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Der lange Regen

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14.04.2002
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Der lange Regen

In trostlos klopfendem Rhythmus prasselt der Regen seit Tagen auf mein geschlossenes Dachflächenfenster. Meine Stimmung ist auf den Nullpunkt gesunken und die Internetrechnung wird wohl diesmal verdammt hoch werden. Tja, Langeweile muss man eben teuer bezahlen. Kennen Sie das?
Das Radio spielt leise im Hintergrund, es ist zum Einschlafen. Sicher liegt es nicht an der Musik. Zum zigsten Mal wird die Sendung unterbrochen, um weitere Berichte über die Katastrophen in den umliegenden Gebieten zu bringen. Die anschließende Wetterprognose lässt nichts Gutes verheißen. Ich arbeite weiter, diese Meldungen habe ich schon gehört, die gleichen, wirklich nichts Neues. Menschen flüchten aus ihren Häusern, andere wollen sie nicht verlassen, obwohl die Feuerwehr an die Vernunft appelliert. Vernunft! Wie kann man in so einer Situation vernünftig sein? Im Erdgeschoß ihrer Häuser steht das Wasser, Tische, Sessel, Bücher, Dokumente, alles, was einem einmal wichtig war, schwimmt an seiner Oberfläche. Fünf Minuten Musik und eine neue Meldung dringt an mein Ohr. Ich lausche auf. Gesprengte Dämme, die wieder geschlossen wurden, müssen erneut gesprengt werden, um eine weitere Katastrophe zu vermeiden. Eine weitere Katastrophe? Es ist eine einzige Katastrophe, die sich hier abspielt, müssen Sie wissen!
Ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren, gehe ins Wohnzimmer, um die Stimme des Radiosprechers besser verstehen zu können. Ein anderer Staudamm droht zu bersten. Das wird eine Flutwelle zur Folge haben, die weite Teile des Landes unter Wasser setzen soll. In Wien wird die Donauinsel zwar überschwemmt werden, doch das Wasser wird nicht in die Stadt eindringen. Ich bin beruhigt. So weit weg und doch so nah. Wieder Musik.
Mein Hund muss raus. Ich will nicht, aber wenn ich warte, bis der Regen endlich aufhört, wird es wohl zu spät sein. Also schnappe ich den Regenschirm, schlüpfe in die Gummistiefel und wage mich in eine Mauer unaufhörlichen Niederschlags. Die arme Cassie schnuppert an jedem Grasbüschel, kann jedoch keinen Duft finden, der ihn zum Verrichten seiner Notdurft verlockt und sieht mich vorwurfsvoll an. Bäume und Sträucher beugen sich dem erdrückenden Regenwasser. Kleine Bäche rinnen zwischen meinen Stiefeln talwärts. Ich überlege, wie es hier wohl aussehen würde, wäre der Berg, auf dem ich wohne kein Berg. Der Wind treibt mir einen Schwall Wasser ins Gesicht. Ich dränge Cassie, sich doch zu beeilen. Aber meine Na-mach-schön-Lacki-Worte können ihn auch nicht dazu überreden, also gehen wir wieder ins Warme, Trockene.
Im Wohnzimmer tönt die Stimme eines Mädchens an mein Ohr, das sich via Radio für ihre Rettung aus dem überschwemmten Haus bedankt. Menschen helfen sich gegenseitig, ein Spendenkonto wurde angelegt. Drei Feuerwehrmänner sind ums Leben gekommen. Die drohende Flutwelle hat zugeschlagen. Die Donauinsel ist überflutet, doch die Kaimauern am Rande der Stadt haben standgehalten. Wie lange noch?, zweifelt man im Radio. Musik wird eingeschalten.
Durch meine Socke dringt warmes Nass. Nein, blöder Hund! „Blöder Hund!“, schreie ich ihn an. Er sieht mich verzweifelt an und ich kann ihm seine Untat nicht mehr übel nehmen. Wäre mein Klo überschwemmt, müsste ich mir auch etwas anderes überlegen. Ich wische auf, wasche meine Füße und setze mich in frischen Socken wieder an den Computer.
Die Nachrichten haben sich auf die Hochwasserkatastrophe komprimiert, sich aber an Dauer aufs Doppelte expandiert. Kein Ende des Regens in Sicht nach Tag sechs der Katastrophe.
Unweigerlich muss ich an die Bibel denken. Noch 34 Tage und die Strafe Gottes wiederholt sich zum zweiten Mal. Blödsinn, oder!
Was werde ich heute Abend kochen?, frage ich mich. Suppe? Igitt, alles, nur nichts Flüssiges! Schnitzel, trockene Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat...., nein, doch lieber Bratkartoffeln.
Der verregnete Nachmittag weicht einem verregneten Abend. Das Radio habe ich schon lange abgestellt, ich kann es nicht mehr hören. Ja, es ist schlimm, glauben Sie mir, aber als ich die hundertste Meldung gehört habe, stellte ich erschrocken fest, dass es mich kaum mehr frustrierte. Sie finden das noch schlimmer? Ich auch.
Der Fernseher flimmert. Es hat einige Zeit gedauert, einen Kanal zu finde, der nicht über das Hochwasser berichtet. Obwohl es eigentlich egal ist. Denn meine Augenlider passen sich dem ermüdenden Wetter an und schließen sich langsam aber sicher. Schnitzelgeruch liegt in der Luft. Der Regen prasselt unaufhörlich an mein Fenster.
Die unheimlich Stille rings um mich, vom Geräusch des Regens abgesehen, lässt mich aufhorchen. Eine interessante Tatsache, dieser Reflex. Kennen Sie das Gefühl, wenn sich Ihre Ohren spitzen wie die eines Hundes? Ja, auch der Hund muss etwas gehört haben. Erst jetzt fällt mir auf, dass es stockdunkel ist. Draußen und in meinem Wohnzimmer. Der Fernseher hat wohl den Geist aufgegeben, wie schon am Nachmittag der Computer. Vorsichtig tappe ich mich Richtung Lichtschalter vor. Cassie schreit quietschend unter meinem Fuß auf. Fast bleibt mein Herz stehen. Entschuldigend bücke ich mich zu ihr und streichle ihre wehe Pfote. Meine Nichts-passiert-Frauchen-machts-wieder-gut-Worte scheinen sie zu beruhigen. Weiter Richtung Lichtschalter tappend trete ich wieder in eine nasse Stelle. „Blöder Hund!“ Fluchend humple ich zum Schalter, um die neuerliche Untat zu begutachten. Diesmal sehe ich nicht den verzweifelten Ausdruck seiner Augen, denn ... es bleibt dunkel. „Mist, verdammter!“
Es klopft an der Türe. Wie spät ist es wohl? Ich betätige die Lichtfunktion meiner Armbanduhr. 2:36 kann ich lesen. Wieder klopft es, energischer als zuvor. Wer mag das wohl sein? Der Hund bellt und rast zur Eingangstüre. „Ruhig!“, herrsche ich ihn an und folge ihm. Leise schiebe ich die Abdeckung des Spions zur Seite und drehe die Außenbeleuchtung auf. So ein Mist! Der Strom ist ja aus!
„Ja, bitte?“, frage ich mit zitternder Stimme, wage kaum zu atmen, um verstehen zu können, wer mich mitten in der Nacht bei strömendem Regen herausläutet. Ist Ihnen so etwas auch schon einmal passiert? Da muss sich wohl einer einen Scherz erlaubt haben. Aber hier, in dieser Einöde?
„Mach auf, ich bin es!“, ruft eine Stimme. Ich bin zu verschlafen, um sie zu erkennen. „Wer bitte ist Ich?“, frage ich, um sicher zu gehen, keinem Einbrecher in die Arme zu laufen. Wer weiß? Sicher ist sicher.
Der Hund bellt wieder und ich spüre seinen Schwanz gegen meine Knie schlagen. Ja, wie gut, dass es Cassie gibt, wenn es schon kein Licht gibt. Sie muss die Stimme wohl erkannt haben. Also öffne ich die Türe und traue meinen Augen kaum. Eine Traube von Menschen steht vor meinem Haus, teils mit Regenschirmen, teils ohne. Das Wasser rinnt in Strömen an ihnen herab. Mir schwant Schlimmes.
„Das Dorf steht unter Wasser. Hast du die Sirene nicht gehört?“ Ich schüttle verdattert den Kopf. „Wir können nicht in unseren Häusern bleiben und weil du hier vom Hochwasser verschont bist...“ Ich öffne die Türe weiter und lasse die Leute herein. Die Untat von Cassie fällt unter den vielen Wasserlacken nicht mehr auf. Es dauert eine gute Stunde, bis ich alle so gut es geht mit Decken und Pölstern ausgestattet habe, jeder einen Schlafplatz ergattert und auch ich endlich zu Bett gehe. Was für eine Nacht! Und ich dachte, hier kann uns nichts passieren.
Noch im Halbschlaf höre ich, wie leise Radiomeldungen über die Opfer der Hochwasserkatastrophe berichten. Irgendjemand muss ein batteriebetriebenes Radio mitgebracht haben.
Erschrocken fahre ich hoch, lausche in die Stille meiner Wohnung. Der Regen hat aufgehört. Der Hund schläft seelenruhig am Fußende meines Bettes. Dämmrig fahles Licht erhellt mein Fenster. Erleichtert wische ich mir die Haare aus dem Gesicht. Nur ein Traum. Gott sei Dank, alles nur ein Traum! Mein Mund ist wie ausgedörrt. War das Schnitzel zu sehr gesalzen? Der Durst treibt mich aus den Federn, also rutsche ich an die Bettkante und suche mit meinen Zehenspitzen nach den Hausschuhen.
„Autsch!“, klingt es vom Fußboden hoch und der blonde Schopf eines Kindes hebt sich mir entgegen. „Ja, Mausezähnchen, was machst du denn da?“ Dass mein Sohn in der Nacht zu mir ausgewandert ist, war nun schon lange nicht mehr vorgekommen. „Komm, ich bring dich wieder in dein Bett zurück.“
Mario wischt sich über die Augen und gähnt. „Nein, Mami, da liegen doch schon so viele!“

 
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Hm... Wenn man die Geschichte ganz neutral und "objektiv" liest, also, so ganz ohne Realitätsbezug und aktueller Umstände - und das versuche ich jetzt mal, bleibt nichts anderes übrig, als Inhalt und Form der Geschichte relativ nüchtern zu betrachten.
Insofern lässt mich die Geschichte im Grunde zufrieden zurück; ein Stil, der sich gut liest und vor allem eine vorhandene Aussage, wenn auch vielleicht nicht ganz so offensichtlich.
Im Prinzip lässt sich rein oberflächlich klarstellen, dass jemand, der sich zunächst über Langeweile beklagt, letztendlich vor Beschäftigung und Andrang kaum zur Ruhe kommt.
Nimmt man die Ausführung genauer unter die Lupe, so ist, darüber hinaus, dass der Andrang durch das von der Protagonistin gescheute Thema begründet wird; ein Verhaltensmuster zu erkennen, das eine gerechtfertigte Einwilligung kaum missen lässt.


Hendek

 

Lieber Hendek!

Das ist aber interessant! Ich habe absolut nicht mitgekriegt, dass jemand diese Geschichte noch entdeckt hat! Aber es freut mich natürlich - unverhofft kommt oft, sagt man.

"Im Prinzip lässt sich rein oberflächlich klarstellen, dass jemand, der sich zunächst über Langeweile beklagt, letztendlich vor Beschäftigung und Andrang kaum zur Ruhe kommt."

Eine Langeweile-Regengeschichte aus dem vergangenen Weltuntergangs-Stimmung-Sommer, in dem rund um uns viel passiert ist.

Danke fürs Lesen, du hast mir eine große Freude bereitet!

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara!

Erst mal vorweg: Deine Geschichte hat mir gut gefallen.

Allein mit dem zweiten Satz konnte ich mich sehr gut identifizieren :D; aber auch insgesamt finde ich die realistische Alltagsgeschichte recht gut nachempfindbar, auch wenn man selbst nicht direkt von dieser Situation betroffen ist.

Zum Ende hin war ich im ersten Moment (aber nur im ersten Moment!) ein wenig enttäuscht, da alles nur ein Traum zu sein schien; der Schlusssatz hat mich dann aber eines besseren belehrt.

Sprachlich brauch' ich wenig dazu sagen - lebendig ausgedrückt wie immer. :thumbsup:
Die Länge passt zum Inhalt.

Bloß die Stellen mit dem Hund kamen mir ein wenig merkwürdig vor. Du schreibst immer nur "Hund",
Beispiel:

Hund schnuppert an jedem Grasbüschel
- aber müsste es nicht immer "der" Hund, oder "mein Hund heißen? Liest sich für mich unvollständig.

Ein paar kleine Dinge noch:

Suppe? Igitt, alles, nur nichts Flüssiges!
Meine Lieblingsstelle :D
Schnitzel, trockene Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat...., nein, doch lieber Bratkartoffel.
Müsste es nicht "Bratkartoffeln" heißen? Oder gehen wieder mal beide Varianten?
Leise schiebe ich die Abdeckung des Spions zu Seite
"zur" Seite? Bin mir hier auch unsicher.
Alternative: "beiseite", dann passt's auf jeden Fall. :D

Viele Grüße,

Michael :)

 
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Lieber Michael, du treue Seele!

Du hast Recht! Natürlich heißt es "die Bratkartoffeln, und es heißt auch "zur Seite". Danke schön!

Mit "Hund" wollte ich eigentlich ausdrücken, dass es bei einem solchen Dilemma eigentlich egal ist, ob mein Hund oder dein Hund oder der Hund. Auch wollte ich davon Abstand nehmen, dass die realen Dinge rundherum wichtiger sein könnten, als die Weltuntergansstimmung und die Gedanken, die man sich dazu macht.
Jetzt les ich erade noch einmal nach! Ursprünglich waren alle "Hund"-Sätze ohne was davor. Da habe ich doch etwas ausgebessert und auf den Grasbüschel-Satz vegessen! Und weiter unten im Text ist es auch nur "Hund". Auf irgendetwas sollte ich mich einigen, denke ich! Was sagst du? Ich habe mal alle auf nur "Hund" ausgebessert.

Die Suppen-Stelle kommt also gut? Das freut mich sehr.

Vielen Dank fürs Lesen
Barbara

 

Hallo noch mal!

Für mich lesen sich die "Hund"-Sätze trotzdem etwas unvollständig, und ich persönlich würde daher jeweils einen Artikel davor setzen. Ist aber nur meine eigene subjektive Meinung, vielleicht sehen es andere ja anders. Alternativ könntest du den Hund ja ab und zu mit den Namen nennen, dann hättest du das Problem - zumindest teilweise - umgangen.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Lieber Michael!

Hund hat nun einen Namen und ist mein Hund.

Liebe Grüße
Barbara

 

Liebe Barbara,

schön, da freut sich Hund sicherlich. :)

Ja, so liest sich die Geschichte für mich besser.

Eine Stelle hast du aber noch übersehen:

Hund bellt wieder und ich spüre seinen Schwanz gegen meine Knie schlagen
An zwei Textpassagen passt der Bezug nicht mehr:
Cassie schreit quietschend unter meinem Fuß auf. Fast bleibt mein Herz stehen. Entschuldigend bücke ich mich zu ihm und streichle seine wehe Pfote.
ihr / ihre ("Cassie" ist ja gemeint, und nicht der Hund.)
Ja, wie gut, dass es Cassie gibt, wenn es schon kein Licht gibt. Er muss die Stimme wohl erkannt haben
Sie

So, das wär's, dann bin ich endlich zufrieden.

Bin schon ruhig. :sealed:

Liebe Grüße,

Michael :D

 
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O, danke! Ich habe die Passagen überlesen. Aber jetzt sind sie ausgebessert. Es freut mich, dass du zufrieden bist!

An "... und hat gerühret meinen Mund" hab ich auch ein paar Änderungen orgenommen. Wenn du Lust hast, kannst du ja mal vorbei schauen. Nicht erschrecken, sie heißt jetzt anders, als vorher, auch wenn sie noch immer so in der Übersicht von Alltag steht.

Liebe Grüße
Barbara

 

Mal sehen, kann mir die andere Geschichte ja morgen noch einmal anschauen (Rubrik "Spannung" meinst du wohl, oder?).

Diese hier passt also jetzt so. Perfekt! :thumbsup:

Grüße - Michael :)

 

Ja, Spannung, mein ich. War auch nur ein Hinweis, bitte, also nur wenn du Lust hast.

Liebe Grüße
Barbara

 

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