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Der Lemming: Die Apokalypse der Seele
"Du wirst es also tun."
"Das ist mein Job."
"Ich bin mächtig... Ich... Ich habe Geld. Viel Geld."
"Dann hoffe ich für dich, dass du es genossen hast."
"Hey, warte... wie viel verlangst du? Ich kann... Ich kann dir alles bieten."
"Nein, nicht alles."
Ich sah die Angst in seinen Augen. Diese unerträgliche Angst vor dem Ende. Angst vor der Gewissheit, dass sein ganzes Leben letztlich nur einen Wimpernschlag im Angesicht der Zeit bedeutet hat. In diesem Moment, als ich den Lauf meiner Waffe auf diesen imaginären Punkt zwischen seinen Augen richtete, wusste er, dass es am Ende keine Rolle spielen würde, wie reich oder mächtig er geworden war. Am Ende sind wir alle gleich. Nackt und schutzlos den Launen unseres Glaubens ausgeliefert. Himmel oder Hölle, Wiedergeburt oder Nichts, was auch immer.
Vielleicht beneidete ich ihn in diesem Moment darum. Die Kugel verließ den Lauf, bahnte sich ihren gradlinigen Weg durch den Kopf meines Klienten und versetzte ihn in genau den Zustand, den ich selbst niemals erreichen kann.
Man nennt mich den Lemming.
Ich habe mich noch nie in einen Abgrund gestürzt - aber wenn ich es recht überlege, war das auch die einzige Methode, die ich noch nicht ausprobiert habe. Ich habe mich vor fahrende Züge geworfen, mehrmals versucht, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen, habe mich mit allen Giften vollgepumpt, die man in schäbigen Hinterhöfen für einen Sack voll Geld und die eigene Seele bekommen kann. Nichts von alledem hat funktioniert. Einmal habe ich mich in eine Badewanne voller Benzin gelegt. Und hätte mein Feuerzeug damals funktioniert, dann wäre vieles in meinem Leben vermutlich anders verlaufen.
Ich habe keine Ahnung, wie viele Jahre ich nun schon versuche, meinem Leben ein Ende zu setzen. Irgendwann hört man auf, die Sonnenaufgänge zu zählen.
...
"Hast du diese kleine Sache erledigt, um die ich dich gebeten habe?"
Wortlos warf ich die kleine Tüte auf den Tisch zwischen uns. Mein Auftraggeber, ein fetter Kerl in Nadelstreifen, zog an seiner Zigarre und wuchtete seinen massigen Körper nicht ohne Anstrengung aus dem Sessel. Er warf einen Blick in die Tüte und an seinem angewiderten Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass alles in Ordnung war.
"Er wird nie wieder reden", sagte er und lachte. Ich lachte nicht. Natürlich hätte ich fragen können, warum eine Zunge als Beweis für einen toten Klienten nötig war, aber das war nicht meine Aufgabe. Es ging mich einfach nichts an. Und es interessierte mich auch nicht.
"Meine Bezahlung..."
"Fredo wird dir den Umschlag geben, wenn du gehst." Das war alles, was ich wissen wollte. Ich deutete ein leichtes Nicken zum Abschied an und stand auf. "Aber wer wird denn so ungemütlich sein? Bleib doch noch ein wenig. Wir sollten diese Sache feiern." Der Dicke lachte und schenkte zwei Gläser mit irgendeiner Flüssigkeit ein, die man vermutlich auch als Brandbeschleuniger für Benzin hätte benutzen können.
"Ich trinke nicht", sagte ich und drehte mich um. Meine Art, mich zu verabschieden. Meine Auftraggeber wissen, dass ich niemals zurückblicke. Ich nahm den Umschlag von Fredo entgegen und verließ das Restaurant. Unnötig zu erwähnen, dass ich es nicht noch einmal betreten würde.
"Sieh an, der unsterbliche Lemming. Endlich habe ich das Vergnügen." Der Kerl stand einfach so da, angelehnt an eine Straßenlaterne. Weißer Anzug, den Hut tief ins Gesicht gezogen, eine dünne Zigarette im Mundwinkel.
"Ich glaube nicht, dass ich Sie lange genug kenne, um darauf zu antworten", sagte ich.
"Nein, du kennst mich nicht. Aber ich kenne dich, Lemming. Ich habe dich beobachtet. Und ich habe mitgezählt."
"Gezählt?"
"Die Steine, mit denen du deinen Weg in mein Reich gepflastert hast."
"Mit so was hab ich mich nie aufgehalten."
"Ich weiß. Ich habe gezählt, wie viele Leben auf dein Konto gehen. Das waren eine Menge, wenn du mich fragst."
Natürlich wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, ihn zu fragen. "Man tut, was man kann", sagte ich stattdessen.
"Ja, das tust du. Du bist immerhin Profi. Wir beide sind Profis."
"Schön." Vielleicht hätte die Etikette es erfordert, dass ich ihn nach seinem Namen frage. Oder nach seinem Job oder überhaupt nach irgendetwas. Aber ich tat es nicht. Wenn du einem Mann die Zunge eines anderen Mannes unter die Nase gehalten hast und einfach nur noch nach Hause möchtest, dann legst du keinen Wert mehr auf Etikette. Ich ließ den Fremden also einfach stehen und ging weiter. Ohne mich umzudrehen.
"Wie gesagt, ich bin Profi." Er lehnte lässig an einem Baum und nickte mir verschwörerisch zu. Keine Ahnung, wie er mich überholen konnte, aber er war da. Das beeindruckte mich nicht im Geringsten. Ich habe in meinem Leben Dinge gesehen, gegen die das hier nicht viel mehr war, als ein billiger Taschenspielertrick aus der untersten Schublade der Zauberkiste.
"Als schön... wer bist du?" Vielleicht war er einer von den Typen, die sich einfach nur gerne vorstellen und danach verschwinden. Die Hoffnung war gering, aber einen Versuch war es wohl wert.
"Ich bin so etwas wie die ultimative Waage im Ungleichgewicht der Zeit. Ich bin die letzte Wahrheit der Schöpfung. Der Richter und Henker des Jenseits. Das einzig wahre Fallbeil der Gerechtigkeit."
"Eine Art Türsteher im Himmel also."
"Wenn du so willst, ja." Er lachte. "Auch wenn dieser Himmel natürlich nicht viel mehr ist, als ein paar Wolken und jede Menge romantischer Illusion."
"Bist du so was wie Gott?" Natürlich glaubte ich nicht an Gott. Wenn man so weit gegangen ist wie ich, dann glaubt man irgendwann an gar nichts mehr. Ich weiß einfach, dass Gott existiert. Und er hasst mich.
"Götter sind nichts weiter, als eine Reihe Versprechungen, garniert mit der Hoffnung, nach dem Tod irgendwas Interessantes zu erleben", sagte der Fremde. "Nein, ich bin kein Gott. Mein Metier liegt eher am anderen Ende des Spektrums."
"Ich glaube nicht an den Teufel." Das tat ich wirklich nicht. Der Gott, den ich kenne, braucht keinen Gegenspieler. Es wäre langweilig, da er durch seinen Hang zum Betrug sowieso gewinnen würde. Also kann er ebenso gut gegen sich selbst spielen.
"Ich auch nicht, Lemming. Ich auch nicht... Wir sollten uns unterhalten. An einem netteren Ort."
...
Es brannte in meiner Seele.
Nein, hier gab es keinen Schwefel, kein Feuer und auch die Schreie der ewig geschundenen Wesen der Unterwelt fehlten. Das hier war keine Gutenachtgeschichte, um kleine Kinder zu ängstigen, das hier war die wirkliche Hölle. Nicht viel mehr als ein kleiner Raum, schmucklos und ohne jeglichen offensichtlichen Schrecken. Dennoch konnte ich mir vorstellen, dass es einen normalen Menschen in den Wahnsinn getrieben hätte. Hier gab es keine Brutalität, man wurde einfach nur immer wieder daran erinnert, wer man war. Ein schwarzer Schleier, der sich einem auf die Seele legt und alles in der Gewissheit ertränkt, dass dies hier die Ewigkeit sein würde. Kein Raum für Fantasie, keine Träume - nur die kalte, harte Realität. Immer und immer wieder. Für einen normalen Menschen vermutlich die Apokalypse des Ich - für mich nicht mehr als ein ungemütlicher Raum. Der Verzicht auf meine Träume ist nichts, was mir schwer fallen würde.
Dennoch brannte es in meiner Seele. Aber das kannte ich nicht anders.
"Gefällt es dir?", fragte der Fremde.
"Stellst du diese Frage jedem?"
"Nein. Ich mache das hier nur für ganz besondere Klienten. Normalerweise schicke ich einen meiner Leute." Er nannte seine Opfer Klienten. Genau wie ich. Das imponierte mir. "Du bist ein besonderer Klient."
"Das höre ich oft... aber um deine Frage zu beantworten: nein, es gefällt mir nicht."
"Du bist überfällig, Lemming." Scheinbar hatte mein Gastgeber soeben das Ende des Smalltalk eingeläutet. "Du hättest längst hier sein sollen."
"Ich weiß."
"Das Problem ist, und ich glaube, das hast du selbst längst bemerkt, dass du einfach nicht stirbst. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich fast denken, du würdest am Leben hängen."
"Ich weiß es besser und kann dir sagen, dass es nicht so ist." Es entstand eine kurze Pause, in der wir beide versuchten, das soeben Gesagte zu verstehen.
"Nun, es geht um Gleichgewicht, Lemming", sagte er dann. "Deine ständige Abwesenheit hier bleibt nicht ohne Folge."
"Um die Hölle zu erleben, muss man sie nicht betreten."
"Du bist ein interessanter Mensch, Lemming. Wirklich, ich glaube, wir werden viel Spaß haben."
"Spaß ist etwas, das nur anderen passiert. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne gehen."
"Du kannst nicht gehen. Ich habe dich hergeholt, damit das Gleichgewicht gewahrt wird. Jemand wie du gehört einfach hierher. Alles andere wäre falsch."
"Dies ist ein Ort für Tote. Und ich bin nicht tot." Das war eine Sache, bei der ich mir hundertprozentig sicher war. Diese Erkenntnis stellte schließlich seit jeher die einzige Konstante in meinem Leben dar.
"Ich weiß. Aber ich glaube, das wird niemanden interessieren. Jeder sollte an dem Ort sein, an den er gehört. Du hast eine Menge böser Dinge getan und darum gehörst du hierher. Es geht um das Gleichgewicht, Lemming. Seine Wahrung ist meine Aufgabe."
"Nur mal angenommen, ich würde einfach so durch diese Tür und dann nach Hause gehen. Was würde passieren? Würdest du mich töten?" Ich nehme an, wir beide wussten, welche Antwort ich mir auf diese Frage wünschte.
"Das kann ich nicht", sagte er und raubte mir meine kurzzeitige Hoffnung. "Wenn du durch diese Tür gehst, zerstörst du das Gleichgewicht. Die Welt wird aus den Fugen geraten, wie man so schön sagt. Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht gar nichts. Vielleicht bedeutet das auch das Ende von allem."
"Eine akzeptable Aussicht, wenn du mich fragst."
Ich zog meine Waffe, jagte dem Kerl eine Kugel durch den Kopf und ging zur Tür. Vielleicht hätte er mich nicht herbringen dürfen - auch wenn er nicht anders konnte. Vielleicht war das, was ich nun tun würde, wirklich das Ende von allem. Vielleicht war das, was ich nun tun würde, wirklich mein Ende.
Ich beschloss, dem Schicksal eine Chance zu geben und drückte die Türklinke nach unten.