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Der Leichenschmaus - Rache wird lauwarm serviert
Anna langweilte sich zu Tode.
Wie passend, dachte die Vierzehnjährige, und sank ein Stück tiefer in den Ledersessel. Ihr Kopf wurde von der Rückenlehne nach vorn gedrückt, lustlos hingen die Arme an den Lehnen herab. Ein klopfendes Geräusch, als sie unrhythmisch mit den Hacken gegen das Fußteil des Sessels schlug.
»Spätzchen, hör auf damit. Setz dich vernünftig hin, du hängst da wie ein Schluck Wasser in der Kurve«, raunte Mama ihr im Vorbeigehen zu und verschwand mit einem Tablett voll Häppchen durch die Tür in Opas Esszimmer. Opas ehemaligem Esszimmer, denn Opa würde hier – oder sonst wo - nie wieder etwas essen. Bei Mamas Bitte verdrehte Anna die Augen und seufzte schwer, bewegte sich jedoch keinen Millimeter.
Sie schaute sich im Zimmer um. Kackbraune Schränke, kackbrauner Tisch. Glasvitrinen mit häßlichem Porzellanscheiß. Wie lange mussten sie noch hier bleiben? Wenn sie wenigstens ihr Handy wiederhaben könnte ... was würde sie jetzt dafür geben, mit Milli texten zu können. Dieser Langeweile entfliehen. Und Mamas schlechter Laune. Was war das bloß, dass sie heute so gereizt erscheinen ließ? Das fing bereits auf der Beerdigung an. Immer wieder hatte Anna bemerkt, wie Mama sich in der Kirche zu Papa hinüber gebeugt und etwas in sein Ohr geflüstert hatte. Bestimmt nichts lustiges, denn Papa hatte nicht gelächelt, sondern diese Aktionen mit wenigen Worten abgewürgt. Beim letzten Versuch von ihr hatte er den Kopf gedreht und Mama sogar einen seiner seltenen eiskalten Blicke zugeworfen, so dass sie schließlich verstummte.
Kein Grund, es an mir auszulassen, dachte Anna.
»Na meine Kleine, was treibst du feines?«, riß eine kratzige hohe Stimme sie aus ihren Gedanken.
Ein alter Sack im schwarzen Anzug starrte auf sie herab. Das faltige Gesicht lächelte, doch es waren die Glubschaugen, die Anna kurz schaudern ließen.
»Nichts. Chillen.«, antwortete sie abweisend. Was wollte der Vogel? Bestimmt einer von Opas uralten Freunden.
»Mir gefallen deine Zöpfe«, krächzte der Alte und lächelte breit, er streckte seine Finger in ihre Richtung aus. Auf dem Handrücken erkannte Anna blaue Adern, zudem sprenkelten braunschwarze Punkte die Haut. Ein schwach chemischer Geruch ging von den Fingern aus. Bäh! Sie rutschte ein Stück im Sessel zurück und setzte sich gerade auf, nahm einen ihrer beiden blonden Zöpfe und ließ ihn durch ihre Finger gleiten.
»Ich kannte da mal ein fesches Mädel, das hatte genau solch schöne Zöpfe wie du«, sagte der stinkende Alte und seine ausgestreckte Hand zitterte leicht.
»Ja? Wow. Das ist ja … interessant«, log Anna, duckte sich unter dem Arm des Mannes weg und glitt schnell aus dem Sessel. »Ich geh mal zu Oma«, sagte sie über die Schulter und ließ Glubschauge allein zurück.
Das Esszimmer war bei ihrem Eintritt voller Menschen. Männer und Frauen in schwarzen Anzügen, schwarzen Hemden oder schwarzen Kleidern, die sich leise zu zweit oder in Kleingruppen unterhielten. So ziemlich alle standen mit Porzellantellern in den Händen um einen großen Esstisch herum, auf dessen weißer Tischdecke sich jede Menge Essen türmte.
Schweinshaxe, Kartoffelklöße, Sauerkraut. Angeblich Opas Lieblingsessen.
Der Leichenschmaus.
Als Anna das Wort vor kurzem – nach Opas Tod - zum ersten Mal hörte, war ihr die Kotze hochgekommen. In ihrem Kopf hatte sich ein Bild von den Familienangehörigen geformt, die mit großem Appetit die Leiche des Verstorbenen aufaßen. Papa hatte ihr und Timmy dann erklärt, was es damit auf sich hatte, wo der Begriff herkommt.
Klingt trotzdem eklig, dachte Anna. Warum hat man das seit damals nicht einfach anders genannt … irgendwie nicer.
Beerdigungsabschlussessen. Zu lang.
Angehörigentreff. Lame.
After-Death-Party. Lit.
Direkt neben ihr, an der Tür zum Wohnzimmer, saß Oma in einem – kackbraunen – Sessel. Ihr schwarzes Kleid sah aus wie die Gardine eines Gothic Nerds, dachte Anna. »Hi Oma«, sagte sie.
Oma sagte nichts, starrte mit leerem Blick durch Anna hindurch, als stände sie gar nicht vor ihr.
»Oma?« Anna fuchtelte mit der Hand vor den Augen der Alten.
Ein wenig Leben kehrte zurück, sie öffnete langsam den Mund um etwas zu erwidern, zwei dünne Spuckefäden zogen sich von der Unterlippe zum oberen Zahnfleisch.
»Cchhh...Hava?«, kratzte es hervor. Mundgeruch. Widerlich.
»Anna! Ich bins, deine Enkeltochter? Hallo-ho?« Nicht zu fassen, die weiß nicht mal mehr meinen Namen, dachte Anna empört.
Jetzt zitterte ein Lächeln auf Omas Gesicht, Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen über die runzligen Wangen.
»Hava! Das ich dich noch einmal sehen darf. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben. Ich wollte ihn stoppen. Bitte verzeih mir Hava. Und sag deiner Mutter ...«
In diesem Moment beugte sich Glubschauge zwischen sie und Oma. Er legte eine seiner ekligen Hände auf Omas Schultern und stoppte sie in ihrem wirren Redefluss.
»Eva, das ist nicht Hava. Das ist Anna. Deine Enkeltochter.«
Oma blickte zu Glubschauge auf, Unsicherheit in den Augen. »Hava?«
»Mach dir keine Sorgen Eva«, sagte Glubschauge, »um Hava wurde sich gekümmert.«
Anna drehte sich um. Bloß weg von diesen beiden Langweilern.
Sie ließ den Blick wandern. Fast nur alte Menschen, ihr kleiner Bruder war das einzige Kind; und er hatte Anna noch nicht gesehen. Anna lächelte. Zeit für Rache, kleiner Pisser. Sie umkurvte ein paar fettärschige Tanten und schlich von hinten an ihn heran. Der Zwerg. Hatte auf dem Kirchenparkplatz mit seinem Gekreische dafür gesorgt, dass Mama ihr das Handy abgenommen hatte. So fest hatte Anna ihn gar nicht gekniffen. Dämliches Baby.
Sie pirschte sich an, bis sie direkt hinter dem Zehnjährigen stand. Dann spannte sie ihren Zeigefinger hinter dem Daumen an, führte ihre Hand hinter das Ohr des Knirps und ließ den Finger vorschnalzen.
»Aauuu!«, schrie Timmy und seine Hand fuhr zum Ohr.
Gespräche verstummten, Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Auch Timmy drehte sich um. Beim Anblick seiner Schwester schoß ihm erst das Blut in die Wangen und kurz darauf Tränen in die Augen. Er fing an zu heulen.
Eine Hand packte Anna fest am Arm und zog sie weg von Timmy und den alten Knackern. Mama schliff sie in die menschenleere Küche. Eindeutig angepisst. Als die Tür hinter ihnen zufiel, ließ sie los.
»Aua! Spinnst du!«, rief Anna und rieb sich den Arm.
»Verdammt noch mal, hör auf damit!« machte Mama ihrem Ärger Luft. »Lass gefälligst deinen Bruder in Ruhe! Kann ich nicht mal einen Tag Frieden von euch haben?«
Rote Flecken hatten sich auf den Wangen gebildet und nachdem sie beim Wutanfall wild gestikulierte, strich sie nun eine blonde Strähne hinters Ohr. Sie seufzte. Ihr schwarzes Kleid raschelte leise. »Dieser ganze Tag ist sehr anstrengend für mich, da könntest du wenigstens ein bisschen Unterstützung leisten.«
»Ich will nach Hause. Wie lange dauert das hier noch?«, nölte Anna.
Erneut seufzte Mama. »Hör mal, dein Vater ...«
In diesem Moment ging die Küchentür auf und Papa kam herein. »Alles in Ordnung?«
Mama stand auf und hob abwehrend beide Hände, mit den Handflächen nach außen. »Sprich du mit deiner Tochter. Ich gehe wieder an die Front.« Als sie durch die Tür wollte, hielt er sie am Arm fest. Die beiden sprachen zwar leise, aber nicht so sehr, dass Anna es nicht mitbekam: »Ich hab dir schon gesagt, ich wusste nicht, dass die hier auftauchen«, wisperte Papa.
»Es ist genau das eingetreten, was ich prophezeit habe«, zischte Mama. »Hast du gesehen, was diese Kerle am Revers tragen?«
»Das ist nicht verboten ...«, setzte Papa an, doch Mama fiel ihm harsch ins Wort.
»Willst du mich verarschen? Bei den Typen kriege ich das kalte Kotzen!« Sie sah ihm in die Augen, dann fiel ihr Blick auf seine Hand an ihrem Arm. Papa ließ sie los. Schließlich blickte sie noch einmal kurz zu Anna und verließ die Küche.
Papa sah ihr für einen Augenblick nach, dann wendete er sich an Anna: »Na Spatz, wie fühlst du dich?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.« Ihr war langweilig.
Er hockte sich vor sie, und fasste ihre beiden Schultern. Die Wärme seiner Hände sickerte durch den dünnen Stoff des schwarzen Kleids. »Vermisst du deinen Opa? Bist du traurig?«
»Keine Ahnung.« Nö, nicht wirklich. Sie hatte den dürren, mürrischen Mann nie als sympathisch empfunden. Es erschien ihr, so lange sie denken konnte, als hätte er ’nen Stock in seinem faltigen Arsch. Einen langen, dünnen Stock. Auch die seltenen Besuche bei Oma und Opa an den Weihnachtsfeiertagen oder zu Kaffee und Kuchen an jedem Ostersonntag hatten immer einen schlechten Beigeschmack. Denn Zuhause kam es zwischen Mama und Papa dann regelmäßig zum Streit. Meist war es Mama, die anfing zu schreien. Gottseidank hatte Anna ihr eigenes Zimmer im ersten Stock, so bekam sie nicht all zuviel davon mit. Ansonsten hätte das Gebrüll sie bestimmt wahnsinnig gemacht.
»Spatz, kannst Du mir einen Gefallen tun?«, fragte Papa.
»Was?«, antwortete sie genervt.
»Holst du Oma eine Decke aus dem Gästezimmer? Kannst Du das bitte für mich tun?«
Anna kam ein Idee. »Kann ich dann mein Handy wiederhaben?«
Papa stand auf. »Ich rede mit deiner Mutter.«
Gemeinsam verließen sie die Küche.
»Auf Heinrich Hellstrom, den besten Hauptmann auf der ganzen Welt!«, rief ein dicker rotgesichtiger Sack im Anzug, und hielt ein Glas hoch, in dem eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte. Während Anna das Zimmer durchquerte, sah sie zu der Gruppe herüber.
»Auf Heinrich!« ertönte es aus einem halben Dutzend Kehlen, Gläser klirrten, als die alten Männer anstießen. Alle trugen schwarze Anzüge über weißen Hemden, doch auffällig waren die kleinen Anstecknadeln in Höhe der Brust. In Form und Farben der deutschen Flagge.
Schwarz. Rot. Gold.
Sie sah noch, wie Mama bei dem Ausruf des Dicken mit aufgerissenen Augen herübersah, dann stieß Papa zu der Gruppe und redete auf die Männer ein. Anna verließ das Zimmer, passierte das Wohnzimmer, bog rechts ab und ging den Flur entlang, wo sie das Gästezimmer wusste. Sie wollte gerade den metallenen Knauf drehen, da fiel ihr am Ende des Gangs etwas auf.
Opas Arbeitszimmer. Die Tür stand leicht offen.
Hier ist für euch Betreten verboten, dass das klar ist!, erinnerte sie sich an Opas Ansage vor Jahren. Noch nie hatte sie gesehen wie es darin aussah, sich aber schon damals gefragt, warum ein Raum in einem solch langweiligen Haus verboten war.
Neugierig nahm sie die Hand vom Knauf und ging den Flur entlang auf das verbotene Zimmer zu. Sie sah über ihre Schulter. Niemand hinter ihr. Mit einer Hand schob sie die Holztür weiter auf. Das Licht des Flurs schnitt eine Schneise durchs Dunkel. Weinroter Teppich, die Wände gesäumt von Schränken mit Glasfenstern. Ihr gegenüber ein massiver Schreibtisch – kackbraun.
Ein Geräusch.
Ein Klopfen, hölzern, aus Richtung des Tisches.
»Hallo?«, fragte sie argwöhnisch in den menschenleeren Raum hinein.
Niemand antwortete. Anna legte den Lichtschalter um, eine Lampe an der Decke erhellte das Büro in sanften Gelb. Sie machte einen Schritt vorwärts und schloß die Tür hinter sich.
Anna fröstelte. Hier drin war es deutlich kühler als auf dem Flur.
»Hallo?«, fragte sie erneut, diesmal etwas lauter.
Ein kurzes helles Kichern, es kam definitiv vom Schreibtisch.
Langsam umrundete Anna den Tisch, ihr Blick fiel dabei durch die Glasfenster der Wandschränke. Schwarz-weisse Fotos in silbernen Rahmen, alle zeigten Männer in Uniform, auf vielen erkannte sie Opa, nur deutlich jünger. Neben einem der Bilder lag in einer Schachtel eine silberne Medaille.
Sie erreichte die Vorderseite des Tisches, ein Bürostuhl füllte die Lücke in der Mitte, auf der Tischplatte lagen akkurat zur Kante ausgerichtete Schreibutensilien.
Ratlos sah sie sich um. Was hatte sie gehört?
Der Stuhl machte einen Satz auf Anna zu, panisch sprang sie zurück.
Timmys Gesicht, im Dunkel unter dem Schreibtisch. Ihr kleiner Bruder lachte sie aus.
»Du Arschloch!«, schrie Anna, ihr Herz pochte heftig. »Komm´da raus du Zwerg!« Verärgert, dass der Knirps sie drangekriegt hatte, packte sie seinen Arm und zerrte daran. Er wehrte sich.
»Lass´mich los!«
»Halt die Fresse!«
»Aua Anna, du tust mir weh´!«
»Komm´da raus!« Sie zog mit kräftigen Ruck, ein dumpfer Knall, als Timmys Stirn gegen das Holz krachte. Er fing an zu flennen.
Anna ließ seinen Arm los, ihr Bruder kroch unter dem Tisch hervor und hielt sich den Kopf.
Kein Blut. Nichts passiert. Heulsuse.
»Das sag´ich Mama!«, krähte Timmy und rappelte sich neben ihr auf.
»Mach´ doch, geh petzen, kleines Baby!«
Aus dem Augenwinkel sah Anna etwas auf dem Teppich unter dem Schreibtisch glänzen, dort, wo Timmy sich soeben noch versteckt hielt.
Ein goldener Schlüssel.
Sie ging in die Hocke und hob ihn auf. Klein, kein Zimmerschlüssel, eher wie für einen Schrank oder eine Vitrine.
»Was ist das?«, fragte Timmy und hörte augenblicklich auf zu weinen.
»Wonach sieht´s denn aus, Idiot?«, höhnte Anna und untersuchte das Metall auf ihrer Handfläche genauer.
»Wofür ist der?«, fragte Timmy.
»Woher soll´ich das wissen?, murmelte Anna, hatte sich jedoch in Gedanken soeben die selbe Frage gestellt. Den Schlüssel in der Hand, sah sie sich um. Der Schreibtisch hatte eine lange Schublade mit einem klitzekleinen Schloss, direkt unter der Platte. Anna startete einen Versuch. Kein Erfolg. Zu groß. Ihr Blick fiel auf die vier Schubladen, an der rechten Seite des Tisches. Nacheinander probierte sie die Schlösser aus, Timmy stand neben ihr, rieb sich die Stirn. Bei der untersten Schublade passte der Schlüssel.
»Hah!«, triumphierte Anna, drehte ihn herum und zog das Schubfach auf.
Vor ihr lag eine hölzerne Schatulle, glänzend poliert, von der Größe eines flachen Schuhkartons.
»Jackpot«, flüsterte Anna und hob die Box aus der Schublade auf die Schreibtischplatte. Ihr Gewicht überraschte Anna, das Kästchen war schwer. Timmy machte große Augen.
Behutsam klappte sie den Deckel auf, zwei kleine Scharniere an den Seiten hielten ihn an Ort und Stelle. Vor ihr lag ein Schatz. Eingeschlagen in schwarzen Samt sah sie einige Goldmünzen, ein paar uralte Fotografien, ein längliches Ledertui, aus dem ein Griff herausragte, sowie ein weiteres Kästchen aus Holz.
»Boah, ist das Gold?«, fragte Timmy.
Anna antwortete nicht. Sie war zu fasziniert von ihrem Fund, vorsichtig nahm sie die beiden Fotos unter den Goldmünzen hervor, um sie sich genauer anzuschauen. Die schwarz-weissen Bilder hatten einen wellenförmigen Rand. Auf dem ersten erkannte sie Opa, er und ein anderer Mann trugen Soldatenuniform, zwischen ihnen stand ein Mädchen mit blonden Zöpfen in Annas Alter. Beide Männer lächelten in die Kamera. Das Mädchen lächelte nicht.
Anna drehte das Foto um.
In verblasster Tinte stand dort: Hava Birnbaum, 1943.
Das andere Foto zeigte eine Gruppe gleichaltriger Kinder, eingerahmt von weiteren Soldaten. Auch auf diesem fand sie Opa. Er stand am Rand der Versammlung und hatte seine Hand auf die Schulter eines der Mädchen gelegt. Blonde Zöpfe. Das selbe Mädchen. Auf der Rückseite der Fotografie las Anna: Forschungsgruppe 2B, Natzweiler, 1943.
Langweilig. Anna legte die Fotos zur Seite und entnahm der Kiste das hölzerne Kästchen.
Die Lampe an der Zimmerdecke flackerte kurz auf.
Timmy zupfte an ihrem Kleid. »Anna, ich hab Angst. Komm´wir gehen zurück«, flüsterte er. Doch Anna hörte ihn kaum, sie hatte nur noch Augen für das Kästchen mit dem seltsamen Stern auf dem Deckel. Es fühlte sich warm an, als hätte es für eine Weile auf der Heizung gelegen. Anna suchte nach einer Möglichkeit es zu öffnen, drehte es hin und her, hielt es schließlich ganz dicht vor ihr Gesicht. Da waren zwei winzig kleine Vertiefungen auf den Seiten, wenn sie vielleicht mit ihren Fingernägeln gleichzeitig ...
Klack.
Schwärze.
Sie öffnet die Augen.
Ein Tisch. Ein Kasten. Ein Messer.
Sie fasst den Griff, zieht die Klinge aus der Scheide.
Kein Messer, ein Dolch. Schmal und scharf.
Das schreckliche Kreuz, genau in der Mitte.
Neben ihr ein blonder Junge, der Deutsch spricht. Sie wendet sich ihm zu. Eine schnelle Bewegung aus dem Handgelenk zerschlitzt seine Kehle. Ein Blutstrahl spritzt ihr entgegen, doch sie dreht sich gewandt zur Seite. Der Junge guckt sie aus großen Augen an, während es rot zwischen den Fingern an seinem Hals hervorströmt. Der kleine Junge stirbt.
Sie verlässt das Zimmer und geht den Gang entlang. Stimmen dringen an ihr Ohr. Den Dolch hält sie hinter ihrem Rücken versteckt.
Ein Raum voller Erwachsener, alle sprechen Deutsch. Ein gedeckter Tisch. Eine Feier. Ein Mann im schwarzen Anzug kommt auf sie zu.
»Spatz, hast Du die Decke nicht gefunden?«
Sie sieht ihn an.
»Alles in Ordnung?«, fragt er; und geht vor ihr in die Hocke.
Eine fließende Bewegung ihrer rechten Hand, sie rammt ihm die Klinge in den Unterkiefer durch die Mundhöhle, direkt bis ins Stammhirn. Er ist sofort tot.
Sie rupft den Dolch aus seinem Kopf und macht zwei Schritte weiter in den Raum hinein. Hinter sich hört sie eine besorgte Frauenstimme.
»Karl? ... Karl!«
Köpfe drehen sich herum.
Ein lauter Schrei, dann noch einer.
Chaos bricht aus.
Eine fette Deutsche neben ihr. Schwarzes Kleid, schwarze Schuhe, hohe Hacken.
Ein einziger Hieb zerfetzt die Achillessehnen, die Fette schreit auf und fällt krachend ins Buffet, Sauerkraut fliegt durch die Luft.
Die Deutschen fangen an, panisch durcheinander zu laufen. Ein rotgesichtiger Fettsack stapft auf sie zu, bereit zum Angriff. Ein torkelnder Schwinger mit dem rechten Arm, zu besoffen, zu träge. Sie duckt sich unter dem Schlag hinweg und stößt das Messer bis zum Anschlag in die weiche Stelle unter der Achselhöhle. Noch während er fällt, reißt sie es raus. Noch mehr Blut. Er liegt am Boden, windet sich. Jetzt sitzt sie rittlings auf ihm.
Beschissener Nazi.
Eins, zwei, drei, vier. Seine Brust eine zerstochene Masse, die deutsche Flagge neu verfärbt.
Rot. Rot. Rot.
Eine Hand packt sie von hinten am Hals. Ein rascher Hieb der scharfen Klinge, vier Finger purzeln wie Mini-Wiener hinab auf die Leiche des Fettsacks. Lauwarmes Naziblut spritzt aus den Fingerstümpfen auf ihre Wange und in ihren Mund. Ein gellender Schrei.
Die Hand verschwindet.
Sie dreht sich um. Ein Anzugträger starrt auf seine verstümmelte Rechte, seine Glubschaugen quellen jetzt quasi aus ihren Höhlen. Sie rammt ihm den Dolch in den Schritt, reißt ihn hoch bis zum Bauchnabel. Warme Körpersäfte überfluten ihre Hände, sein Darm entleert sich hörbar, als der Alte stirbt.
Weitere Männer mit Deutschlandflaggen am Revers kreisen sie ein. In ihren Händen improvisierte Waffen, Buttermesser vom Buffet. Einer von ihnen zieht sogar eine Offizierspistole aus dem Hosenbund.
Ein feuchtes Schmatzen, als sie mit einem Ruck den Dolch aus Glubschauges Innereien befreit.
Der Schütze legt an.
Sie lächelt sardonisch.
Wie ein Dreidel des Todes wirbelt sie umher, sticht, schlitzt, stößt und schlachtet.
Irgendwann ist keiner mehr übrig, alle sind entweder tot oder geflohen. Alle, bis auf eine.
Sie steigt über Leichen hinweg, bahnt sich ihren Weg geradewegs zu auf die alte Frau, die in der Ecke des Zimmers in einem Sessel sitzt.
Erkenntnis glitzert in den Augen der Alten. »Hava?«
»Hallo Frau Hellstrom«, antwortet sie.
»Hava!« Die alte Frau fängt an zu weinen. »Ich wollte sie aufhalten, Hava, ich wollte…!« Ihre Stimme bricht.
»Ich weiß, Frau Hellstrom, ich weiß«, sagt sie, beugt sich vor und legt den Nazidolch in die zitternden Hände voll´ Altersflecken. Ihre blutverschmierten Finger umschließen die der Deutschen, für einen Moment verharren sie so.
Dann verlässt der Dibbuk das Haus, der von ihm besetzte Körper ist von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt.
Sie leckt sich die Lippen, kostet es, lauwarm in ihrem Mund.
Ihre Rache schmeckt fantastisch.