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Der Lemming: Der letzte Ort
Ein Schritt und es ist vorbei. Ein Schritt und mein Absatz im Geschichtsbuch der Welt hätte endlich seinen finalen Punkt. Ein lausiger Schritt.
Ich beuge mich nach vorn und blicke den Abgrund hinab. Er ist tief, nicht unendlich, aber verdammt tief. Ich bin allein und genieße die Stille. Kein Geräusch zu hören, kein Lüftchen regt sich. Die Welt im Standbild. Dies ist der letzte Ort.
Etwas zieht an meinem Hosenbein. Ich wende den Blick von der Tiefe ab und sehe an mir herunter. Neben meinem linken Schuh sitzt ein Nagetier und grinst mich verschwörerisch an. Es zwinkert mir zu und springt mit einem weiten Satz den Abgrund hinab. Und dann geht es los. Dutzende, hunderte, tausende seiner Artgenossen rennen an mir vorbei und folgen ihrem Anführer in den sicheren Tod. Das Geräusch ihres Aufpralls dröhnt, obwohl endlos weit entfernt, tausendfach in meinem Kopf wider.
Ich schließe die Augen, breite meine Arme aus und lasse mich fallen.
Die Schwerkraft umhüllt mich wie eine treusorgende Mutter ihr Kind und mir ist klar, dass sie mich erst wieder gehen lassen wird, wenn mein Körper sich in einen tiefroten Fleck auf dem Boden verwandelt hat. Ich spüre den Luftstrom in meinem Gesicht und fühle, wie die Erde näher kommt. Schätze die Sekunden bis zum Aufprall.
Die Momente verschwimmen in meinem Kopf, mein Leben gerinnt zu einem kleinen Punkt aus Nichts und als ich die Augen öffne, stelle ich fest, dass ich in meinem Bett liege. Derselbe Traum, jede Nacht. Ich setze mich auf, fühle nach der Narbe auf meiner Brust und greife nach dem Revolver auf dem Nachtisch, drehe die Trommel, halte mir die Mündung an die Schläfe und drücke ab.
Kein Knall, nur ein Klicken. Wie jeden Morgen. Ich bin der Lemming. Und ich sterbe niemals.
...
"Hast du deine Waffe geprüft?"
"Sie ist geladen."
"Du weißt, dass wir keine Zeit mehr haben werden, wenn ich diese Tür erstmal aufgebrochen habe."
"Ich sagte doch, sie ist geladen."
"Okay. Es ist dein Leben."
"Diesmal wird es kompliziert, oder?"
"Es ist immer kompliziert."
Ich atmete ein letztes Mal tief durch und genoss diesen Moment der Stille. Diese Ruhe vor dem Sturm. Wenn du jeden Muskel in deinem Körper spürst, jeden Gedanken aus deinem Kopf vertreibst und dich darauf konzentrierst, jeden gottverdammten Bastard aus dem Weg zu räumen, der sich dir entgegenstellen wird. Mit einer schnellen Bewegung prüfte ich das Magazin meiner Waffe und lauschte meinem ruhigen Herzschlag, spürte das Blut in meinem Körper pochen. Dann erst trat ich die Tür aus den Angeln.
Die Stille entwich meiner Welt und wurde ersetzt durch dieses alles beherrschende Geschrei aus absolutem Chaos. Sie hatten auf uns gewartet und dennoch überraschte ich sie. Die vier Typen saßen um einen kleinen Tisch herum und hielten Karten in den Händen. Bis sie aufgestanden waren und ihre Waffen gezückt hatten, waren zwei von ihnen aus Mangel an Gesichtern nicht mehr in der Lage, jemals wieder einen Abzug zu drücken. Den dritten erwischte ich nach einer kurzen Körperdrehung. Wenn man die Ewigkeit in diesem Job verbracht hat, lernt man irgendwann, schnell zu sein.
Das Messer verfehlte mich nur knapp. Wie immer. Ich wischte den Gedanken beiseite, dass diesmal nur zwei Zentimeter zwischen meinem Hals und der Klinge lagen, zwei Zentimeter zwischen Unendlichkeit und Erlösung, und jagte dem vierten Typen eine Kugel zwischen die Augen. Jack folgte mir vorsichtig in die Eingangshalle, sah die Leichen und schluckte schwer.
"Scheiße, davon hat Rick aber nichts gesagt."
"Es spielt keine Rolle, was Rick gesagt hat. Wir sind hier und sie sind es auch. Also müssen wir damit klarkommen." Vielleicht war Jack so etwas wie mein Freund. In diesem Job hat man selten Gelegenheit, jemanden zu treffen, ohne ihm danach das Herz in kleinen Stücken aus dem Körper zu pressen. Wenn man dieses Leben wählt, entscheidet man sich für das Alleinsein. Jack hatte eines Tages in einer Kabine des Bahnhofsklos gesessen und durch die offene Tür beobachtet, wie ich mich um einen Kunden gekümmert hatte. Ich glaube, jeder braucht manchmal jemanden zum Reden. Einfach nur, damit die Welt einem nicht ständig mit dieser gnadenlosen Einsamkeit auf den Geist geht. Jack war mein Begleiter.
Irgendwann wird jemand in diesem Haus gelebt haben.
Lange bevor die Zeit mit ihrem hohlen Zahn an den alten Gemäuern genagt und die Atmosphäre zur Resignation gezwungen hatte. Die Fenster und Türen nach außen waren vernagelt, der dritte Stock hatte kein Dach mehr und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das Haus unter ihrer Last einfach aufgeben würde. Normalerweise würde ich in einen solchen Schuppen keinen Fuß setzen. Aber Rick wollte den Typen tot sehen. Und weil Rick der Mann mit dem Geld war, machte ich mich auf die Suche nach der Treppe in den zweiten Stock.
Oben erwartete mich ein versiffter Gang, notdürftig durch flackerndes Neonlicht erhellt, links und rechts gesäumt von alten Holztüren. Ich warf einen kurzen Blick auf die flüchtenden Kakerlaken und bewegte mich vorsichtig an das gegenüberliegende Ende des Flures. Dort würde meine Zielperson sein, hatte Rick gesagt. Und Rick musste es wissen.
Links von mir öffnete sich eine der Türen. Vorsichtig, nur einen Spalt breit, gerade weit genug für eine Ratte hindurchzusehen und mit ihrer Pistole auf meinen Magen zu zielen. Das Geräusch der Scharniere war leise, aber nicht leise genug. Ich warf mich mit voller Wucht gegen die Tür, die mit einem lauten Knall aufflog und den Typen, der sich dahinter versteckt gehalten hatte, in den Raum schleuderte. Er versuchte, sich aufzurappeln, klammerte sich an einen Vorhang, der jedoch in seinen Händen zu Dreck zerfiel. Eine zweite Chance ließ ich ihm nicht.
Hinter mir ertönte ein Schuss, ich drehte mich um und blickte in Jacks schreckgeweitete Augen. Zwischen uns irgendein Kerl, der seine Waffe fallen ließ und ihr kurz darauf recht leblos folgte.
"Glückwunsch", sagte ich. "Der Erste ist immer der Schwerste."
"Er... er hätte... ich meine... ich hab noch nie... er hätte dich..."
"Ja." Warum musste Jack sich ausgerechnet diesen Moment aussuchen, um von einem Begleiter zu einem Killer zu werden. Jeder andere in meiner Situation wäre ihm vermutlich dankbar gewesen - aber das Schlimme an meiner Situation ist nun mal, dass jeder andere nicht in meiner Situation war. "Ja, das hätte er. Gehen wir weiter. Unser Klient wartet."
"Aber..."
"Was? Du wusstest, dass das irgendwann passieren würde. Man kann nicht jahrelang mit mir durch die Gegend rennen und zusehen, wie ich Leute abknalle, ohne irgendwann mit reingezogen zu werden." Ein Schuss, ein zweiter. Der zweite kam aus meiner Waffe und strich einen weiteren dieser Typen von der Gehaltsliste des Lebens. Der erste kam aus seiner Waffe und traf Jack ins Bein.
"Scheiße", sagte der und sackte zusammen. Ich half ihm hoch und führte ihn in das Zimmer, wo er sich gegen eine Wand lehnen konnte.
"Du bleibst hier. Sobald diese Tür sich öffnet, schießt du."
"Okay... und wenn du es bist?"
"Wenn ich es bin, wirst du nicht treffen."
...
Ein paar Kugeln später war ich am Ziel. Eine simple Holztür, kein bisschen aufregend oder besonders. Wenn das, was sich laut Rick dahinter befinden sollte, wirklich so wertvoll war, stimmte hier irgendetwas nicht. Ich lud meine Waffe nach und trat die Tür aus den Angeln. Überraschungsmoment.
Doch die Überraschung war eher auf meiner Seite. Drinnen lauerten keine schwer bewaffneten Gangster, keine Killermaschinen, keine scharfen Hunde, keine Bewegungssensoren mit anmontierten Atombomben. In dem kleinen Zimmer hockte, mit dem Rücken zu mir, ein Mädchen, das mit einer Art Puppe spielte.
"Ich habe dich erwartet", sagte sie, ohne sich umzudrehen.
"Keine Kunst, ich war laut genug."
"Allerdings. Aber ich erwarte dich seit deiner Geburt."
"Verstehe. Du bist wieder eines dieser kosmischen Wesen, die älter sind, als die Zeit selbst und so. Richtig?" Ich hatte in meinem viel zu langen Leben schon öfter mit Verrückten zu tun gehabt.
"Ja. Und ich bin dein Klient. So nennst du uns doch, oder? Deine Opfer?"
"Kinder sind keine Klienten."
"Lass dich von meiner äußeren Hülle nicht täuschen, Lemming. Wir beide wissen, dass du mich töten wirst. Genau, wie du die anderen Drei getötet hast."
"Die anderen Drei. Alles klar." Nichts war klar. Ich hatte so viele Leute auf dem Gewissen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wen sie meinen könnte. Außerdem irritierte mich ein wenig, dass sie überhaupt so viel über mich wusste.
"Ja, die anderen Drei. Du hast die Hüterin des Lebens getötet," Eine alte Frau in einer kleinen Hütte am Strand - sammelte Voodoopuppen und kochte Suppe "dann den träumenden Gott," Ein Penner in einer vergammelten Bruchbude - lebte in seinen eigenen Ausscheidungen und hat das Universum geträumt "und schließlich den Teufel." Ein sympathischer Kerl im weißen Anzug - hielt sich für eine Art Waage
"Ich erinnere mich... drei Aufträge von vielen."
"Ja, drei von vielen. Und jetzt bin ich an der Reihe."
"Und du bist?"
"Ich zeige es dir..." Das Mädchen erhob sich und auf eine kaum merkliche Geste öffnete sich eine kleine Luke im Boden. Eine weitere Geste und Licht flammte auf. Unter uns erstreckte sich endlos scheinender Raum. Kein Boden, keine Wände waren zu erkennen. Und inmitten dieses Nichts, ein Haufen...
"Voodoopuppen?"
"Ganz genau."
"Wieviele sind es?"
"Alle. Für jedes Leben auf der Welt eine. Die Hüterin des Lebens hat sie gemacht und ich zerstöre sie. So funktioniert es." Erst jetzt bemerkte ich, dass das Spielzeug in ihrer Hand ebenfalls eine Voodoopuppe war. Eine ohne Kopf.
"Erkennst du sie? Es ist deine. Ich habe sie für dich aufbewahrt."
"Ich habe ihr den Kopf abgebissen, weil ich dachte..."
"Deine Zeit war noch nicht gekommen. Nicht, bevor du den letzten Punkt deines Auftrags erfüllt hast."
"Auftrag?"
"Töte mich und du wirst frei sein. So ist es vorgesehen."
...
Ein Schritt und es ist vorbei. Ein Schritt und mein Absatz im Geschichtsbuch der Welt hätte endlich seinen finalen Punkt. Ein lausiger Schritt.
Ich beugte mich nach vorn und blickte den Abgrund hinab. Er war tief, nicht unendlich, aber verdammt tief. Ich war allein und genoss die Stille. Kein Geräusch zu hören, kein Lüftchen regt sich. Die Welt im Standbild. Dies war der letzte Ort.
Jede Nacht habe ich diesen Moment gesehen, jeden Morgen sein Eintreffen herbeigesehnt. Unter mir die gähnende Leere des Abgrunds, in mir die Gewissheit, mein Leben selbst bestimmen zu können, hinter mir das viel zu lange Leben eines Toten.
Ich fühlte nach der kopflosen Puppe in meiner Tasche und trat zurück vom Abgrund.
Irgendwann vielleicht, aber nicht heute. Ich hatte noch einen Termin.