Der lange Weg nach Hause
Feucht und schwer bedeckte die kalte Luft die Landschaft, fast ein wenig bleiern. Einzelne alte Bäume stemmten sich gegen sie, blattlos.
So kahl der Himmel war, so wolkenlos, so grau, so trist, so schwer und feucht, so grün und saftig erschienen die vom morgendlichen Tau geschwängerten Wiesen. Und hätte die Sonne geschienen, dann würden sie sicherlich gefunkelt haben, als wäre von weit oben ein riesiger Korb voller klarer, kleiner Edelsteine fallen gelassen worden.
Leicht wellig war die Landschaft, sanft hügelte sie sich auf, und atmete man tief ein, die Augen geschlossen, dann ließ einen die kalte feuchte Luft vor Wohlgefühl und morgendlicher Frische ein wenig erschaudern.
Nach all den Jahren, welch unbeschreibliches Gefühl, war er wieder zu Hause. Dies war der Ort seiner Kindheit, seiner Jugend, ganz einfach: seines besten Stückes Lebens.
Er würde dem kaum karrenbreiten sandigen Pfad weiter folgten, dessen Mitte, wo keine Räderrinnen, mit Unkraut und runden, bunten Kieselsteinen übersät war. Noch ein paar glückliche Minuten weiter wandern. Dann würde er sein Heimatdorf erreicht haben, das Zentrum dieses vergangenen Glücks. Und er würde erleben, wie es langsam heller würde, am Himmel weniger Grau, mehr Blau, die Luft nicht mehr ganz so feucht und kalt, nicht mehr schwer, nein, ganz leicht, so als wäre sie kaum noch da, dann wäre er bereits im elterlichen Hof und
Er spürt sofort, dass etwas nicht mehr stimmt. Der Himmel ist weg, plötzlich, die Wiesen nicht mehr grün, plötzlich, die Luft wird bleischwer, es drängt ihm den Atem aus der Lunge, wie Wasser, trübes Wasser, plötzlich wird diese ganze wundervolle Heimat im Innersten zerrissen, es ist schrecklich. Der nasse Sand des schmalen Weges knirscht unter seinen jungen Füßen, als er zurückweicht. Vor ihm spielt sich Unglaubliches ab: die Welt zerreißt tatsächlich, in grauenhafter Geschwindigkeit, auf widerliche Weise. Himmel, Bäume, Wiesen, Hügel, nass, kalt, glücklich, alles wird zusammengeschleudert, zehrt zusammen, krallt ineinander und
„Guten Morgen, Herr Meyer“, zwitschert der vor ihm. Im Gegensatz zu ihm steht er und sein Kittel trägt, das kann er durch die trüben Augen erkennen, die selbe weiße Farbe, wie sie die Risse trugen... welche Risse?
Der Arzt bemerkt den geistesabwesenden Blick im faltigen Gesicht des neunzigjährigen Patienten vor ihm. Eine ganze Batterie von medizinischen Geräten, elektronischen Anzeigen, Kabeln und Schläuchen rahmt ihn ein. Er führt diesen Blick auf das Morphium zurück und darauf, dass er erst vor fünf Stunden, glücklicherweise, reanimiert werden konnte, spult noch einige Nettigkeiten für den alten Herrn ab, wünscht einen ruhigen Schlaf und geht.
Der Alte versinkt in traumlosen Schlaf. Er fühlt sich so müde, spürt kaum noch seinen Körper. Das ist gut so, das macht das Morphium.
Leise schließt die Krankenschwester die weiße Tür hinter sich, nachdem sie mit dem Oberarzt sein Zimmer verlassen hat. Herr Meyer ist schon lange hier, und irgendwie tut ihr der eingefallene alte Herr leid, der kaum noch zwei Worte sinnvoll aneinander reihen kann und dessen müde Augen durch seine Besucher hindurch blicken. Sie verdrängt diese Gedanken. Man darf sie nicht zu sehr zulassen, sonst macht es einen fertig.
Sie folgt dem eifrigen Oberarzt zur nächsten Tür, ins Zimmer des nächsten Patienten.
Die Tür zum Zimmer Herrn Meyers jedoch wird sich wenig später erneut öffnen. Seine engste Familie wird ihn sehen wollen. Die Gänge ins Krankenhaus sind bei den meisten von ihnen über die letzten Monate hinweg spärlicher geworden, doch die telefonische Nachricht über den erneuten Herzstillstand ihres Vaters, Stiefvaters, Großvaters, Onkels hat noch einmal die Handvoll treuer Besucher zusammenfinden lassen.
Wortlos stehen sie umher, starren irgendwohin, durch den nutzlosen Körper des alten Mannes hindurch, auf die Anzeigen der Geräte, die ihn ersetzten. Er schläft, es sieht fast friedlich aus.
Das ist gut so, das macht das Morphium.
Sein Enkel, heute schon einen ganzen Kopf größer als Herr Meyer selbst, ein stämmiger, kräftiger Bursche wie er es in verlorenen Zeiten gewesen, muss heutzutage nicht mehr Feldgrau tragen. Stattdessen knirscht seine Lederjacke ganz leise, so leise, dass es im monotonen Japsen des Beatmungsgeräts untergeht, während er mit verschlossenem Gesicht eine mitgebrachte Vase mit frischen Blumen auf das Tischchen gegenüber Herrn Meyers Fußende stellt. Seine Mutter schlüpft aus dem Raum, um die alten, fast vertrockneten von letzter Woche wegzuschmeißen.
Nach ein paar schweigsamen Minuten lässt ein durchdringendes, lautes Piepgeräusch die gedankenversunkenen Besucher zusammenfahren. Einige der elektronischen Anzeigen an Herrn Meyers Kopfende verändern sich, einige der medizinischen Geräte schlagen Alarm. Einzig das Japsen des Beatmungsgerätes setzt sich trotzig fort, doch nun wird es übertönt vom grellen Piepen. Alle bis auf Herrn Meyer hören und stehen verschreckt und ratlos umher. Er selber stirbt, und merkt es nicht. Er träumt. Das macht das Morphium.
Die Krankenschwester reißt die weiße Tür auf, scheucht und drängt verschreckten Sohn, Stieftochter, Enkel und Neffen heraus. Der Oberarzt eilt herbei, sein weißer Kittel flattert, er stößt hastig den blonden Enkel zur Seite, rast an ihm vorbei in Herrn Meyers Zimmer. Der Enkel flucht leise und zieht seine Lederjacke zurecht.
Feucht und schwer ist die kalte Luft. Ihre morgendliche Frische lässt Herrn Meyer erschaudern. Bald würde es heller werden. Tatsächlich geht schon die Sonne auf, direkt über seinem Heimatdorf. Der nasse Sand des schmalen Weges knirscht unter seinen Füßen. Er achtet nicht auf das Unkraut oder die bunten, runden Kiesel. Er folgt dem hellen Schein der Sonne und geht nach Hause.
[ 29.04.2002, 11:46: Beitrag editiert von: Paranova ]