnickte und sich dann Samuel zuwandte.
"Vielen Dank für deine Mühen, Samuel.", ein abwartender Blick, ein Verschränken der Hände hinter dem Rücken und das leichte Hervorheben der Brust: Er, Samuel, hatte sich seiner Position als frischer Bibliothekar entsprechend zu verhalten. Zu schnell hatte er die Ehrfurcht vor dem Lectorem und den älteren Bibliothekaren abgelegt - ein paar Jahre im Mausoleum, das war nichts, gar nichts, er war gerade erst aus den Kinderschuhen herausgewachsen und gebärte sich bereits wie ein Marathonläufer. Er wusste, dass der Lectorem das gewissermaßen an ihm schätzte, doch unter Reichenbach und den anderen Bibliothekaren wurde das Flüstern lauter: Wer glaubt er, wer er ist.
"Vielen Dank.", Samuel verbeugte sich knapp und verließ das Zimmer.
Im Verlauf der nächsten Wochen veränderte sich etwas.
Im Mausoleum.
In den Köpfen der Kleriker, in den Köpfen der Bibliothekare und der Techniker.
Während Samuel in seinen altmodischen Unterlagen blätterte oder Protokolle an seinem Tisch sichtete, hielt er immer wieder inne und horchte auf. Er hörte Schritte im Flur, flüsternde Stimmen. Die andächtige Stille hatte einer fiebrigen Umtriebigkeit Platz gemacht - es war, als hätte jemand die Temperaturen im gesamten Mausoleum um paar Grade heraufgesetzt. Auch Anastasia war es aufgefallen. Sie erzählte Samuel von den Gerüchten über Konstantin, die die Runde machten, ehe sie für zwei Wochen ins frühere Russland versetzt wurde mit dem Auftrag, ein paar ehemalige Generäle zum Transfer zu überreden.
Doch es waren nicht die Gerüchte, die Samuel Sorge bereiteten. Das allgegenwärtige Schweigen hatte sich in ein Gefängnis verwandelt, das ihre Gedanken nicht mehr halten konnte. Wie Blasen, die auf die Oberfläche zutrieben, platzten die Sorgen in den Alltag. Unzählige Besucher kündigten sich an und es zeichnete sich allmählich ab: Das Rätsel des Etlam Pagoda lockte Bibliothekare, andere Lectorem und Kleriker aus der ganzen Welt an.
Es war nach sechs Tagen voller Grüblerei und stiller Sorge um Konstantin, als die erste Prozession vor dem Mausoleum erschien und Samuel zu begreifen begann, welche Wellen das Pagoda'sche Rätsel schlug.
Er sah ihrem Ankommen vom Fenster seines Arbeitszimmers aus zu. Ganze Straßenzüge voller Pods fuhren vor, aus denen wehende Roben und rote Habite stiegen. Besonders auffällig war der schwarze Habit des dritten Global-Lectorem, der wie ein dunkler Fanal auf dem Vorplatz tanzte. Seinem Lectorem fiel es zu, die Besucher willkommen zu heißen, doch Samuel hatte nicht den Eindruck, dass so etwas wie Festlichkeit in der Luft lag. Im Gegenteil - die Stimmung war gedrückt, die Atmosphäre angespannt.
Samuel wurde wie die meisten anderen Bibliothekare und Kleriker an die Peripherie gedrängt. Das war in Ordnung. Er gehörte an den Rand dieser Umwälzungen und kränkelte nicht an falschem Stolz, nur weil er Konstantins Entdeckung an den Lectorem herangetragen hatte.
Dann wurde Etlam Pagodas Sphäre isoliert.
Und hinter verschlossenen Türen nahmen die Lectorem und Bibliothekare den Ort in Beschlag, der alles in Frage stellte, was sie über das Byzantium zu wissen glaubten.
Dann besuchte die Prozession Konstantin.
Als er davon Wind bekam, fing Samuel Reichenbach im Flur des Mausoleums ab und stellte ihn zur Rede. Es hatte Gerüchte gegeben - ganz schreckliche Gerüchte.
"Sie wollten mit ihm reden. Aber er verweigerte sich."
"Das heißt?"
"Samuel, ich kann jetzt nicht..."
"Reichenbach, Konstantin ist mein Freund."
Der Bibliothekar blickte mit eisblauen Augen durch ihn hindurch.
"Und deshalb bin ich dir irgendeine Erklärung schuldig?"
"Es heißt...", Samuel schluckte, "...es heißt, er hätte sich erhängt."
Reichenbachs Miene veränderte sich nicht.
"Reichenbach."
"Viele Dinge passieren zur Zeit, Samuel."
"Ich weiß."
"Das Byzantium wirft das erste Mal echte Fragen auf. Wir stehen vor einem Rätsel."
"Reichenbach, das weiß ich. Ich will nur wissen, wie es um Konstantin steht."
Der klirrende Blick wurde milder. Schritte ertönten hinter ihnen, Reichenbach sah über seine Schulter.
"Es stimmt. Er hat sich erhängt.", sagte er. "Es gab kein Begräbnis. Er wurde eingeäschert. Seine Überreste wurden im Tal zerstreut."
Samuels Herz machte einen Sprung.
"Nimm dir den heutigen Tag frei. Melde dich morgen in der verdischen Abteilung. Du und andere Bibliothekare, ihr werdet anfangen, das Byzantium nach ähnlichen Anomalien wie die des Etlam Pagoda abzusuchen."
Samuel starrte ihn an.
"Es tut mir leid um Konstantin.", sagte Reichenbach zögerlich. "Er war ein guter Mann.", dann entfernte er sich.
Konstantins Tod lag nicht mal zwei Tage zurück, als Samuel beschloss, den Lectorem aufzusuchen. Die höhere Riege des Byzantium-Netzwerks befand sich in heller Aufruhr und schirmte sich ab. Mehr und mehr Geistliche strömten in das Mausoleum und sämtliche Klosterzellen und -zimmer waren inzwischen belegt. Er antwortete nicht auf Anastasias Versuche, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er war zu aufgewühlt und wütend. Er hatte sich übergegangen gefühlt - man hatte ihm die Möglichkeit vorenthalten, seinem alten Freund beizustehen.
"Du hättest nichts für ihn tun können.", der Lectorem empfing ihn zwischen Audienzen und Arbeitsgruppen, während seine Suite mit Klerikern nur so überquoll.
"Ihr hättet mich in Kenntnis setzen sollen."
"Versteh doch, Samuel: Es passierte alles sehr schnell. Nachdem er mich, die Lectorem und die anderen Bibliothekare geächtet hatte, hatte er die Panele über dem Bett aufgebrochen, einen Kabelschlauch herausgewickelt und sich erhängt."
"Ich will es sehen."
"Samuel."
Mit ernstem Gesichtsausdruck winkte er ein paar Kleriker ab, die ungeduldig hinter Samuel auf der Stelle traten.
"Ich muss, Lectorem."
"Dann sieh es dir an. Ich übertrage dir die Aufnahmen der Kampischen Abteilung.", dann drehte sich der Lectorem um. "Aber ich warne dich. Es ist schrecklich."
Er sollte Recht behalten.
Es hatte sich ungefähr so abgespielt, wie der Lectorem es beschrieben hatte. Er hatte nur ausgelassen, dass Konstantin Stühle gegen das Glas geworfen hatte und völlig außer sich war. Nachdem sich die Prozession entfernt hatte, sank er weinend in sich zusammen. Er wog sich eine Weile hin und her, ehe er plötzlich ganz still wurde und die Selbsttötung innerhalb weniger Minuten und mit kalter Entschlossenheit durchführte. Sein Körper erbebte ein einziges Mal heftig, dann war es vorbei, und er baumelte tot von der Decke.
Nachdem er die Aufzeichnungen gesichtet hatte, verfiel Samuel in einen apathischen Zustand, der tagelang anhielt. Er tat, was von ihm erwartet wurde und suchte das ihm zugewiesene Territorium nach ähnlichen Anomalien ab, doch fühlte er sich dabei wie betäubt. Der zuckende, dann ruhende Körper seines ehemaligen Mentors wollte ihm nicht aus dem Kopf - ein Anblick, schlimmer als alles was er im Byzantium angetroffen hatte.
Es war an einem regnerischen Tage in der Mitte der Woche, in diesen Zeiten seltsamer Umwälzungen und tiefer Trauer, er saß auf seiner Steinbank am Gebirgspass und wollte die Arbeit wieder aufnehmen, als sich der Aktuator in seiner Hand plötzlich abschaltete.
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Man ließ ihn stundenlang alleine, in einem fensterlosen Raum, mit einem dünnen Streifen biometrischer Panele über seinem Kopf, die jede Verlangsamung oder Beschleunigung seines Pulses registrierten.
Seine Gedanken waren abgeklärt. Auch die Trauer um Konstantin war wie weggefegt.
Ein Missverständnis, sagte er sich. Es lag ein Missverständnis vor, eine Lapalie, die sich aus dem Weg räumen ließe.
Was auch sonst. Es gab nichts, was er sich hatte zu Schulden kommen lassen, er, Samuel Galveston, Bibliothekar zweiten Grades und Diener des Byzantiums. Er war ein unbedeutendes Rädchen in einem unermesslich großem Getriebe, sein Name wurde, wenn überhaupt, nur geflüstert. Er hatte die Gunst des Lectorem. Er hatte sich durch hervorragende akademische Leistungen hervorgetan. Hatte seine Loyalität und seine Aufopferung gegenüber dem Byzantium in allem unterstrichen, was er getan hatte.
Also warum war Reichenbach Stunden zuvor mit einer Gruppe byzantischer Paladine im Schlepptau vor ihm auf dem Gebirgspass erschienen, hatte ihn mitgenommen und unter Quarantäne gestellt?
Bevor seine Gedanken eine düsterere Abzweigung nehmen und er sich als Opfer eines Komplotts sehen konnte, glitt die Tür auf und Reichenbach trat herein.
Die Stimmung war explosiv. Aus der latenten Abneigung zwischen beiden war handfeste Feindseligkeit geworden.
Es war nicht zwangsläufig die arrogante Ausstrahlung oder die völlige Ermangelung an Respekt, mit der Reichenbach alles und jeden um sich herum behandelte - Samuels Abneigung ging darüber hinaus. Wüsste er es nicht besser, würde er behaupten, dass die Wege der alten Welt wohlauf und quicklebendig in ihm waren. Macht und Kontrolle bedeuteten Reichenbach mehr als sie sollten. Das zeigte sich in Haltung und Gestus und einer zusätzlichen Unze an Herablassung, die seine Körpersprache prägte, vor allem jetzt, da Samuel auf dieser Seite des Tisches saß und er auf der anderen.
Er schlug eine altmodische Mappe auf.
Samuel konnte sehen, dass es sich um Zahlenreihen handelte, ausgedruckten Code, den Reichenbach in Windeseile überflog.
"Warum bin ich hier?"
Reichenbach ignorierte ihn.
"Reichenbach."
Nach zehn Minuten lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und sah Samuel direkt ins Gesicht.
"Du bist einer der intelligentesten Bibliothekare, die wir je hatten.", er zog eins der hinteren Blätter hervor. "Dein kortostratischer Wert liegt bei 87. Das ist beachtlich."
"Ich will wissen, warum ich hier bin."
"Alles zu seiner Zeit."
"Ich möchte den Lectorem sprechen."
"Du sprichst mit mir."
"Sie sind voreingenommen."
"Bin ich das?"
"Sie wissen, dass ich in ein paar Jahren genug über das Byzantium weiß, um Ihren Platz einzunehmen. Sie fürchten mich. Sie nutzen diese unruhigen Zeiten, um mich loszuwerden."
Reichenbach lachte.
"Du hast nicht das Zeug, um das zu tun, was ich tue, Samuel."
"Und was ist es, was Sie tun?"
"Verhören. Ermitteln. Feinde in unseren eigenen Reihe aufspüren."
Er drehte das oberste Blatt um.
"Dies sind schwierige Zeiten, Samuel. Wir stehen vor einem Rätsel, aber wir beginnen, es besser zu verstehen."
"Was sehe ich mir da an?"
Das Schweigen, das er auf seine Frage erntete, war eisig. Nach einer Weile kroch die Kälte dann bis in seine Knochen, als er anfing zu verstehen, was er in seinen Händen hielt.
"Das sind die Druckpunkte des Byzantiums.", er sah auf. Die Pfeiler im Quellcode, auf denen die byzantische Projektion ruhte, waren zugleich auch die Anknüpfungspunkte für die Aktuatoren, die Tore, die ins Byzantium hineinführten. Er war kein Kleriker, aber sein Wissen reichte aus, um die Unregelmäßigkeiten im Code auszumachen. Kleine Suffixe in den Statusaktualisierungen der Druckpunkte, die darauf hindeuteten, dass jemand versucht hatte, seine Spuren zu verwischen.
"Jemand hat sich in den letzten Jahren unzählige Male unauthorisiert Zugriff auf das Byzantium verschafft. Weder können wir sagen, welche Sphären penetriert wurden, noch für wie lange."
Reichenbach hielt kurz inne.
"Es geht ein Geist im Byzantium um."
Samuel blickte auf.
"Ein...Geist?"
"Ja.", er nahm Samuel das Papier aus den Händen und faltete es in säuberliche zwei Hälften. "Du."
Reichenbach beobachtete ihn genau. Zuviel Überraschung würde genauso verdächtig wirken wie zu wenig. Er hatte geahnt, dass dieses Verhöhr auf eine Anprangerung hinauslaufen würde, auf einen Angriff auf seine Integrität, seine Person. Er hatte Haltung zu bewahren und zitterte dennoch am ganzen Körper. Das war der Nachteil, wenn man keine eigene Geschichte besaß. Man war brüchig wie ein Ast im Wind und ebenso leicht zu erschüttern. Er hatte Angst im Byzantium erfahren, ohne je etwas über seine eigene gelernt zu haben.
"Ich verstehe nicht ganz."
"Es ist dir fast gelungen. Fast.", sagte Reichenbach und überflog das Blatt mit Quellcode erneut, diesmal mit der Sorte milder Bewunderung, die man für ein gutes Gedicht übrig hatte. "Aber Orestas, einem unserer besten Kleriker, waren diese kleinen Code-Schwänze an den Druckpunkten aufgefallen. Es hat gedauert, bis nachvollziehbar war, wie man es geschafft hatte, ungesehen ins Byzantium zu gehen, vor allem so häufig. Und wir wissen immer noch nicht genau, wie."
Samuel rückte auf seinem Stuhl hin und her. Die Panele gingen mit, registrierten jede Mikro-Bewegung und jede Veränderung in seinem Stoffwechsel.
"Nur dass die Suffixe deine Signatur tragen, wissen wir. Die Penetration des Byzantiums wurde mithilfe deines Aktuators durchgeführt."
"Das ist ausgeschlossen."
"Der Code lügt nicht."
"Reichenbach. Sie sagten: Unzählige Zugriffe in den letzten Jahren. Wie um Gottes Willen soll mir das gelungen sein? Woher soll ich die Zeit dafür genommen haben?"
"Das finden wir als nächstes heraus. Und dann finden wir heraus, weshalb du das getan hast."
Samuel starrte ins Leere.
"Jemand hat die Signatur meines Aktuators gefälscht."
"Du weißt so gut wie ich, dass das nicht möglich ist."
"Vor ein paar Tagen war es auch undenkbar gewesem, dass sich jemand ungesehen Zutritt ins Byzantium verschaffen könnte."
"Undenkbar, dass dies jemandem von außen gelingen würde, ja. Aber ein Bibliothekar aus unseren eigenen Reihen, der sich jahrelang mit dem Byzantium beschäftigt - wer weiß? Vielleicht hätte so jemand die Zeit und die Muse, das zu bewerkstelligen."
"Dazu fehlt mir schlichtweg das Wissen. Ich bin kein Kleriker."
"Nein. Aber du bist ein brillanter, junger Mann, Samuel, und niemand weiß, wozu du fähig bist."
Samuel wurde still.
"Dann führt einen Transfer durch."
"Das haben wir auch vor."
Die Bereitschaft, sich einem Transfer zu unterziehen, hatte nicht den erhofften, entwaffnenden Effekt auf Reichenbach. Dabei implizierte dies, dass Samuel seine Geheimnisse nichts bedeuteten. Wäre er das, für was man ihn hielt, nämlich ein Spion, wäre ein Transfer der Punkt, an dem er einknicken würde. Denn der Transfer ließ sich nicht täuschen, konsolidieren oder zensieren. Reichenbach ging jedoch nicht darauf ein. Die Situation wurde immer absurder.
"Reichenbach. Sie müssen mir glauben."
"Ich glaube dem hier.", sagte er und tippte auf die Mappe. "Ich glaube dem Byzantium, und was es mir sagt. Bald werden wir Bescheid wissen. Bis dahin bist du eine Persona non Grata, ein Feind des Byzantiums. Und bleibst in Gewahrsam."
Man hatte ihm keine Ketten angelegt, keine Krause, demütigte ihn nicht und zwang ihn auch nicht zum Gang durch die Menge. Niemand rief Schande, niemand löcherte ihn mit Blicken.
Die unverhohlene Feindseligkeit, die ihn Reichenbach hatte spüren lassen, hatte ein Zittern in seinen Beinen hinterlassen, aber als man ihn zur byzantischen Pritsche führte, waren die Blicke der Anwesenden ausdruckslos, bestenfalls ratlos.
Seine Robe wurde ihm abgenommen. Die Fäden krochen aus den Öffnungen in der Wand hinter ihm und verharrten auf halber Höhe. Er wagte es kaum, Blicke in die Richtung des Lectorem oder der angereisten Bibliothekare zu werfen, befürchtete jedoch, dass ihn seine Unterwürfigkeit schuldiger erscheinen ließ als nötig. Also hob er den Kopf und begegnete ihren Blicken.
Sie sahen kein Mitglied ihrer Sippschaft mehr in ihm, soviel war klar. Sie versteckten sich hinter einer unsichtbaren Mauer und kreisten ihn ein, sodass er sich wie ein Tier im Gehege fühlte. Mit steifen Gliedern legte er sich auf die Pritsche. Dass sich die byzantische Kamarilla von ihm entfremdet hatten, schloss er aus der Art, wie sie ihn hemmungslos an ihrer Angst teilhaben ließen. Er gehörte nicht mehr zu ihrer Spezies. Er war ein Mimikry - ein feindlicher Agent.
Ein brennendes Gefühl kroch durch seine Lungen, bis in die hintersten Kapillaren seines Körpers, ein Gefühl, das sich erst legte, als die Fäden zu seinem kahlen Kopf aufschlossen und die Wahrheit, auf die er hoffte, plötzlich zum Greifen nahe war.
Unter den Augen der Lectorem, Kleriker und Bibliothekare begann er seinen Transfer.
Dann wartete er.
Wieder im Verhörraum sitzend, diesmal vor einem Glas Wasser und einer eingelassenen Linse in der Wand, die ihn zusätzlich zur Aktivität der Panele filmte. Er wusste, dass es Stunden dauern würde, ehe sie begriffen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Also zwang er sich zu konstruktiveren Gedanken, um die Zeit zu überbrücken.
Er erging sich in Mutmaßungen darüber, wer seinen Aktuator gehackt haben könnte und vor allem wie, doch in erster Linie beschäftigte ihn Reichenbachs Erwähnung eines Geistes.
Es war eine seltsame, unpassende Formulierung, dachte er, bis er verstand, worauf Reichenbach Bezug genommen hatte.
Pagoda.
Hatte Etlam Pagoda den besagten Geist des Byzantiums gesehen? Ein Geist, der es im Anschluss geschafft hatte, sich aus dem Byzantium zu löschen? Aber was hatte das mit seinem Aktuator zu tun? Und mit den unauthorisierten Zugängen?
Er schüttelte sich. Das macht keinen Sinn. Was auch immer Etlam gesehen hatte, er hatte es in den realen Welt gesehen oder geglaubt, gesehen zu haben. Wer sollte ein Interesse daran haben, die Wahnvorstellungen eines Sterbenden zu löschen? Was könnte an diesem letzten Moment, dieser letzten Erinnerung so bedeutend gewesen sein, dass jemand das Byzantium auf derart riskante Weise infiltrieren würde?
Samuel verstand, dass er diese zwei Dinge voneinander zu trennen hatte. Man hatte das Byzantium nach der Pagoda'schen Anomalie einfach unter die Lupe genommen und war währenddessen auf die unbefugten Zugriffe gestoßen. Diese zwei Dinge hatten nichts miteinander zu tun, sagte er sich, und wenn, dann er hatte keine Idee, wie.
Dann schwang die Tür auf.
Sie packten ihn an den Haaren und zogen ihn hoch: Zwei byzantische Paladine, deren Gesichter sich hinter blutroten Helmen versteckten. Sie zerrten ihn anschließend nach draußen, wo er unter den Blicken einer entsetzten Kamarilla das erste Mal in seinem Leben echten Schmerz zu spüren bekam.
Einer der Paladine rammte ihm die Faust in den Magen.
Auf den Knien liegend hob er die Hände zum Schutze hoch und stieß ein gebrochenes Wimmern aus. Lichter tanzten hinter seinen Augen. Man zog ihn hinter sich her - Samuel fürchtete, dass man ihn zum Schaffott führen würde. Er hörte jemanden seinen Namen schreien und erkannte, dass es sich um Anastasia handelte.
Er wurde über die Plaza gezogen, während ihm ein Tross aus Schaulustigen und entsetzter Bewohner des Mausoleums folgten, und auf halbem Wege hatte er endlich genug Luft in die Lungen gezogen, um seine Frage in die Welt hinauszubrüllen.
"Was habt ihr gefunden?! Was habt ihr gefunden?!"
Die Antwort kam von den Gebirgsvögeln, ein jähes Keifen von ein paar Spitzhauben, die über der Plaza kreisten. Die Fenster des Mausoleums füllten sich mit fragenden Gesichtern. Seine Ratlosigkeit stand der ihrigen in nichts nach, er hätte genauso gut hinter dem Glas stehen und dieser ärmlichen, unglücklichen Seele dabei zusehen können, wie sie von maskierten, roten Rittern zum Pod gezogen wurde.
Nach zwei Wochen Isolation und Einsamkeit gab er es auf, nach Erklärungen zu suchen. Er witterte einen Komplott, eine Verschwörung kolossalen Ausmaßes. Jeder seiner stummen Monologe begann mit der gleichen Frage, mit der er endete: Warum ich? Weil er keine Geschichte hatte? Hatte er sich etwas zu Schulden kommen lassen oder hatten ihn Kräfte, die er nicht verstand, zum Sündenbock auserkoren, weil er ein leichtes Ziel abgab? Er, die Blaupause eines Bibliothekars, ein transparentes Gefäß von einem Menschen - die Geschichten des Byzantiums strömen in dich hinein. Oh, Konstantin. Sag mir, Konstantin - warum ich?
Nach fünfzehn Tagen, in denen er jeden Winkel seiner Kabine abgelaufen war und anfing, rote Striemen über seine Glatze zu kratzen, brach er zusammen und begann, hemmungslos zu weinen und die Panele über seinem Kopf, die mechanistischen, unablässig lesenden Sensoren und fixierenden Linsen um Gnade anzuflehen.
Doch auch in dieser Nacht wurde sein Flehen nicht erhört, und es sollte noch weitere sieben Tage dauern, bis man ihn besuchte.
Reichenbach erschien in der Mitte der vierten Woche. Es war ein geschäftlich anmutender Besuch, knapp und formal, ohne dass man ihn Wut, Abneigung, Zorn oder Verachtung spüren ließ. Er wurde auf dem Boden liegend wach, da stand Reichenbach vor dem Glas seiner Zelle und war mit einem Pad zugange. Samuel konnte nicht sagen, wie lange schon.
Er schoss auf die Beine und kam ganz nahe an das Glas heran.
"Was habt ihr gefunden, Reichenbach..."
"Guten Morgen, Samuel..."
"Sag es. Rede mit mir!"
"Hast du geschlafen? Du siehst sehr mitgenommen aus..."
Er schlug mit beiden Fäusten so fest gegen das Glas, dass es erzitterte. Auf Reichenbach einzuprügeln würde ungefähr soviel Befriedigung mit sich bringen wie auf einen unbelebten Gegenstand einzuhämmern.
Der alte Bibliothekar quittierte Samuels Wutausbruch mit einem Naserümpfen.
"Was habt ihr gefunden, Reichenbach?"
"Was glaubst du, was wir gefunden haben?"
"Nichts, was diese Behandlung rechtfertigt."
Reichenbach sagte nichts und starrte ihn nur an.
Wenn das, was er vorher verspürt hatte, Angst gewesen war, verdiente die Empfindung, die ihn nun übermannte, die Erfindung eines neuen Wortes. Es überstieg das Gefühl des Ausgestoßenseins und der Isolation, es kroch zwischen seine Schultern und gefror dort zu einer eisigen Spinne. Diese Angst, sie glich einer insektoiden Entität, die durch Leib und Seele ging - die plötzliche Befürchtung, seinen Verstand verloren zu haben.
"Reichenbach, was habt ihr in meiner Sphäre gefunden?"
"Nichts, Samuel."
Stille.
"...nichts?"
Reichenbach steckte das Pad weg. Er schien seine Gedanken zu sammeln, stemmte beide Hände gegen das Glas.
"Alles. Und nichts. Dein mondänes, ereignisloses Leben haben wir gefunden. Und dazwischen, dort, wo wir den Verrat vermutet haben, ist nichts."
Samuel konnte nicht anders, er stieß ein Jaulen aus, wie ein Tier, dem es endlich gelungen war, sich aus einer Falle zu befreien. Doch seine Euphorie trübte sich augenblicklich - warum war er dann noch hier?
"Warum bin ich dann noch hier?"
"Weil der Lectorem es so angeordnet hat."
"Weshalb? Wenn meine Sphäre euch zeigt, dass ich...dass ich nicht die Dinge getan habe, die ihr mir unterstellt habt, dann..."
"Wer auch immer es war, Samuel, er oder sie nutzen deine Signatur."
"Das ist nicht möglich."
"Wir versuchen herauszubekommen, wie es möglich sein kann. Wir sind dabei, die Sphären anderer nach dir zu durchsuchen, nach Momenten, in denen der vermeintliche Zugriff über deinen Aktuator erfolgt ist und dich dabei jemand gesehen hat. Uns interessieren jetzt deine Aktivitäten in der realen Welt, nicht in dem Byzantium. Wir untersuchen gefilmtes Material. Wir müssen absolut sicher sein, ehe wir dich wieder in die Nähe des Byzantiums lassen."
"Ihr werdet mich nicht verstoßen?"
"Es gilt die Unschuldsvermutung - ist diese bewiesen, winkt dir die vollständige Rehabilitation. Doch sei dir gewiss, Samuel. Wenn du uns verraten hast, werden wir das in Erfahrung bringen. Und dann ist dir nicht das Exil, sondern die Exekution gewiss."
Samuel erwiderte nichts.
"Ich bin unschuldig.", wimmerte er.
"Dann brauchst du nichts zu fürchten. Leg dich hin. Ruh dich aus."
In jener Nacht blieb er wach und bohrte die Nägel so fest in seine Handflächen, bis sie zu bluten begannen.
Tage vergingen nach Reichenbachs Besuch, bis er einschlafen konnte.
Er zählte die Minuten. Starrte geradewegs in die mechanistische Iris der Linse über seinem Bett und sagte sich immer wieder: Sie haben nichts gefunden.
Sie hatten nichts gefunden, sie würden nichts finden, und in ein paar Tagen würde diese Glastür aufgleiten und der Lectorem würde sich entschuldigen.
Auf diesen ungefährlichen, guten Gedanken glitt er in den Schlaf.
Und erwachte mitten in der Nacht.
Das Licht seiner Zelle war gedimmt.
Die Uhr zeigte weit nach Mitternacht an, als er sich auf seiner Pritsche drehte und spürte, dass etwas nicht stimmte.
"Hallo?"
Er blickte auf den Korridor mit seinen Magnetschienen, an dessen Decke ein goldener Lichtbalken schwach pulsierte und hörte das Tanzen der Winde in den Furchen und Mulden des Berges. Eine halbe Stunde lag er da und starrte hinaus in den Korridor, als plötzlich jemand in sein Blickfeld lief.
Samuel rührte sich nicht, denn in den ersten Augenblicken ging er fest von einer Einbildung aus. Er kniff die Augen zusammen, als würde ihn ein grelles Licht blenden.
Ich träume.
Dann öffnete er wieder die Augen. Und sah einen Mann.
Der Mann, den er sah - er besaß keine Konturen. Er war ein schwarzer Fleck, der in diese Wirklichkeit hineinzubluten schien und nur langsam Form annahm.
Er war kein Kleriker.
Kein Bibliothekar.
Kein Lectorem.
Kein Teil irgendeiner Prozession.
Der Mann trug eine graue Robe. Er zog einen Stuhl neben der Zelle hervor und setzte sich vor das Glas. Sein Gesicht verbarg sich in den Schatten.
Das nächste, was Samuel begriff, war, dass der Mann den Weg zu seiner Zelle gelaufen sein musste. Kein Pod hatte ihn hergebracht - das Geräusch hätte ihn geweckt.
Gelaufen? Das sind Meilen über Meilen...
Dann überkreuzte der Mann die Beine. Die Schatten um sein Gesicht wölbten sich - er schien zu lächeln.
Samuel richtete sich auf.
Er sollte sich fürchten. Das tat er auch. Seit sie ihn im Gebirgspass abgeholt hatten, war seine Existenz einer sinnlosen Aneinanderreihung erbärmlicher Wirrungen gleichgekommen. Diese schwarze Silhouette eines Unbekannten setzte dem Ganzen die Krone auf.
Er sagte sich erneut, dass er träumte. Er fühlte sich, als hätte man ihn in Watte gepackt und in die Sonne gesetzt - ein stechendes Kribbeln befiel jeden Winkel seines Körpers.
"Konstantin?"
Das Lächeln wurde breiter.
Der Mann hatte glattes, schwarzes Haar, das streng nach hinten gekämmt worden war sowie schwarze, lederne Handschuhe.
"Alles Gute zu deinem Geburtstag, mein lieber Samuel."
"Wer sind Sie?"
Stille.
"Heute ist nicht...mein...", die Verwirrung wuchs. Er stand auf, kam vorsichtig näher. Doch das Licht schien vom Gesicht des Fremden zu gleiten wie Wasser von einer zu glatten Oberfläche - es blieb in den Schatten.
"Wer sind Sie?"
Keine Antwort. Dies war kein Traum. Es war auch keine Wirklichkeit. Es war das gescholtene Land dazwischen, ein semi-realer Äther, eine Vibrationsstufe höher als das Byzantium angesiedelt. Die Art, wie das Licht fiel, schien nicht echt. Die Luft hatte sich in ein grobkörniges, zähes Watt verwandelt. Die Luft in seinen Lungen schien nicht echt, seine Organe, sein Gehirn, seine Augen - alles wurde von einem illusorischen Bann belegt, dessen Strippenzieher mit überkreuzten Beinen im Mantel der Dunkelheit saß und seine Handschuhe festzog.
"In Ordnung. Lassen wir das. Joseph Minerva. Drittes Quartal, Signatur: 0-0-3-3-5.BGH. Oberste Schublade des Nachtschranks. Die Briefe."
Samuel rührte sich nicht. Der Mann schnippte mit den Fingern, als hätte er es mit einem unachtsamen Kind zu tun.
"Samuel. Joseph Minerva. Drittes Quartal, Signatur: 0-0-3-3-5.BGH. Oberste Schublade des Nachtschranks. Ich will die Koordinaten und den Inhalt der Briefe."
"Ich...", seine Hand fuhr willkürlich an die Stirn, wo früher der Aktuator gesessen hatte. "Ich..."
"Den brauchst du dafür nicht. Samuel: Joseph Minerva."
Der Mann wiederholte den Namen, immer und immer wieder.
Und Samuel sank auf die Knie.
Als er am nächsten Morgen erwachte, standen alle Lectorem, alle älteren Bibliothekare und alle bedeutenden Kleriker an seiner Zelle.
Ihre Blicke waren stumm und anklagend. Er war immer noch das Tier im Gehege - keine Rehabilitation, keine Rückkehr. Sie sahen durch ihn hindurch, glaubte er. War er real? Waren sie es?
Er hörte das Klicken einer fernen Uhr.
Das Brummen einer gigantischen Maschine, die er nicht sehen konnte.
Er litt.
Ächzte. Drehte und wand sich in der Dunkelheit.
Der Lectorem klopfte an das Glas.
"Samuel."
Dann war er wieder auf den Beinen, halb im Schlaf versunken - und hatte das Gefühl, durch die Zeit zu fallen. Ein weiteres Mal wurde er an die byzantische Pritsche geführt. Seine Beine knickten immer wieder weg. Auf zerebraler Ebene formte sich ein Bild von den Ereignissen, das sein Verstand nicht verarbeiten konnte.
Auf beiden Seiten hielten sie ihn fest.
Immer wieder knickten seine Beine weg.
Immer wieder stieß er auf. Magensäure kroch seine Speiseröhre hinauf und verätzte seinen Gaumen.
Sein Kopf war leer. Sein Name, seine Essenz: Alles hing an einem seidenen Faden.
Faden.
Hunderte aus Silber schlossen an seinen Kopf. Begannen, zu pulsieren.
"Ich verstehe es nicht."
Die Membran, auf der man die Sequenzen abspielte, schwebte in der Mitte des Raumes und offenbarte ein scharf gestochenes Bild.
Es handelte sich um Dokumentationen byzantischer Sphären, Zusammenschnitte von Aufnahmen aus dem Inneren des Mausoleums - biographische Sphären von Bibliothekaren, Gästen, von Klerikern und von Anastasia, selbst vom Lectorem.
Auf allen war er zu sehen.
Samuel saß auf einer Bank. Männer standen hinter der Membran und sahen ihm zu, wie er sich selbst zusah.
"Was passiert mit mir?"
Orestas, der Kleriker, hielt das Bild an. Der schlaksige Mann mit den asiatischen, zeitlosen Gesichtszügen rief eine grün leuchtende Tabelle neben der Membran auf, die ein paar Zeilen kyrillischen Codes offenbarten.
"Hier. Der Zeitpunkt des Zugriffes. Beobachten Sie sich, Galveston."
Sie hatten ihm starke Betäubungsmittel verabreicht. Es strengte ihn an, wenn er sich zu lange auf einen Punkt konzentrierte. Im Sitzen kippte er zur Seite - ein paar Kleriker richteten ihn wieder auf, wischten ihm den Speichel vom Kinn. Der Mann auf der Leinwand war schmächtig, besaß fahrige Gestern und einen schnellen Schritt - was für ein sonderbarer junger Mann ich doch bin Auf wirren Gedanken drohte er immer wieder abzudriften. Dann korrespendierte der Zeitpunkt des Zugriffes mit seinem Tun, und der Mann auf der Leinwand blieb stehen. Samuel horchte auf.
Manchmal fixierte er das andere Ende des Flurs.
Manchmal blieb er an einem Fenster stehen und schien etwas draußen zu bemerken.
Andere Male starrte er einfach in die Leere, im Sitzen oder im Stehen. Diese Episoden hielten selten länger an als ein paar Sekunden, aber sie waren so gespenstisch, dass sich Samuel auf seine zittrigen Beine kam und stöhnend auf die Membran zulief.
Die Kleriker hielten zurück.
Weshalb man ihn erneut an die Pritsche gebracht hatte, begriff er beim letzten Bild.
Es zeigte die gestrige Nacht. Er war wach gewesen, glaubte er. Hatte geschlafwandelt. Es war eine sonderbare Nacht gewesen, an die er sich kaum erinnerte.
Die Aufzeichnung des Transfers offenbarte den starren Ausblick in einen leeren Korridor, stundenlang.
Die Aufzeichnung innerhalb der Zelle offenbarte ihn, wie er sich aufrichtete und wieder ins Nichts starrte - zum Zeitpunkt dieser mysteriösen Zugriffe auf das Byzantium, gestern Abend.
Ehe er sich wieder schlafen legte.
Samuel konnte sich an nichts davon erinnern.
"Ich verstehe es nicht."
Er erwachte in seiner Zelle, erneut.
Der Mann in Grau saß diesmal an seinem Bett.
Samuel konnte sich nicht rühren.
"Es tut mir leid, aber es muss sein. Johann Melvic. Quartal 1.7.0-0-0-3-2-2-RC. Was hat sein Vater zu ihm gesagt, wo er am 11. November war?"
Sein eigener Name entglitt Samuel. Der Mann in Grau ohrfeigte ihn leicht.
"Samuel. Johann Melvic. Quartal 1.7- Was hat sein Vater zu ihm gesagt?" "Ich weiß es nicht...", brachte er schließlich halb erstickt hervor. "Ich weiß es nicht."
Der Mann in Grau hatte plötzlich Mitleid mit ihm, glaubte er. Noch immer war das Gesicht eine graue, verwaschene Maske, aber in der Art, wie er sich dem gescholtenen Samuel zuwandte, offenbarte sich so etwas wie Mitgefühl.
Eine kalte Hand berührte seine Wange.
"Das passiert manchmal. Es tut mir leid. Das geht bald wieder vorbei."
"Ich bekomme keine Luft."
"Samuel. Du kannst frei atmen. Es wird sich alles normalisieren. Sieh mich an."
Er sah hin. Nichts als Grau, eine poröse Maske in flimmerndem Schneegestöber.
"Siehst du mich?"
"Ja."
"Nein. Tust du nicht, Samuel.", er fuhr ihm durch die Haare. "Das tust du nicht. Es tut mir leid, dass das manchmal passiert. Es tut uns leid."
Erneut eine zärtliche Geste, dann fiel Samuel in einen tiefen Schlaf, von dem er hoffte, dass er für immer anhalten würde.
Johann Melvic...Johann Melvic...Johann Melvic....
Ich verliere den Verstand.
Zwei Wochen später wurde Samuel aus seiner Haft entlassen.
Die letzten zwei Monate hatten sich wie ein schrecklicher Traum angefühlt, aus dem er endlich aufgewacht war. Er lief durch einen sonnendurchtränkten Flur und zählte aufmerksam die Schritte, die er brauchte, um ins Foyer zu gelangen. Er fühlte sich wieder wie sein altes, neurotisches Ich, doch er blieb auf der Hut.
Irgendwo in seinen Gedanken versteckte sich ein trojanisches Pferd, davon war er fest überzeugt. Irgendwann würde die Nacht anbrechen, Schatten würden sich herauswagen und wieder Feuer in seinen Gedanken legen - auch davon war er überzeugt.
Samuel hatte sich exzessiven neokortischen Duschen unterzogen, zahlreiche Stunden in den Sensorik-Tanks zugebracht und seine entzündeten Handflächen behandeln lassen. Er war den Fragen der medizinischen Abteilung nach den Wunden ausgewichen - wie sollte er ihnen zu verstehen geben, dass ein kleiner Tick selbstverletzende Züge angenommen hatte?
In diesen Stunden berieten sich die Lectorem und Bibliothekare darüber, wie weiter mit ihm zu verfahren sei. Sie hatten seine Wahrheit im Byzantium seziert und waren nun umfassend im Bilde über ihn. Als er hereingerufen wurde, waren Reichenbach und zwei andere Bibliothekare zugegen. Der Rest hatte den Raum verlassen. Reichenbach deutete auf den Tisch vor ihm. Seine Robe und sein Aktuator lagen dort. Überrascht blieb Samuel stehen.
"Weshalb?", fragte er.
"Der Lectorem hat es so angeordnet. Du bist zu wertvoll. Zu fähig. Deine Verbannung wäre ein großer Verlust für das Mausoleum und das Byzantium als solches."
"Was ist...mit den Zugriffen? Ich will verstehen, was mit mir passiert ist."
"Du wirst unter ständiger Beobachtung bleiben, Samuel, aber Tatsache ist...es entsteht kein Schaden durch sie. Wir werden eine Weile brauchen, bis wir sie im Kern verstehen werden, verstehen werden, wer sie durchführt. Aber bis es soweit ist, wirst du deine Tätigkeit als Bibliothekar, unter Auflagen, weiter fortsetzen dürfen."
Samuel schwieg. Er hielt es für töricht, ihn wieder in die Nähe des Byzantiums zu lassen, war aber zu dankbar, um sich kritisch zu äußern. Er ging an den Tisch, warf die Robe über und aktivierte den Aktuator, nur um sein warmes Pulsieren in der Hand zu spüren.
Dann atmete er durch.
"Mein aufgezeichentes Verhalten...es erinnert mich an Etlam Pagodas letzte Augenblicke."
Reichenbach sah von seinem Pad auf.
"Wie meinen?"
Langsam strich er wieder über seine Robe.
"Wie auch er scheine ich etwas zu sehen, das nicht wirklich da ist. All diese Augenblicke, die sie mir gezeigt haben. Ich kann mich nicht an sie erinnern."
"Die 'Pagoda'schen Anomalie' ist erklärt worden, Samuel."
Samuel horchte auf. Er versuchte nicht mal mehr, seine Verachtung gegenüber Reichenbach zu verbergen, aber der Bibliothekar hatte Antworten auf Fragen, die ihm zu wichtig waren.
"Etlam Pagoda erlitt einen Schlaganfall, der sein Sprachzentrum irrtümlicherweise stimulierte. Deshalb hinterließ seine 'Sichtung' keine Spur im Byzantium."
Samuel lachte laut auf. Sämtliche Kleriker und Bibliothekar im Raum bedachten ihn mit einem düsteren Blick.
"Danke für Ihre Nachsicht, Reichenbach.", sagte er trocken und verabschiedete sich.
Seine Rehabilitation ging so schnell von statten, dass er sich hinsetzen musste und eine Weile aus dem Fenster starrte. Dieser Flügel des Mausoleums war dem Westkamm des Berges zugewandt. Anstatt ins Freie blickte er also auf eine Wand aus Granit mit weißen Schlieren, Weidengewächsen und Farnen, die aus den Spalten wuchsen. Ihm hing die unbeschreibliche Atmosphäre eines Traumes nach, das Echo von Namen, die ihm kein Begriff waren.
Doch sein Körper und sein Herz schienen seinem Verstand wieder einen Schritt voraus zu sein und dieses Vergessen nicht akzeptieren zu wollen.
Doch er war in erster Linie Bibliothekar. Er schuldete sich selbst keine Wahrheit - diese hatte er dem Byzantium überschrieben. Er nahm seine Tätigkeit wieder auf und blickte nie wieder zurück.
Die nächsten Jahrzehnte verliefen genau so, wie er es gewollt hatte.
Wie er es in die Wege geleitet hatte. Als zwölfjähriger Junge unter dem Heuverdeck einer Scheune hatte er die Idee, Bibliothekar werden zu wollen, und vielleicht war es der Klarheit dieses Momentes geschuldet, dass er niemals vom Weg abgekommen war. Eine Idee, wie ein Korsett oder eine Rüstung, die zu groß für ihn gewesen und in die er langsam, nach und nach hineingewachsen war, unter größten Anstrengungen und Entbehrungen. Und selbst als er begann, sie auszufüllen, hörte er nicht auf, zu wachsen, die Grenzen seiner jungenhaften Vorstellungen zu testen und über sie hinauszugehen. Er ging auf die vierzig zu, als Anastasia eine Fehlgeburt erlitt und sich ihre Wege endgültig trennten - eine Tragödie, von der er sich erholte, indem er seine Ambitionen ins Unermessliche steigerte.
Er nahm Reichenbachs Platz sofort nach seinem Tod ein. Er war einer der drei Männer, welche die Totenwache des ersten Lectorem hielten und bei seiner Bestattung Wort ergriffen hatten. Mit dem Verlust dieser zentralen Figur des Byzantiums klaffte nun eine offene Wunde im Gefüge der byzantischen Kamarilla und Samuel war der Mann gewesen, von dem man erwartete, dass er Antworten auf die Fragen der Zukunft finden würde. Er enttäuschte manche dieser Erwartungen - er war weit über fünfzig, als ihm der Rat der Kleriker anbot, ihn anzuleiten, damit er der Aufgabe des Lectorem gerecht werden könnte. Er hatte dankend abgelehnt. Er war wieder der Junge in der Scheune, sah das Gras unter sich und die Lichtflecken auf dem Schubkarren und den Regenbogenrand entlang der Schlammpfützen und begriff als alter Mann, dass er seine persönliche Wahrheit in Wirklichkeit diesem Moment, und nicht dem Byzantium überschrieben hatte.
Jahre später kam dann das Fest.
Es war eine unausgesprochene Tatsache, dass es auch ihm gegolten hatte, aber es markierte zusätzlich den Meilenstein von weltweit 500 Millionen Transfers. Samuel kannte mindestens die Hälfte dieser Sphären. Der Bedarf an Bibliothekaren wuchs und er selbst nahm fünf vielversprechende junge Frauen und Männer unter seine Fittiche. Meral, ein junges, dunkelhäutiges Mädchen hatte besonderen Eindruck hinterlassen - Samuel glaubte, dass sie das Potential hatte zu einer der bedeutendsten Bibliothekarinnen aller Zeiten zu werden.
Zusammen mit ihr war er dabei gewesen, den Kreissaal um die byzantische Pritsche herum einzurichten. Eine banale Tätigkeit, die Samuel bewusst für sie beide ausgesucht hatte. Sie stellten das Banquet zusammen. Überprüften die Lichtinstallationen und brüteten über die Sitzordnung. Genug Zeit also, um sich eingehend mit seiner Novizin zu beschäftigen. Dabei offenbarte sie einen Wissensfundus, der für ein Mädchen ihres Alters nahezu unerhört war. Außerdem brachte sie ihn zum Lachen, ihre spitzfindige, neugierige Art und wie sie die Eigenheiten und Manieren anderer Bibliothekare kommentierte.
Man bereitete sich für die Ankunft sämtlicher Bibliothekare und Lectorem weltweit vor - zweitausend Gäste, die im Mausoleum zusammenkommen würden. Es gab viel zu bereden - der Aufbruch zu den Sternen stand bevor. Der Triumph über die alte Welt brachte auch die Frage mit sich, wie mit ihrer nun konservierten Geschichte zu verfahren sei. Man war sich einig, dass das Byzantium eins der wichtigsten Güter der Menschheit darstellte, aber uneinig, ob es einen Platz zwischen den Sternen hatte - oder auf der Erde gehörte, dort, wo, es geboren worden war.
Neue Byzantien würden folgen. Bessere. Genauere.
Es lag soviel Aufbruch, Euphorie und Festlichkeit in der Luft, dass sich Samuel immer wieder entfernen musste, um dem stetigen Gesprächsstrom zu entgehen. Warmes, beiges Licht füllte die Kreissääle, goldene und silberne Roben saugten sich mit dem Licht voll, das von den Wänden kam. Samuel sah nirgendwo einen Aktuator und das erfreute ihn - dieser Moment gehörte dem Hier und Jetzt. Mehrmals kam er mit Meral zusammen, die ihm ab einem gewissen Pegel ihn sehr blumigen Worten wissen ließ, wieviel Bewunderung sie für ihn hegte, was einer der Kleriker mitbekam und sogleich miteinstimmen ließ. Bald war der halbe Kreissaal damit beschäftigt, Samuel mit Dankbarkeit und Anerkernnung zu überschütten. Selbst Anastasia war zugegen und fiel ihm um den Hals - seine Beiträge zur Kartografierung des byzantischen Panoramas waren die umfassendsten und bedeutendsten seiner Geschichte.
Irgendwann dann, nach der Vermählung einer jungen Bibliothekarin mit einem Kleriker unter freiem Sternenhimmel vor dem Mausoleum, fiel Samuel Konstantin ein.
Applaus für das junge Paar brandete auf. Doch sein Herz wurde schwer.
Während der Rest hineinging, blieb er als einziger draußen. Er stand auf der Plaza und dachte an seinen Mentor, dass dieser an einer Frage zugrunde gegangen war, die den Rest des Byzantiums am Ende des Tages kalt gelassen hatte. Die Pagoda'sche Anomalie. Er erinnerte sich an die lächerliche, offizielle Erklärung des Rates und wie geflissentlich er selbst die Erinnerung an Etlam und die schrecklichen Monate danach verdrängt hatte.
Er dachte an die unautorisierten Zugriffe. Sie wurden immer besser versteckt und entwickelten alsbald den Charakter eines urbanen Mythos - ein Geist geht im Byzantium um, ein Geist geht im Byzantium um. Man hielt sich nicht mehr damit auf. Die Sterne warteten. Die Zukunft.
Etlam Pagoda, Konstantin und die mysteriösen Zugriffe verkamen zu einer unbedeutenden Fußnote.
Er stand da und blickte in den klaren Nachthimmel, als er die silberne Bergkatze bemerkte. Sie stand am Rande des Platzes, legte den Kopf schief und musterte ihn. Er glaubte nicht, dass es das gleiche Tier war, dass er und sein Mentor vor Jahrzehnten gesehen hatten, auch wenn ihm der charakteristische Verlauf des Rückenkamms seltsam bekannt vorkam.
Das Tier setzte sich in Bewegung und Samuel beschloss zu folgen.
Der östliche Gebirgspfad schlängelte sich um das Gehege der tundraartigen Landschaft. Während Samuel dem Tier nachging, fielen die Temperaturen spürbar und er musste die Krause seiner Robe schließen. Immer wieder blieb das Tier stehen, als wolle es sich vergewissern, dass er hinterherkam. Die Szenerie war einer Episode aus seinen vielen Reisen reminiszent - ein junger Mann auf weiter Fläche, der einem Hirten nachstellte, von dem er glaubte, dass er seine Frau ermordet hatte. Eine fürchterliche Episode, deren Kartografierung Wochen gedauert hatte.
Regen peitschte ihm ins Gesicht. Das Gelächter und die Musik des Mausoleums verschwanden zunehmend hinter ihm. Er war ein alter Mann, dessen realer Körper nie mit heftigen Witterungsverhältnissen in Berührung gekommen war. Er versuchte sich gerade die Frage zu beantworten, weshalb er dem Tier nachstellte, als es plötzlich stehen blieb.
Samuel tat es ihm gleich.
Um ihn herum: Weite Berglandschaft, Frostboden und festgetretene Erde. Felszipfel und Nelkengewächse säumten die Ebene, unweit des Tieres ragten zwei verkrüppelte Nadelbäume in die Höhe, die aneinander lehnten. Der Blick des Tieres ging durch ihn hindurch - zwei Diamanten in der Nacht, die ihn in ihren Bann zogen. Es war ein Moment völliger Stille. Samuel glaubte, in der Ferne hören zu können, wie Glas splitterte.
Dann explodierte das Mausoleum.
Eine Wunde öffnete sich in der Nacht und blutete Feuer.
Die Nacht wurde zum Tag, als die Kuppel des Mausoleums aufplatzte und einer flammenden Knospe wich, die Blüten trug, den Himmel und die Sterne verdeckte und anschließend in sich zusammenfiel. Die byzantischen Gestirne wurden aus ihrer Umlaufbahn geworfen, fingen Feuer und rollten als ordovizianische Trabanten vom Berg. Samuel hörte den ohrenbetäubenden Krach, als sie ins Gestein krachten und Teile des Bergpanoramas zum Einsturz brachten. Weitere Explosionen folgten, zerfetzten die Karpellen und Säulen des Mausoleums, das nun ächzend in sich zusammenfiel und sich wie ein sterbender Riese ins Flammenmeer legte. Samuel hatte einen freien Blick auf das Inferno. Was er sah, füllte sein Herz mit einem lähmenden Entsetzen. Erst als die Hitze so stark war, dass er sich abwenden musste, fiel er auf die Knie und begann zu schreien.
Teile des Gebäudes, die von der Explosion in die Luft geschleudert worden waren, hagelten nun vom Himmel - brennende Trümmer, die Kerben in die Bergwand schlugen, neben Samuel in die Erde krachten und in den Sekundenbruchteilen ihres Fluges eine ominöse Schönheit ausstrahlten.
Die Nacht wurde zum Tag, und verdunkelte sich wieder.
Das Mausoleum hatte sich in eine einzige brutzelnde Feuerstelle verwandelt. Brennende Figuren fielen auf den Platz, die Arme zum Himmel gereckt, während das zerkochte Fleisch langsam von den Knochen blätterte. Die verwunderten Blicke der Berglöwen - und katzen sammelten sich in den Spalten und Gräbern. Ein einsames Heulen füllte die Luft. Zitternd und auf den Knien versuchte Samuel, das Tier zu identifizieren, ehe er merkte, dass er es selbst war.
Dann bemerkte er die Schemen neben sich. Die grauen Stiefel, die graue Robe.
"Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum du der Katze gefolgt bist, Samuel. Eigentlich solltest du eine Rede halten. Anastasia wollte mit dir sprechen, ein Gesprächsangebot, auf das du zwanzig Jahre gewartet hast. Trotzdem bist du der Katze nach."
Der Mann in Grau ging neben ihm in die Hocke. Samuel zwang sich hinzusehen und blickte in ein mondänes, trauriges Gesicht, irgendwie schablonenhaft, mit wachen, hellgrünen Augen und einem dichtem Bart.
"Er hat dich an Konstantin erinnert, nicht wahr?", ein Lächeln. "Ja, das wird es sein.", dann schwiegen sie, während Samuel langsam wieder in die Umklammerung eines schrecklichen Alptraums glitt. Es war, als ob Nägel aus seinem Hirn wuchsen und von innen die Schädeldecke durchbohrten. Die Wirklichkeit verwandelte sich in ein zweidimensionales Pappmaché, alles entglitt ihm, Körper, Name, Zeit.
"Tatsache ist, dass es der Verdienst dieser Katze ist, dass wir jetzt hier sein können. Dass ich...jetzt hier sein kann."
Atme...atme...
Eine Weile teilten sie den Blick auf das Inferno. Der Fremde setzte sich schließlich auf den Boden und blickte in den Flammenherd, als handle es sich um ein normales Lagerfeuer. Dann erschien die Bergkatze neben ihnen und starrte ebenfalls ins Feuer. Der Fremde bedachte es mit einem kurzen Blick und schüttelte den lächelnd den Kopf.
"Dieser Tier hat die Geschichte der Menschheit gerettet."
Sein Blick kehrte zum Feuer zurück.
"So oft ich auch hier bin...es erscheint mir immer noch unbegreiflich, das alles. Dabei ist es das nicht, ganz und gar nicht. Es ist einfach zu verstehen, wie schwierig es ist, die alte Welt hinter sich zu lassen. Ein paar Fundamentalisten, deren Hass die Lectorem unterschätzten, waren alles, was es gebraucht hat. Nach dem Mausoleum folgte das Byzantium. Es wurde gelöscht, jede einzelne Sphäre. Soviele Geschichten...", er machte eine Geste, als würde er Staub von seiner Hand blasen. "...weg. Unwiderbringlich." Dann hob der Mann den Kopf und blickte auf zu den Sternen, die sich nun langsam wieder zeigten. Samuel beobachtete ihn aufmerksam. Wie er sich den Regen aus den Augen blinzelte, sein Haar hinters Ohr strich.
"Nicht dass es eine Rolle spielt, aber du sollst wissen, dass sie gebüßt haben. Jeder einzelne von ihnen. Die Zerstörung des Mausoleums blieb nicht unbestraft."
Samuel reagierte nicht. Die Feuerbrunst gab ein Geräusch von sich, welches an das Raunen einer Bestie erinnerte.
"Ich habe dich schon so oft besucht, im Hier und Jetzt, um dir Trost zu spenden, keine Ahnung, warum. Vielleicht, um mir selbst Trost zu spenden. Und du? Jedes Mal starrst du mich einfach nur an. Du siehst geradewegs durch mich hindurch, Samuel. Als würdest du begreifen."
"Ich begreife nichts..."
"Doch, tust du."
"Etlam..."
"Ich habe lediglich Konstantin bei der Arbeit zusehen wollen - er interessierte mich. Warum Etlam mich gesehen hat - wir verstehen es nicht ganz. Wahrscheinlich ist es ein Testament unseres Fortschrittes.", er atmete erschöpft aus. "Ich sehe dich an, wie du mich ansiehst, und begreife, dass du mich erkennst. Es ist unglaublich."
"Ich kenne dich nicht."
"Natürlich nicht. Wir sind uns nie begegnet.", flüsterte er. "Aber es wäre mir eine Ehre gewesen, dich kennenzulernen."
Plötzlich lachte der Fremde kurz auf und klopfte Samuel kurz auf die Brust.
"Augenblick - das stimmt nicht! Ich habe dich gesehen. Ein einziges Mal, kurz: In dem Zimmer, kurz vor dem Transfer."
"Du bist...ein Bibliothekar..."
"Wahrscheinlich verdiene ich diese Bezeichnung, ja."
"Oh Gott..."
"Weine nicht. Die nächsten Jahre werden kummervoll. Das waren sie immer, werden sie immer sein. Das ist der eigentliche Fluch des Byzantiums. Die Geschichte lässt sich nun mal nicht zurücknehmen. Was passiert ist, ist in Stein gemeißelt. Dein erster Transfer. Und dein letzter Transfer. Dein wichtigster, der dir noch bevorsteht."
Samuel kam auf die Beine, stolperte näher ans Feuer und raufte sich die Haare. Er lief die Klippe ab, immer wieder, haderte mit dem Impuls, sich in seinen Tod zu stürzen. Jetzt begann das Stammeln, das Aushandeln mit einer höheren Kraft angesichts der Unfähigkeit, das Unvorstellbare hinzunehmen.
"Sie sind alle tot, Samuel. An diesem Tag im Oktober verlor die Welt das Byzantium und alle Lectorem und Bibliothekare der Welt. Alle, bis auf einen."
Der Mann in Grau stellte sich neben ihn.
"Hast du eine Ahnung, wie wichtig du bist?"
"Bitte nicht, bitte bitte bitte...."
Er spürte, dass der Mann in Grau ihm Trost spenden wollte, doch jedes Wort machte es nur schlimmer. Er befand sich auf einer Abwärtsspirale, ohne Ende in Sicht und begann zu hyperventilieren.
"Diese Zugriffe verlaufen manchmal holprig, aber das werden wir schon bald beheben. Es tut mir leid, ich kann mich nur wiederholen."
Er ergriff Samuels Schulter.
"Die nächsten vierzehn Monate wirst du wie im Trance verbringen. Du wirst mitansehen, wie die Welt zusammenkommt, um den geraubten Schatz ihrer Geschichte zu rächen. Die Attentäter, amerikanische Fundamentalisten, werden aufgespürt. Du wirst mit großer Freude dem Tribunal beiwohnen. Du wirst eine Rede vor dem Gremium halten, die die Welt bewegen wird. Und in zweieinhalb Jahren, ungefähr, wirst du in einem Hotel bei Beijing eine Idee haben, die alles verändert. Du wirst einem Mann begegnen, Erik Goldmann, dessen Team mit dem Wiederaufbau des Byzantiums beschäftigt ist. Du wirst ihn auf eine große Idee bringen."
"Oh Gott..."
"Dass mit der richtigen Technologie, einem verbesserten Transfer und einem Bibliothekar mit deinem Wissen eine einzige Sphäre so gut ist wie Millionen. Dann wird ein Rennen gegen die Zeit beginnen - die Technologie, ein besseres, hochgradiger integriertes Byzantium vor deinem Ableben anzufertigen.
Ein Lächeln im Feuerschein - triumphal, mitfühlend.
"Ein Rennen, das wir gewinnen werden."
Samuel fiel auf die Knie. Der Mann in Grau ließ ihn gewähren.
"Willkommen in deinem Byzantium."
"Bist du bereit, Samuel?"
Er nickte. Zu mehr fühlte er sich nicht fähig.
Sie fuhren ihm mit der Pritsche in einen Kreissaal, den er aus seiner Erinnerung wiederzuerkennen glaubte - dieser war nur kleiner und vollgepackt mit Männern und Frauen in weißen Kitteln. Er sah einen einzigen Speer aus Licht herunterkommen, aus einer Öffnung in der Mitte der Kuppel über ihnen. Seine Spitze bohrte sich in die Kopflehne einer weißen Pritsche. Der Moment hatte etwas Zeremonielles. Alle Gedanken im Raum trieben ihm zu, alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
Er sah auf seine Hände und ihre mit Leberflecken übersäten, knochendürren Finger. Sie öffneten sich vor seinem Gesicht, er schob sie ins Licht und atmete tief ein. Obwohl der Raum mit Menschen gefüllt war, war er frei von Gerüchen und so still, dass man hören konnte, wie der Wind über die Kuppel brandete.
Er horchte seinem Herzen. Den letzten Schlägen seines Lebens.
Dann wurde er auf die Pritsche gehoben. Sein Blick wanderte vorbei an der Menge. Er sah mehr Menschen über sich hinter Glas und auf höheren Stockwerken, Hunderte, die sich zum Teil in den Armen lagen, die mit Tränen kämpften.
"Ich habe gebetet, dass dieser Moment kommt.", hörte er sich flüstern.
"Wir haben uns beeilt, Samuel. Alles ist gut. Wir haben es geschafft.", sagte Erik Goldmann und berührte die alten, eingefallenen Wangen.
"Nichts ist verloren. Nichts ist vergessen."
"Meine Geschichte..."
"...ist die Geschichte des Byzantiums, Samuel. Durch dich wird es wiedergeboren."
Samuel hielt inne und wählte seine letzten Worte mit Bedacht.
"Tragt es zu den Sternen."
Erik Goldmann nickte.
"Du hast mein Wort."
Eine letzte Erinnerung.
"Ruhe jetzt, Samuel."