Der Lebenskünstler
Man riß das Haus nebenan vor kurzem ab. Meine Wohnung liegt aber genau zu dem Haus hin, das nun fort ist. Auch die Wand ist fort. Wie gut, daß es gerade Sommer ist.
Zuerst trennte mich eine dünne Membranwand von der Welt, doch dann ein fehlgeleiteter Stoß und Sonnenlicht überflutete mich am Frühstückstisch sitzend. Überrascht saß ich bewegungslos an meinem Küchentisch - mit der Kaffeetasse in der rechten Hand. Sie war gerade auf dem Weg zu meinem Munde - nun aber schwebte sie regungslos zwischen Mund und Tisch. Der Kaffee wurde langsam kalt und ich sah zu, wie die Butter durch das plötzlich hereinbrechende Sonnenlicht langsam dahinschmolz. Mein Brötchen blieb ungegessen auf seinem Teller liegen - nur eine am Rand zerfaserte Bißwunde zeugte davon, daß ich es eigentlich hatte essen wollen. Die Küchenuhr hatte ihr Ticken kurz unterbrochen, aber dann sofort beruhigt und taktvoll wie ehedem fortgesetzt.
Ich ließ meinen Blick in Richtung Wand, nun zur Nichtwand geworden, schweifen. Himmel und Häuserfassaden erblickte ich dort. Dann schaute ich auf meinen Küchenboden. Auch er war ein wenig angegriffen. Hie und da eine herausgebrochene Diele. Etwas ausgefranst, wie die Bißwunde in meinem Brötchen - nur hatte hier ein Riese hineingebissen. Das eine Bein meines Küchentisches hing in der Luft.
‘Was solls?’, dachte ich und löste meine Erstarrung auf, indem ich die Kaffeetasse endlich an meinen Mund führte. Doch der Kaffe war sehr kalt und schmeckte überhaupt nicht mehr, so daß ich mich ärgerte.
Unten auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge angesammelt und starrte zu mir hinauf. Einige der dort Stehenden diskutierten erregt, indem sie wild gestikulierend immer wieder mit den Armen in meine Richtung wiesen.
Es ist schon eine Sensation, eine Küche in der vierten Etage zu sehen, insbesondere, wenn ihr eine Wand fehlt und sie offen daliegt, wie in den Theaterstücken, in denen Szenen in einer Wohnung spielen. Das verstehe ich alles, aber trotzdem ist es lästig, beobachtet zu werden, wenn man das Frühstückessen nicht spielt, sondern wirklich in Ruhe zelebrieren will.
Ein paar der Menschen hatten Photoapparate geholt und knipsten mich gerade in dem Augenblick, als ich von meinem Brötchen abbiß. Ich verschluckte mich daraufhin gleich an einigen scharfkantigen Krümeln.
Die Neugierigen wurden mir also lästig.
Eine Kinderschar winkte lachend zu mir hinauf. Ich lächelte und winkte zurück, was natürlich sofort photographisch festgehalten wurde.
Ein dicker Mann im gerippten Unterhemd hatte nun sogar seinen Feldstecher von zu Hause geholt und beobachtete mich durch diesen. Laut rief er die beobachteten Details aus: „Jetzt hat er vom Brötchen abgebissen. Das Brötchen ist mit Käse belegt. Er hat sich anscheinend noch nicht rasiert. Er hat nur eine Unterhose an.“
Die Damen in der Menge schrien empört und fasziniert gleichzeitig bei letzterer Bemerkung auf. Eine Mutter bedeckte mit ihren Händen die Augen ihrer beiden Kinder und ließ eine Schimpftirade in meine Richtung los.
Nun verließ mich aber meine Geduld und ich stand auf. Mit Leibeskräften rief ich hinunter: „Meine Damen und Herren, lassen sie mich endlich in Ruhe. ich liebe es nicht besonders, bei meinem Frühstück gestört zu werden. Jeder in unserer Stadt hat ein Recht auf seine Intimsphäre. Also gehen sie nach Hause.“
Unzählige Augenpaare waren nun starr und erwartungsvoll auf mich gerichtet. Keine Bewegung, kein Laut. Alle erwarteten, daß ich noch etwas sage.
Leiser aber bestimmt sprach ich zur Menge: „Bitte, ich bitte Sie inständigst, gehen Sie nach Hause.“
Meine letzten Worte schienen Erfolg zu haben. Beschämt senkten sich die Blicke zu Boden. Die Menge zerstreute sich als wäre vordem nichts geschehen. Einige versuchten, die peinliche Situation zu überbrücken, indem sie langsam pfeifend die Straße entlang schlenderten und zu Boden blickten als suchten sie einen verlorengegangenen Gegenstand oder als sei das Plattenmuster auf diesem Bürgersteig besonders interessant. Die Mutter nahm ihre Kinder bei den Händen und zerrte sie mit sich fort. Die Kinder blickten zurück und winkten mir zum Abschied nochmals zu. ich aber reagierte nicht und blieb mit hinabhängenden Armen regungslos stehen. Dann waren endlich die Schaulustigen fort und ich konnte meinem Frühstück in Ruhe nachgehen.
Seit diesem Tag aber werde ich kaum noch belästigt und kann mein Leben fortführen wie ehedem. Die Menschen, welche täglich auf dem Weg zur Arbeit an meinem Haus vorbei müssen, werfen mir nur noch gelegentlich einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Aber auch diese Seitenblicke werden jeden Tag weniger. Man hat sich an mich gewöhnt.
Nur Sonntags tauchen ab und an ein paar Reisebusse auf. Aus diesen quellen dann schaulustige Touristen - mit Photoapparaten bewaffnet. Dann werde ich bei meiner morgendlichen Rasur oder bei meinem Mittagsschlaf beobachtet und dokumentarisch festgehalten.
Wieso bei meinem Mittagsschlaf? Ich vergaß zu erwähnen, daß mein Schlafzimmer direkt an die Küche anschließt. Auch dort ist bei dem Abriß die Wand abhanden gekommen.
Inzwischen habe ich mich aber an all diese Umstände gewöhnt. Manchmal kaufe ich mir sogar an dem Zeitungsstand vor meinem Haus einige Postkarten, auf denen ich schlafend, mich ankleidend, rasierend oder zähneputzend zu sehen bin. Man hat mich den „Lebenskünstler“ genannt, und ich bin in jedem Reiseführer unserer Stadt enthalten.
Das Einzige, das mich stört, ist das Laternenlicht, welches in mein Schlafzimmer fällt und mir oft schlaflose Nächte bereitet. Aber auch daran werde ich mich gewöhnen.
Rostock, den 18. August 1996
[ 19.07.2002, 20:48: Beitrag editiert von: nikto ]