Der Leiermann
Drüben hinterm Dorfe und das Eis es schmilzt. Unter dem Alten, wankend, kurbelnd, kurzatmig, einsam, ziehen braune Ströme zerflossenen Eises ihre sich weitenden Bahnen. Nun beginnt er einzubrechen, ein Bein, ein zweites, die Leier, schließlich der Oberkörper. Sein letzter Blick fällt auf den Teller, der leer an ihm vorbei zieht. Er wehrt sich nicht mehr. Vorbei. Nur noch Dunkelheit.
Ungewohnt warm ist es um ihn. Warm und feucht und schwammig wie Schlick, von allen Seiten bedrückt und umhüllt. Es riecht modrig und faul, jahrhundertelang abgestandene Luft. Zu dick, um zu atmen, doch deutlich und stechend ist der Geruch. Das eintönige Knarren der Leier erstickt unter dem uralten Schlamm, verkommt zu einem Husten, einem Ringen nach Licht und Leben. Fast scheint sie zu kämpfen, zu versuchen dem festen Griff des Alten zu entkommen, endlich zu fliehen aus der ewigen Dreherei. In die Freiheit. Fort von ihm.
Über ihnen, dem Wunderlichen und der Leier, die immer weiter sinken, tief hinein in das kochende Moor, drüben hinterm Dorfe, ziehen unendliche Scharen grauer Gestalten. Tausende Leiber, tote Lebende, hastig kriechend durch den dumpfen Morast. Sie tasten sich hindurch, jeder für sich blind, ziellos, gleichsam gezwungen durch eine höhere Macht, ein ewig existierendes Etwas. Ein uralter Instinkt. Sie scheinen wie ein einziges Gelee, ohne Form, ohne Kontur, zusammengewachsen und doch getrennt. Für immer getrennt, sie alle süchtig nach der Göttlichkeit, der verlorenen Seele.
Sie alle sie suchend, rufend, flehend hinaus in die Finsternis. Sie alle ihre fetten, jeglicher Menschlichkeit entbehrenden Körper über den Schlamm schleppend, an der Oberfläche treibend wie ein Stück verwestes Holz. Und genauso sinn- und inhaltslos. Was sie verband ist fort, was Form gab aufgelöst. In Luft. In flimmernde Schemen auf weißen Bahnen, Leinwände des Lebens, verehrungswürdige Seher, prophetengleich bedeutsam.
Sie pulsieren weit, weit entfernt. Geben Takt und Rhythmus jedem der ihrer Hypnose verfällt. Ziehen sie an von überall, die idiotisch gewordenen Massen. Endlose Schlieren aus allen Himmelsrichtungen, ein Tanz nebelartiger Wolken um die neue Mitte, Abglanz vergangener Festigkeit. Um selbst wieder etwas Festes zu werden. Um wieder selbst zu sein. Eine Mitte, die nun das geben soll, was sie schon einmal gegeben, schon oft genommen hat. Inhalt der leeren Hülle. Gottesgleich.
Drüben hinterm Dorfe stirbt ein Leiermann. Reglos schwankt er auf dem Grund des Totenflusses. Reglos treibt sein Instrument, seine Seele mit den schwachen Wellen. Reglos bewegt wird sie vom Strom der Irrenden mitgerissen. Hinterlässt den Alten, hinterlässt den Wunsch nach Freiheit, hinterlässt sich selbst. Nur ein Körper bleibt zurück und eine leere Melodie unter Millionen. Millionen von Leiermännern, aufgedunsen ins Nichts starrend. Wie festgenagelt im Bodensatz der kreuzenden Flüsse von Scheinbedürfniswelt und Realität. Und während mehr und mehr von ihnen sinken, dahin wo niemand sie zu sehen mächtig oder Willens ist, ziehen droben die grauen Schwärme dem Dorf entgegen, der Mitte, dem Anfang, dem Ende.
Martin Brümmer
Kurze Erläuterung:
Diese Geschichte ist meine Sicht des "Leiermanns" ein Lied aus der Winterreise von Schubert/Müller. Damit niemand "Plagiat" schreit.