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Der Lemming: An beiden Enden der Zeit
"Sag mal, Lemming, warum machst du das hier eigentlich?"
"Du meinst, warum ich rumgehe und Leute abknalle?"
"Nein, das meine ich nicht. Ich weiß, dass du das wegen des Geldes tust."
"Jeder sollte seinen Lebensunterhalt damit verdienen, was er am besten kann."
"Ja, aber wofür lebst du? Was treibt dich an, dir nicht einfach eine Kugel durch den Kopf zu jagen?"
"Ich lebe, weil... ich lebe einfach. Es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte."
Sie nennen mich den Lemming.
Das hat was mit diesen putzigen Viechern zu tun, die sich der Legende nach todessehnsüchtig in Abgründe stürzen. Und das ist eigentlich auch schon das Einzige, was ich mit ihnen gemeinsam habe. Während Lemminge nämlich am Boden zu einer hässlichen Pfütze aus Innereien mutieren, würde ich den Sprung vermutlich überleben und mir durch den Aufprall höchstens meine zuvor ausgekugelte Schulter wieder einrenken. Vielleicht würde auch einfach gar nichts passieren, aber ich würde auf jeden Fall nicht daran sterben. So sehr ich mir auch das Gegenteil wünschte, das Schicksal findet immer einen Weg, mich am Leben zu lassen.
Jage ich mir ein Messer in die Brust, bricht die Klinge. Nicht, weil ich Superman wäre, sondern einfach weil ich mit schlafwandlerischer Sicherheit das einzige Messer erwische, dessen Klinge unten angerostet war. Gerate ich in irgendwelche Schießereien, dann spielt es keine Rolle, wie viele Kugeln durch die Luft jagen oder wie viel Mühe ich mir gebe, sie mit dem Mund zu fangen. Ich werde nicht getroffen. Niemals.
Nein, das stimmt nicht. Einmal, da wurde ich erwischt. Direkt in die Brust. Aber aus irgendeinem Grund bohrte sich diese gottverdammte Kugel in mein Brustbein und blieb dort einfach stecken. Drei verschissene Millimeter vor meinem Herzen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht jeden einzelnen dieser Millimeter verfluche. Nichts in der Welt kann diese Kugel von ihrem Platz rücken. Nichts in der Welt kann meinem Leben ein Ende machen.
"Wer ist es heute?"
"Niemand Wichtiges. Irgendein Penner. Der Boss hat gesagt, wir sollen da einfach reingehen und den Kerl umlegen."
"Einfach umlegen also." Ich zog meine Waffe und prüfte das Magazin. Jede Kugel war an ihrem Platz. Man sagt, wenn du in diesem Job überleben willst, wäre Präzision das Wichtigste. Aber auch wenn dir das mit dem Überleben nicht so wichtig ist, solltest du immer wissen, ob mit deiner Knarre alles in Ordnung ist.
"Hast du manchmal Gewissensbisse, wenn du das tust?"
"Nein. Wer tot sein sollte, der sollte tot sein. So einfach ist das. Gehen wir."
Ja, der Kerl sollte einfach tot sein. Keine Ahnung, ob er sein Leben damit verbracht hat, mit Mädchen zu handeln, Drogen zu dealen und armen Straßenkötern nur zum Spaß die Kehle durchzuschneiden. So etwas geht mich nichts an. Bin ja kein Racheengel oder so. Ich mache nur meinen Job. Und wenn der Boss sagt, der Kerl verdient den Tod, dann verdient der Kerl den Tod. So einfach ist das.
Jake war so was wie mein Lehrling. Natürlich war er nicht wirklich mein Lehrling - wenn ich ihm wirklich alles beibringen wollte, was ich über diesen Job wusste, wären wir wohl in hundert Jahren nicht fertig. Also, ich hätte die Zeit natürlich, aber Jake... naja. Vielleicht war er auch so was wie mein Freund. Oder das, was einem Freund für mich am nächsten kam: Ich redete mit ihm.
"Hast du deine Waffe geladen?", fragte ich.
"Hab ich im Versteck gemacht."
"Sieh noch mal nach. Nachher wirst du vielleicht keine Zeit mehr haben."
"Sie ist geladen, okay?"
"Okay, ist dein Leben... Wir sind da. Nummer 42."
Würde man von einem hübschen Vorstadthäuschen in Gedanken all das abziehen, was es wohnlich macht und sich dazu einen immerwährenden Gestank von Erbrochenem und Katzenpisse vorstellen, dann wüsste man in etwa, mit was für einer Art Haus wir es hier zu tun hatten. Ich machte mir nicht die Mühe, eine Klingel zu suchen - selbst wenn es eine gegeben hätte, hätte ich sicher nicht die geringste Lust verspürt, sie anzufassen. Eigentlich wollte ich hier gar nichts berühren. Das hier war einer dieser Orte, an denen man die Dinge nur grob aus dem Augenwinkel wahrnehmen muss, damit sie einen krank machen.
Nachdem ich die Tür eingetreten und wir die Bruchbude betreten hatten, suchten wir in den Räumlichkeiten nach unserem Klienten. Während Jake die verfallene Treppe nach oben nahm, blieb ich im Erdgeschoss und folgte meiner Nase. Dort, wo es am stärksten nach all den Dingen stank, die der Körper am besten in sich behalten sollte, dort vermutete ich den Klienten. Ich mag diesen Ausdruck. Es verleiht der ganzen Sache eine gewisse Würde, wenn man nicht einfach von Opfern spricht.
Der Kerl lag in einer undefinierbaren Pfütze auf dem nackten Betonboden und schlief. An den Wänden zeugten grellbunte Graffitis davon, wer hier alles schon gehaust hatte und was sie von der Welt an sich gehalten hatten. Mit einigen der Sprüche konnte ich mich identifizieren: Life Sucks. Und wie. Natürlich hätte ich ihn jetzt einfach so abknallen können, aber das hätte gegen meine Überzeugung gesprochen. Niemals von hinten, niemals im Schlaf. Immer in die Augen sehen, sonst ist es einfach nicht richtig.
"Oben ist niemand", sagte Jake und wischte sich ein paar Spinnweben von der Schulter. Ich hätte ihm vielleicht sagen können, was auf seinem Kopf herumkrabbelte, aber ich wollte ihm die Überraschung nicht verderben.
"Gut, dann ist er allein", sagte ich stattdessen.
"Ist er das? Das ist ja wirklich nur ein Penner."
"Ja, das ist er. Weck ihn auf."
"Warum? Ich meine, das ist eine ideale Chance."
"Ich sagte, weck ihn auf." Jake kniete sich neben den Klienten und packte ihn grob an der Schulter. Langsam wachte der Kerl auf, wischte sich den dicken Speichelfaden aus dem Gesicht und setzte sich auf. Er spielte geräuschvoll mit den Schleimkanälen in seinem Kopf und spuckte dann irgendetwas in eine Ecke des Raumes. Ich verzichtete darauf, nachzusehen. Dann erst öffnete er die Augen und sah zuerst Jake und dann mich.
"Wer... wer seid ihr?"
"Wir sind dein schlimmster Alptraum", zischte Jake.
"Lass den Unsinn!", fuhr ich ihn an. "Tut mir leid, mein Kollege neigt zu Enthusiasmus. Natürlich hat er nicht ganz Unrecht. Die meisten Menschen würden nach der ersten Begegnung mit mir sicher Alpträume kriegen. Allerdings überleben die meisten Menschen die erste Begegnung mit mir auch nicht. Und die, die es tun, neigen nicht zu Träumen." Ich zückte meine Waffe und spannte den Hahn.
"Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts getan..."
"Du lebst. Das reicht schon. Mir persönlich ist es ja egal, aber mein Boss..."
"Lemming...", begann Jake. "Ich meine, ich weiß, du bist der Lehrer und ich bin dein Schüler... aber... aber wäre es nicht an der Zeit, dass ich auch mal..."
"Dass du was? Nein, dazu ist es noch zu früh. Man sollte erst abdrücken, wenn man ganz genau weiß, dass einen die Folgen seelisch nicht umbringen werden."
"Weißt du es denn?" Der Penner witterte anscheinend Morgenluft.
"Ja. Das ist vielleicht das Einzige, was ich sicher weiß. Egal, welche Folgen ein Auftrag für mich haben mag, ich werde nicht daran sterben."
"Du bist der Lemming, richtig?" Ich nickte. Jake hatte meinen Namen bereits genannt und der Kerl würde es sowieso niemandem mehr erzählen können. Was spielte es da noch für eine Rolle, dass er erfuhr, wer sein letztes Zeugnis unterschreiben würde. "Ich habe von dir gehört. Alle kennen dich."
"Ich bin viel rumgekommen."
"Ja, ich weiß. Ich bin auch rumgekommen. Um genau zu sein, war ich schon überall." Der Penner richtete sich ein wenig mehr auf und wischte sich mit dem Handrücken Dreck von der Stirn. Eigentlich verteilte er ihn nur ein wenig gleichmäßiger im Gesicht, aber dadurch fiel die dreckige Stirn nicht mehr so auf. "Weißt du, ich habe immer gewusst, dass ich irgendwann sterben werde. Und ich hatte gehofft, dass du der Grund sein wirst. Du bist in gewissen Kreisen eine Legende."
"Glaub ja nicht, dass du dich aus dieser Sache rausreden kannst", sagte ich und zielte zwischen seine Augen.
"Tu ich nicht. Ich weiß, dass du den Job erledigen wirst. Das machst du immer... Ich war überall und überall erzählen die Leute von dir." Er wandte sich Jake zu und versuchte zu lächeln. "Hey, Kleiner, nenn mir einen Ort und ich war da."
"Nordpol?"
"Da war ich. Ich habe alles gesehen. Nicht nur hier auf der Erde. Das ganze Universum habe ich bereist, von einem Ende bis zum anderen. Ist gar nicht so weit, wie man immer meint. Ein paar läppische Millionen Jahre und schon ist man da."
"Nenn mir einen Grund, aus dem ich dich ausreden lassen sollte."
"Wir teilen das gleiche Schicksal, Lemming. Wir beide sind unsterblich." Einen Moment lang stutzte ich. Natürlich war das nur ein ziemlich lahmer Versuch, mich davon abzuhalten, meinen Job zu erledigen, das wusste ich. Dennoch irritierte es mich, dass jemand wie er mein Geheimnis kannte. Niemand wusste das.
"Rede", sagte ich daher und nahm die Waffe runter.
"Weißt du, am Anfang war es ziemlich langweilig. Ich meine, es gab nichts. Es gab nicht mal etwas, das man hätte vermissen können. Einfach gar nichts. Und dann irgendwann entstand das Universum."
"Du warst dabei, als das Universum entstanden ist?" Jake wirkte auf einmal wie ein kleines Kind auf mich. "Wie war das?"
"Keine Ahnung. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es verschlafen. Ich weiß nur noch, dass mir ziemlich langweilig war und ich ein Nickerchen machen wollte. Und dann war das Universum auf einmal da... Naja, und ich dachte mir, dass ich es mir ansehen sollte. Irgendwas muss man ja schließlich mit der Ewigkeit anstellen."
"Also hast du das Universum bereist?"
"Ja, das habe ich."
"Hast du ein Raumschiff?" Vermutlich war sogar Jake klar gewesen, dass ein Fahrrad nicht das richtige Fortbewegungsmittel gewesen wäre. Vielleicht wollte er einfach nur irgendetwas sagen, um die Leere in seinem Kopf einen Moment lang zu vergessen.
"Ich brauche kein Raumschiff. Ich bin einfach immer dort, wo ich sein möchte."
"Was machst du dann hier?", fragte ich. "Wenn ich überall sein könnte, wär dies wohl der letzte Ort für mich."
"Ich versuche, der Ewigkeit zu entfliehen. Genau wie du, Lemming. Genau wie du. Und wie es aussieht, habe ich es geschafft. Ich habe dich gefunden und du wirst mich töten."
"Das ist mein Job."
"Ich weiß. Ich kenne dich. Aber du weißt nicht, wer ich bin."
"Du bist ein Klient. Mehr muss ich nicht wissen."
"Ich bin viel mehr als das."
"Du bist... Gott!" Ich glaube, Jake war kurz davor, vor den Füßen eines Irren auf die Knie zu fallen. Mitten hinein in die Pfütze aus... Mitten hinein in diese Pfütze.
"Gott? Nein, ich glaube nicht. Ich bin einfach nur jemand, der zu viel Zeit hat. Nun, ich habe natürlich keine Beweise, aber ich glaube... nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich von meinem Nickerchen damals nicht wieder aufgewacht bin. Ich glaube, ich träume das alles hier. Das ganze Universum ist mein Traum."
"Ich bin kein Traum", sagte ich. "Und meine Kanone ist sicher auch kein Traum. Und wenn du nicht gleich aufhörst mit diesem Scheiß, dann jag ich dir eine Kugel durch den Kopf."
"Das machst du doch sowieso... Weißt du, was mit einem Traum passiert, wenn der Träumer im Schlaf stirbt? Er endet. Wenn du mich tötest, Lemming, wird das alles hier enden. Einfach so. Wie eine Seifenblase wird mein Traum zerplatzen. Und du und dein Freund hier werdet mit ihm gehen."
Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mir die Frage, warum ein Auftraggeber einen Klienten tot sehen wollte. Ich meine, der Kerl hier war einfach nur ein vollkommen verrückter Penner, der sich in irgendeine Wahnvorstellung geflüchtet hat. Niemand, der irgendwem jemals gefährlich werden könnte. Und trotzdem sollte er sterben. Alleine die Tatsache, dass jemand mich für viel Geld angeheuert hatte, so einen Kerl umzubringen, beunruhigte mich.
"Weißt du, Lemming", fuhr der Mann fort, "ich habe alles gesehen. Ich war überall. An beiden Enden der Zeit, wenn du so willst. Ich habe den Anfang miterlebt und jetzt werde ich das Ende miterleben. Das ist mehr, als die meisten anderen mit ihrem Leben angefangen haben, findest du nicht?" Er lächelte und dann rotzte er noch einmal in die Ecke.
Ich glaube, dass es keine Rolle spielte, was ich dachte. Er war der Klient und ich war der Killer. So einfach war das. Vielleicht hatte er Recht und ich würde mit meiner Kugel nicht nur ihm, sondern allem das Licht ausblasen. Aber vielleicht war es ja genau das, was ich die ganze Zeit über tun wollte.
Ich hob die Waffe und zielte. Einen Versuch war es wert.