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Der Lauf der Zeit
"Der Lauf der Zeit ist linear. Was einmal geschehen ist, kann man nicht mehr ändern."
Diese Worte seines Großvaters schwirrten Nick Rogers im Kopf herum, als er das Cockpit des Frachters betrat. Das auf den Namen "Daedalus" getaufte Raumfahrzeug flog mit nur halber Lichtgeschwindigkeit durch das All. Ein Frachter dieses Typs war nun einmal nicht schneller. Die Firma, für die Nick flog, hatte zwar auch neuere und vor allem schnellere Schiffe, aber es schien sein Los zu sein, Frachter vom Typ "Antares" zu fliegen.
Seine Pilotenlizenz hatte Nick in einem Antares-Klasse-Frachter gemacht. Danach hatte er spottbillig ein halb auseinanderfallendes Schiff desselben Typs gekauft und zwei Jahre lang für diverse Kunden Fracht durchs Sonnensystem transportiert. Bis zu jenem Zwischenfall, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Ein Kunde hatte anstatt des im Frachtbrief angegebenen Mehls Sprengstoff verladen lassen. Noch dazu hochexplosiven. Und bei einem kleinen Magnetsturm flog Nick das Schiff um die Ohren.
Er und seine beiden Crewmitglieder konnten sich zwar mit Mühe und Not retten. Was die Versicherung für den entstandenen Schaden zahlte, reichte allerdings vorne und hinten nicht. Und so kam er zu NextStar Transports und transportierte für die Firma Fracht mit einem - wie könnte es anders sein - Antares-Frachter.
Dieser hier war zwar um komfortable Quartiere erweitert worden, so dass die oft recht langen Touren ein wenig angenehmer wurden. Trotzdem schien es, wie bei allen Frachtern dieses Typs, als wolle der Raumer jeden Augenblick auseinanderfallen.
"Morgen, Nick!" Sein langjähriger Freund und Ingenieur Fox Evans betrat die Kommandokanzel. In den Händen hielt er zwei Becher Kaffee.
"Morgen, Fox. Den kann ich jetzt gebrauchen", sagte Nick und nahm einen Becher entgegen. "Gut geschlafen?"
"Geschlafen? Machst du Witze?", entgegnete Fox. "Bei dem Lärm, den dieser Kahn verursacht, würden sogar Tote wieder aufwachen."
Nick nahm einen Schluck Kaffee und zuckte mit den Schultern. Dann warf er einen Blick auf die Anzeigen, die aber nichts ungewöhliches meldeten. Wobei Nick ja ständig mit irgendeinem Systemausfall rechnete. Die Daedalus hatte schließlich schon seit zehn Jahren keine Generalüberholung mehr mitgemacht. Offenbar hielt die Firma das für reine Verschwendung, da das Schiff so oder so in absehbarer Zeit seinen Geist aufgeben würde.
Nick wandte sich wieder an Fox: "Was glaubst du; geht uns die Diplomatentante heute wieder so auf den Wecker?"
"Die kann doch gar nichts anderes", antwortete Fox Evans.
"Das hat die Diplomatentante aber gehört!", erklang die Stimme von Botschafterin Megan Chapel aus dem hinteren Teil des Cockpits.
Fox und Nick grienten sich blöde an, wie zwei Schuljungen, die man bei einem Streich erwischt hatte. "Guten Morgen Botschafterin!", sagten beide übertrieben freundlich.
Doktor Bunner, der auch schon lange Jahre mit Nick zusammenarbeitete, kam mit einem "Guten Morgen, allerseits!" hinzu. Damit war die Besatzung komplett.
"Wie sieht der heutige Tagesablauf aus?", wollte Botschafterin Chapel, die nun auch einen Becher Kaffee in der Hand hielt, wissen.
"Bis auf die Tatsache, dass wir am Abend unser Ziel erreichen, so wie gestern und vorgestern..."
"Danke für die präzise Auskunft, Mr. Rogers", erwiderte die Botschafterin und nahm einen Schluck von dem heißen Getränk. "Ich werde dann meine Koffer packen."
"Tun Sie sich keinen Zwang an", sagte Fox Evans salopp und drehte sich zu den Statusanzeigen der Maschinen um.
Gereizt kippte die Botschafterin den Rest des Kaffees in den Recycler und verließ den Kommandobereich. Doktor Bunner zuckte nur mit den Schultern. Die Botschafterin war auch schon des öfteren Gast an Bord gewesen, weshalb jeder mit ihren Marotten vertraut war. Der Doktor setzte sich in den noch freien Sessel und ließ seinen Blick über die verschiedenen Kontrollanzeigen schweifen. Er war zwar kein Fachmann, was das Fliegen eines Raumschiffs betraf, aber im Laufe der Jahre hatte er schon einiges mitbekommen. Und deshalb konnte er erkennen, wenn etwas nicht in Ordnung war.
Aus diesem Grund erregte eine Anzeige seine Aufmerksamkeit. Er betrachtete sie etwas genauer, um festzustellen, was los war. Offenbar handelte es sich um eine Art Raumanomalie. "Nick, können Sie hiermit etwas anfangen?"
"Lassen Sie mal sehen, Doc", murmelte Nick und wandte sich der Anzeige zu. Da war irgendwas faul im All. Das Problem war aber, dass die veralteten Sensoren nichts genaueres feststellen konnten. Er donnerte mit der Faust auf die Konsole. "Warum hat dieser Kahn keine bessere Ausrüstung? Es könnte sonstwas auf uns zukommen und wir würden es erst merken, wenn es zu spät ist."
Er wandte sich den Navigations- und Flugkontrollen zu, um die Geschwindigkeit zu drosseln. Sicher ist sicher. Nach wenigen Sekunden begann das Schiff zu vibrieren - erst kaum spürbar, aber einige Augenblicke später so stark, dass ein Becher mit Kaffee auf den Boden klatschte. Nick versteifte sich in seinem Pilotensessel und betrachtete angespannt den Bildschirm. Außer den Sternen war darauf jedoch nichts zu sehen.
***
Vorsichtig trippelte Nick durch den Korridor bis zur Treppe. Unten war das Wohnzimmer, wo seine Eltern und der Weihnachtsmann sein sollten. Nick überlegte aber, ob es den Weihnachtsmann wirklich gab. Im Kindergarten hatte ihm Fox erzählt, dass das nur eine Erfindung der Großen war. Er hoffte, dass Fox ihm etwas Falsches gesagt hatte.
Nick stieg die letzte Stufe herunter und schlich vorsichtig weiter. Er kam an der Wohnzimmertür an.
Das gibt es doch nicht!, schoss es Nick durch den Kopf. Wieso bin ich zu Hause? Und wieso bin ich sechs Jahre alt? Ich bin doch... Ich war doch auf der Daedalus. Und dann kam eine Anonmalie auf...
Nick überlegte, ob er wirklich durch das Schlüsselloch schauen sollte. Er konnte Licht hindurchscheinen sehen. Das hieß, dass seine Eltern es nicht zugehängt hatten. Nick hatte sich immer gefragt, warum er an Weihnachten nicht durch das Schlüsselloch gucken konnte. Dann hatte er die Idee gehabt, dass Mami und Papi vielleicht etwas davor gehängt hatten.
Was soll das Ganze? Ich weiß doch, was da drinnen los ist.
Nick betrachtete angespannt den Bildschirm. Außer den Sternen war darauf jedoch nichts zu sehen.
***
"Nun, Mr. Rogers, Sie kennen nicht zufällig die Antwort, oder?"
Der Lehrer des Pilotenkurses, John Hank Smith, ging vor dem großen Wanddisplay, das eine altmodische Tafel ersetzte, auf und ab. Dabei schaute er mit seinem üblichen herablassenden Blick auf Nick herab.
Was... Ich... Wie zur Hölle komme ich hier her? Nick blinzelte verwirrt und sah schon den Triumph in Smiths Augen. Dann erinnerte er sich an das, was vor zehn Jahren wirklich passiert war. Er hatte keine Antwort geben können, weil er die Frage nicht mitbekommen hatte. Wofür es einen einfachen Grund gab: Ellis Lear, die in der Reihe vor ihm saß.
Aber Nick erinnerte sich an die Antwort, die der Klassenprimus an seiner Stelle gegeben hatte. "Äh, öh... Ich denke... Sie meinen die überlichtschnelle Datenübertragung", stammelte er immer noch verwirrt.
Smith machte Anstalten, überrascht eine Braue zu wölben, konnte sich aber wohl doch beherrschen. Offenbar hatte er keinen Moment damit gerechnet, dass Nick eine Antwort auf seine Frage geben würde, geschweige denn, dass es die richtige sein würde.
"Sehr schön", dozierte Smith weiter und setzte seine Wanderung vor der Klasse fort, "ohne die überlichtschnelle Datenübertragung wäre ein effizientes Steuern..."
Nick hörte bereits nicht mehr zu. Zu seltsam war das alles. Er entsann sich, dass Smith ihn ständig im Auge behielt - in den Augen des Lehrers würde Nick nie ein guter Pilot werden, zu unaufmerksam war er. Um so überraschter war der Lehrer natürlich, dass Nick tatsächlich einmal eine richtige Antwort hatte geben können.
Was, wenn diese Anomalie, die wir geortet haben, eine Art Raum-Zeit-Verzerrung ist? Habe ich die Chance, bereits Geschehenes zu verändern? Nick grübelte über seine Situation.
Er sah sich selbst, wie er im Pilotensessel angespannt den Bildschirm betrachtete, auf dem außer den Sternen nichts zu sehen war.
***
Der monatliche Umsatzbericht traf eben aus der Buchhaltung ein. Ihm zufolge waren die Einnahmen um weitere 1,6 Prozent angewachsen. Wenn das so weiter ging, würde sich NextStar Transports warm anziehen müssen. Nicks Firma schickte sich an, das Quasi-Monopol endgültig zu Fall zu bringen. Kein Wunder: Er bot viel günstigere Preise, verwendete zwar nur wenige, aber dafür hochmoderne Frachter und das kam bei den Kunden gut an. Immer mehr wechselten von NextStar zu ihm.
Wenn nächsten Monat noch einmal ein Zuwachs von 1,6 Prozent bei den Einnahmen zu verzeichnen war, konnte Nick sich eine Daueranzeige im "Daily Star" sowie einen weiteren Frachter leisten. Er musste unwillkürlich schmunzeln, als er sich die langen Gesichter bei NextStar vorstellte. Die Firma hatte schon zweimal versucht, Nicks kleines Unternehmen aufzukaufen. Beide Male war die Übernahme vor dem Kartellamt gescheitert.
Was zum Henker ist jetzt wieder los? Nick schaute schaute auf das Datum des Umsatzberichts. Er war wieder in der Gegenwart. Aber wieso befand er sich nicht im Cockpit seines Frachters, dort, wo er hingehörte?
Es klopfte an der Bürotür, als Nick dämmerte, was geschehen war. "Herein", rief er und sah auf.
Grinsend betrat Fox Evans das Büro: "Hast du schon die Zahlen gesehen? Die von NextStar werden sich schwarz ärgern..."
"Was soll das Ganze? Ich meine, ich will wieder in mein Cockpit!", flehte Nick seinen Freund an.
"Was redest du da, Nick?", fragte Fox besorgt und trat näher an den Schreibtisch heran.
"Was soll ich hinter einem Schreibtisch? Ich will kein Geld zählen, ich will einen Frachter fliegen! Ich will da raus ins All!" Nick war aus seinem Chefsessel aufgesprungen und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum; deutete schließlich aus dem Fenster gen Himmel.
"Wieso, Nick?", Fox schaute ihn noch besorgter an. Er griff nach Nicks Armen und versuchte, seinen Freund zu beruhigen. "Du warst Bester bei der Pilotenprüfung. Gleich danach hast du einen Frachter gekauft und deine eigene Transportfirma aufgemacht. Du hast dir deinen Traum erfüllt!"
"Mein Traum war es, zu fliegen! Zu den Sternen!", jammerte Nick mit abwesendem Blick. "Ich will wieder auf mein Schiff! Auf die Daedalus! Fracht trans..."
"Nick!", schrie Fox ihn förmlich an. "Ich dachte, du wolltest dieses Leben? War es denn je anders?"
"Ja! Das hier ist nicht mein Leben", schniefte Nick und sank in den Sessel zurück; kaum mehr als ein Häufchen Elend. "Und du bist nicht der Fox Evans, den ich kenne!" Nick schüttelte den Kopf. Er hatte tatsächlich den Lauf der Zeit geändert. Doch zu welchem Preis? Nie hätte er ein Leben hinter dem Schreibtisch einem Leben im Cockpit eines Frachters vorziehen mögen.
"Ich will zurück!"
Fox Evans verließ hastig das Büro, so, als hätte er den Teufel höchstpersönlich gesehen und wollte nun jemand holen, um ihn zu bekämpfen.
Mit von Tränen der Verzweiflung verschwommenem Blick erahnte Nick den Bildschirm, auf dem außer den Sternen nichts zu sehen war.
Copyright © 1998, 2002 by Matthias Kahlow. Alle Rechte vorbehalten.
Die in diesem Text auftauchenden Figuren sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits gestorbenen Personen ist daher rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.