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Der leere Spiegel
DER LEERE SPIEGEL
Wie sehe ich aus? Ich sitze vor dem Spiegel, doch ich kann mich nicht sehen. Das Licht lässt sich durch meine körperliche Anwesenheit nicht aufhalten. Es fällt durch mich hindurch. Lange Zeit habe ich darüber gegrübelt, wie dies denn physikalisch möglich sei. Bisher ohne Ergebnis. Vielleicht gibt mir ja die unendliche Zeit, die ich noch vor mir habe, die Möglichkeit, dieses Geheimnis noch zu ergründen.
Es ist ein Abend wie jeder andere. Die Sonne ist dabei, am Horizont zu verschwinden, und ich bereite mich auf die Nacht vor. Ich kämme meine Haare. Obwohl ich meine Frisur nicht im Spiegel kontrollieren kann, habe ich eine gewisse Routine entwickelt, diese zu erfühlen. Ich habe aber dennoch keine Ahnung, ob sie gut aussieht. Im Grunde ist das auch gleichgültig.
Und trotzdem habe ich reges Interesse daran zu wissen, wie ich denn aussehe. Bin ich vom Verfall gezeichnet oder ist mir mein jugendliches Aussehen erhalten geblieben?
Fühlen kann ich mich und bin mir so meiner Körperlichkeit bewusst, auch wenn der Spiegel und die fehlenden Schatten diese vehement verleugnen. Auch kann ich mir meine Hände, meine Arme, meine Brust, meinen Bauch und meine Beine ansehen. Mein Gesicht allerdings bleibt im Dunkeln. Ich kenne keinen Weg, diese Dunkelheit zu durchbrechen.
Das, was ich von meinem Körper sehen kann, sieht noch recht jung und frisch aus. Auch in meinem Gesicht kann ich kaum Falten ertasten. Dennoch habe ich das Gefühl, auszusehen wie ein Monster. Vielleicht bin ich das ja auch.
Eigentlich müsste mein Körper schon seit Jahrhunderten ins Nichts zerfallen sein. Die Seele überlebt vielleicht für immer. Wer kann das schon wissen? Aber der Körper stirbt ab, ist er doch nicht für ein Leben in der Ewigkeit geschaffen. Normalerweise. Aber Normalität ist nichts, was man mit meiner Person in Verbindung bringen kann.
Langsam kriechen die Schatten durch die Ritzen des Rollladens. Die Nacht - mein Tag - beginnt. Ich verspüre wieder Verlangen. Verlangen nach Liebe und Wärme. Und Verlangen nach Nahrung. Nach Blut.
Ich habe schon seit Tagen nicht mehr gespeist und konnte heute vor Hunger kaum schlafen. Es ist leider wieder so weit. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als mein Verlangen zu stillen, sonst wird der Schmerz in meinen Gliedern noch unerträglicher.
Eigentlich sollte ich froh sein. Ich beschere anderen das, was mir selbst nicht vergönnt ist. Den Tod.
Die Nutten, Junkies und Bettler führen ein derart unmenschliches Leben. Wie kann der Tod da etwas anderes sein als Erlösung? Außerdem wird sie sowieso niemand vermissen. Das ist mir mittlerweile klar geworden. Daher habe ich mich auch damit abgefunden, gezwungen zu sein, anderen ihren Lebenssaft zu stehlen, um meine Schmerzen zu stillen.
Erlösung. Das ist es auch, was ich mir wünsche. Allerdings gibt es keinen Weg dorthin. Kein Weg, der mich wegführt von dieser irdischen Existenz.
Ich habe schon versucht, verschiedene Wege zu beschreiten. Die Sonne schmerzt mich, entstellt mich vielleicht sogar, aber sie tötet nicht. Auch der Verzicht von Blut hilft mir nicht weiter. Nach längerer Abstinenz verliert mein Geist die Kontrolle über meinen Körper, und dieser führt sein blutiges Handwerk wie von selbst aus.
In dem Bewusstsein, dass es unvermeidlich sein wird, mir wieder einmal ein Opfer zu suchen, stehe ich auf und verlasse das Hotel. Morgen werde ich mir eine neue Bleibe suchen müssen, aber bis dahin habe ich noch viel vor mir.
Ich schreite durch schwach beleuchtete, verdreckte Straßen und Gassen und lasse meinen Blick durch die Gegend streifen. Ich halte Ausschau nach einem Mahl, nach einem erlösenswürdigen Leben. Dunkle Ecken, leere Gesichter, verlorene Hoffnungen und Illusionslosigkeit begegnen mir während meiner Odyssee durch die nächtliche Stadt. Der Abschaum des Lebens, der Abfall einer gescheiterten Zivilisation.
Getrieben vom Verlangen eile ich voran. Es gibt nichts, was mich zum Verweilen an einem Ort einlädt. Nichts, was meinen Gang erleichtern könnte. Nur Trostlosigkeit, soweit ich sehen konnte. Über die Jahrzehnte hinweg habe ich jedoch eine gewisse Gleichgültigkeit dem gegenüber entwickelt. Ich kann alldem sowieso nicht entkommen. Nacht für Nacht werde ich Opfer dieses elendigen Anblicks. Macht es wirklich einen so großen Unterschied, wenn ich ein menschliches Wesen aus der Mitte dieser grausamen Unmenschlichkeit reiße?
Da erblicke ich auch schon ein wehrloses Opfer. Eine Frau steht allein in einer der verrotteten Straßen und bietet ihren Körper als Ware an. Und nichts anderes will ich schließlich. Ich spreche sie an und begebe mich mit ihr in eine der billigen Absteigen. Keiner hat uns gesehen.
Ich ficke sie, ehe ich ihr das Blut aussauge. Ich bringe alles schnell über die Bühne. Nichts besonderes. Routine. Nur eine weitere sündige Seele, die körperlos entschwebt.
Ich durchsuche ihre Tasche und finde ein wenig Geld. Es ist nicht viel, wird aber reichen, um mir für ein paar Tage ein billiges Hotel leisten zu können. Unbemerkt von allen verlasse ich die Absteige und mache mich wieder auf den Weg zu meinem derzeitigen Hotelzimmer.
Es ist eine kalte Nacht. Kälter als die Nächte zuvor. Ich verkrieche mich weiter in meinen Mantel, als ich durch die Straßen husche. Ich frage mich nach dem Sinn des ganzen. Im Moment ist mein Verlangen nach Blut gestillt, aber in einer Woche geht alles wieder von vorne los. Die Jagd nach Blut, die Vernichtung von Leben. Ist es das, was mein Leben ausmacht? Bin ich etwa nichts anderes als ein nur destruktives Geschöpf. Warum fällt es mir dann so schwer, mich selbst zu zerstören? Oder bin ich etwa schon zerstört?
Erste zarte Sonnenstrahlen erscheinen am Horizont und verbreiten einen Hauch von Wärme. Der Morgen bricht langsam an. Ich habe keine Ahnung, wie viele Stunden ich jetzt in Gedanken durch die Straßen geirrt bin, aber die Zeit hat wieder einmal nicht gereicht, um zur Erkenntnis zu gelangen. Vielleicht ist ja selbst die Ewigkeit zu wenig, um diese jemals zu erreichen.
Ich habe noch ein wenig Zeit, bevor die Sonnenstrahlen für mich schmerzhaft werden. Daher genieße ich deren Wärme und eile mich nicht. Zu dieser Zeit ist das Angesicht der Stadt fast erträglich.
Aus der Ferne höre ich undeutliche Rufe. Zögernd, aber dennoch meiner Neugierde folgend, gehe ich in die Richtung, aus der diese kommen. Mit jedem Schritt werden die Rufe deutlicher.
„Mami, Mami!“ ertönen die weinerlichen Rufe eines Mädchens. Ich bin unschlüssig, was ich tun soll. Schließlich entscheide ich mich aber, dieser anderen ruhelos suchenden Seele dieser nun endenden Nacht zu helfen. Ich gehe also weiter und halte Ausschau nach dem Mädchen.
Endlich kann ich das Mädchen in der Ferne erblicken, das so hilflos nach seiner Mutter ruft. Schemenhaft kann ich erkennen, dass es ein rotes Kleidchen trägt. Ich bewege mich jetzt schneller, und als es mich erblickt, hält es auch auf mich zu, bis wir letztendlich zusammentreffen.
„Was ist denn passiert?“ frage ich und schaue in das tränenbedeckte Gesicht des Mädchens.
„Meine Mami ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen,“ schluchzt es und betrachtet mich mit einer gewissen Neugierde durch ihre tränengefüllten Augen.
„Keine Sorge, da wird schon nichts passiert sein,“ versuche ich es zu trösten, obwohl eine böse Vermutung in mir aufsteigt. „Komm, ich werde dir helfen, nach ihr zu suchen.“
Ich setze mich in Bewegung, und das Mädchen nimmt meine Hand. Es scheint sich ein wenig beruhigt zu haben. Wortlos laufen wir nebeneinander her. Ich spüre die Wärme und Nähe des Mädchens und überlege, was ich ihm sagen könnte. Ich beschließe, ihm ein paar Fragen zu stellen, um meine Befürchtungen zu zerstreuen – oder zu erhärten.
„Wie sieht deine Mami eigentlich aus?“
„Meine Mami ist ganz groß und hat ganz lange Haare. Und ich hab sie lieb.“
„Was macht sie eigentlich so?“
„Meine Mami stellt Puppen her, so wie diese,“ antwortet mir das Mädchen und zeigt mir eine alte Stoff-Puppe. „Die ist auch von meiner Mami, und die hilft mir immer beim Einschlafen, wenn meine Mami abends zur Arbeit geht.“
„Wieso geht sie denn abends weg zur Arbeit?“
„Meine Mami sagt, dass es auf der Welt so viele kleine Mädchen gibt, die alle eine Puppe zum Liebhaben wollen, dass Tag und Nacht welche hergestellt werden müssen. Und meine Mami arbeitet eben nachts. Ach, bitte, hilf mir sie zu finden. Ich weiß doch nicht, was ich ohne sie machen soll.“
„Ja, das werde ich. Mach dir keine Sorgen.“ Allerdings mache ich mir jetzt ernsthafte Sorgen. Was habe ich nur getan?
Ohne mit dem Gespräch fortzufahren, laufen wir weiter.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Die anfängliche Wärme der Sonnenstrahlen werden langsam zu einer für mich unerträglichen Hitze. Widerwillig fasse ich einen Entschluss. Ich lasse die Hand des Mädchens los. „Hör mal zu, ich würde dir ja gerne weiter helfen, deine Mami zu suchen, aber ich habe leider keine Zeit mehr.“
Brennender Schweiß läuft mir übers Gesicht. Es kommt mir vor, als wäre ich kurz davor, in Flammen aufzugehen. Das Mädchen starrt mich erschrocken an. „Was ist mit dir los?“
Nervös antworte ich: „Ich habe einfach keine Zeit mehr, tut mir leid.“
„Nein, ich meine dein Gesicht, was stimmt mit dir nicht?“
„Keine Ahnung, was meinst du? Was ist mit meinem Gesicht? Was siehst du?“ Die Hitze hat nun Besitz von meinem ganzen Körper ergriffen. Ich halte das nicht mehr länger aus.
„Dein Gesicht...“ Das Mädchen weiß nicht, was es sagen soll, und überlegt kurz. Dann greift es in eine Tasche seines Kleides und bringt einen kleinen Puppenspiegel zum Vorschein. „Hier, schau selbst,“ meint es und streckt mir diesen entgegen.
Ich sehe nichts. Ich kann im Spiegel nichts sehen.
Die Schmerzen werden unerträglich.
„Ich kann nichts sehen!“ schreie ich und bin selbst erschrocken über meine Lautstärke. Das Mädchen lässt den Spiegel fallen und starrt mich noch einen Augenblick an, ehe es sich von mir abwendet und davonläuft.
Mit Mühe und Not erreiche ich mein Hotelzimmer. Draußen ist schon längst der Tag angebrochen, und meine Haut glüht vor Schmerzen. Ich setze mich vor den Spiegel und starre in dessen Leere. Leere – das ist es auch, was ich in meinem Innern fühle. Ich kann nicht glauben, was diese Nacht geschehen ist.
Schuldgefühle überkommen mich. Aber habe ich denn überhaupt eine Wahl gehabt? Hatte ich jemals in meinem Leben eine richtige Wahl? Ich weiß es nicht, aber mir ist zum Schreien zumute.
Meine Haut kühlt langsam ab. Was ist mir geschehen? Bin ich ein Monster? Ein Monster? Ich bin ein Monster. Das wird mir langsam bewusst. Ich versuche, diesen Gedanken zu verdrängen und falle langsam zurück in eine starre, kalte Lethargie.
Der Spiegel ist leer und wird es immer bleiben. Verdammt, wie sehe ich aus?
ENDE
© 2002 by Andreas Fecher