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Der Läuterbottich

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03.10.2020
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Der Läuterbottich

Teil I – Ruinen eines Spätsommers

Am Abend radelten sie dem Waldrand entlang. Bogen ab durch das Tor, dessen jahresschiefe Angeln beim Aufstoßen quietschten, und folgten dann dem Feldweg in einer Schleife den Hügel hinauf. Heuschrecken flüchteten vor den Reifen, hüpften zu beiden Seiten ins hohe Gras. Sie gaben ein trockenes Knirschen von sich, wenn sie überrollt und in ihren Chitinpanzern zerdrückt wurden. Melvin achtete darauf, keine zu überfahren.
An gewissen Stellen mussten sie absteigen, weil der Weg zugewachsen war. Dornen hinterließen Kratzer auf Melvins Waden. Einmal blieb er an einem Ast hängen und wäre beinahe hingefallen. Zum Glück war Gerrit damit beschäftigt, einen sicheren Weg durch das Dickicht zu finden.
Am Gepäckträger von Gerrits Rad wippte ein langer Stab auf und ab und mit ihm eine kleine blaurote Flagge. Melvin dachte, wenn er diese Flagge nicht aus den Augen verlor, komme er sicher oben an, ohne sich hoffnungslos in dem wuchernden Unkraut zu verheddern. Moskitos sirrten und sammelten sich zum Hochzeitsflug in dichten Schwärmen. Melvins Herz pumpte gegen die Brust und Schweiß stand auf seiner geröteten Stirn. Der Rest des Spätsommertages schwelte am Horizont.
Melvin trat auf seinen offenen Schnürsenkel, weil er sich zu fest auf die Flagge konzentrierte. In diesem Moment drehte sich Gerrit um und erwischte ihn bei seinem Kampf mit der Erdanziehung. Dank eines beherzten Griffs zum Lenker konnte Melvin den Sturz abfangen.
„Ganz schön anstrengend, was Schwabbel?“, sagte Gerrit. Wegen des Lichts glich sein Kopf kurz einem schwarzen Oval, ohne erkennbare Merkmale oder Struktur. Die letzten Sonnenstrahlen ein wolkiger Fächer über der Hügelkuppe. „Du machst ein Gesicht wie bei Herr Kleboth, als er dich heute morgen beim Gaffen auf Danas Arsch erwischt hat.“
„Ich hab ihr nicht auf den A-a gegafft.“
„Du bist verknallt, gib’s zu.“
„Nein Mann, bin ich gar nicht.“

Gerrits Sprüche waren bestimmt nicht böse gemeint, trotzdem taten sie Melvin manchmal ein bisschen weh. Besonders unter Leuten fühlte sich Gerrits Gesellschaft an, als hätte er Melvin bis auf die Knochen durchschaut, seine innersten Widersprüche und Sonderlichkeiten sichtbar für die ganze Welt herausgekehrt. „Es ist nur ein Spaß, nimm’s nicht so ernst“, sagte er dann, wenn sie zu zweit waren.
Gerrit kam aus Amerika, aus einer Stadt namens Boston, und Melvin verstand, dass er anders war. Seine Mutter hatte sich über Gerrits Mutter aufgeregt, weil sie den Müll zu früh an die Straße stellte, weil Fischabfälle im Klo runtergespült und nicht in die Tonne gehörten, aber das seien eben andere Länder und andere Sitten. Vielleicht war Gerrits Art einfach eine dieser Sitten und er konnte gar nichts dafür.
Dennoch drehten sich Melvins letzte Gedanken vor dem Einschlafen häufig darum, wieso Gerrit diese Seite an sich hatte und ob sie nur Freunde waren, weil er nicht mehr in Amerika wohnte. Gerrit musste sich doch jemanden suchen, mit dem er abhängen konnte, weil er ja niemanden kannte, und da sie seit sechs Monaten Nachbarn waren, traf es eben Melvin. Zumindest so lange, bis Gerrit jemanden Interessanteres finden würde.
Das letzte Stück zur Ruine gingen sie zu Fuß. Schoben die Räder neben sich her, bedacht darauf, dass sich die Pedale nicht verfingen. Ein Platzregen begleitete sie, der beide bis auf die Haut durchnässte. Danach war die Luft schwer und drückend, erfüllt vom Geruch nach Moos und Erde. Gerrits Rucksack hing tropfend von seinen Schultern. Melvin überlegte fieberhaft, was er mitgebracht haben könnte.
Ein blassfarbener Regenbogen zeigte sich vor ihnen, ein Ende hinter dem Hügel, das andere zwischen Wolkenbäuchen vergraben. Das außer Lot stehende Silo neben dem Brauereigebäude hob sich dunkel vom Orange des Horizonts ab. Ein tiefes Glühen lag auf dem verrosteten Metall. Als sie den rissigen Beton des Vorhofs betraten, fielen die letzten glänzenden Regentropfen, zerplatzten auf ihren Baseballkappen.

Dieser Spätsommer hatte einen langen und heißen Atem. Wie jeden Tag in seinen zu Ende gehenden Wochen waren sie direkt nach der Schule mit den Rädern losgefahren, um das Geisterdorf zu erforschen. Von den meisten Gebäuden war nicht mehr übrig als zerfallene Mauern oder von Pilzen bewachsene Bretterhaufen. In Melvins Estrich hatten sie eine verstaubte Karte gefunden, auf der alle Gebäude des Geisterdorfs eingezeichnet waren. Die Brauerei hatten sie sich als Letztes aufgehoben.
„Ganz schön cool, was?“, sagte Gerrit und ließ sein Rad in ein Gebüsch fallen. „Bestimmt finden wir ein paar alte Bierflaschen.“
„Ja“, antwortete Melvin und verschnaufte.
„Du bist so ruhig. Stimmt was nicht?“
„Nee, alles gut. Mir ist nur warm.“
„Sorry, hab vergessen, dass das bei dir normal ist. Die Leute hier sind manchmal echt komisch.“
„Wie sind sie in Amerika?“
Gerrit zuckte mit den Schultern. „Weniger einsam, denke ich?“
„Wie meinst du das?“
„Ohne mich würdest du nur zuhause vor der Glotze sitzen.“
„Was hast du da im Rucksack?“
„Siehst du gleich.“
Am Abend zuvor rösteten sie Marshmallows über dem Feuer, das sie auf einem Erdhügel im Zentrum der Ruinen entzündeten. Noch kauend hielten sie ihre Stöcke in die Flammen. Beim folgenden Fechtkampf schlug ihm Gerrit mit der glühenden Spitze auf die Hand. Unter Tränen beobachtete Melvin wie sich Gerrit mit verzerrtem Gesicht selbst verbriet. An der identischen Stelle, in dieser kleinen Kuhle, wenn er Daumen und Zeigefinger abspreizte. Gerrit lächelte und sagte: „Jetzt sind wir Brüder für immer.“ Melvin hatte Angst vor seiner heutigen Entschuldigung. Schließlich stellte die Ruine der Brauerei den Höhepunkt dar.
Das Geisterdorf lag weniger als fünfzehn Radminuten von ihrem Wohnort entfernt. In ihrem eigenen Dorf existierte nicht viel mehr als die Schule und die vier Handvoll Schüler. Die meisten kümmerten Melvin nicht. Er ging ihnen aus dem Weg und sie ihm. Doch der Elternabend hatte alles verändert. Alfons Vater musterte ihn und seine Mutter, als sähe er sie zum ersten Mal und sein zum Schlitz verzogener Mund verriet, dass er nicht erfreut über dieses erneute Kennenlernen war.
Herr Kleboth Stirn zeigte tiefe Sorgenfalten, je länger er sich mit Mutter unterhielt, und seine Stimme zitterte seltsam. Dann geschah das unvermeidliche Unglück. Mutter erbrach sich über das Kleid und die Augen schwammen ihr im Kopf, wie bei einem in der Sonne aufgequollenen Fisch. Seitdem mied auch Alfons ihn. Und falls er ihn doch noch einmal ansprach, dann nur über Gerrit.
Sein Weg zur Schule führte Melvin durch das Dorfzentrum, an der katholischen Kirche vorbei. An denjenigen Tagen, an denen nicht nur die Hitze besonders drückte, sondern auch sein Kopf, stellte er sich vor, unter einen der Bänke in den Schatten zu kriechen. Um abzuwarten, bis es Abend wird. Aber er betrat die Kirche doch nie, trotz der offenen Tür, weil ihm das große Kreuz im Schatten unheimlich vorkam, als könnte es auf ihn herunterfallen.
Dienstags und donnerstags begleitete ihn Gerrit. An diesen Wochentagen hatten sie zur selben Zeit Unterrichtsbeginn. Denn Gerrit war eine Klasse über ihm. Melvin gab sich Mühe, in seiner Anwesenheit nicht an die Kirchenbänke zu denken.

Gerrit hatte ihm eine Kappe von den New York Yankees geschenkt. Seine war von den Boston Red Sox. Mit Baseball kannte sich Melvin nicht aus, deshalb hatte Gerrit es ihm erklärt. „Zwischen diesen beiden Teams herrscht eine große Rivalität. Beide Städte wollen stärker sein. Sie tun alles, um die andere Seite klein zu machen. Aber gleichzeitig ist es auch Sport. Also verbindet es die Leute trotzdem, verstehst du? Millionen Leute schauen das bei uns.“
„Wie wird das gespielt?“
„Ein Schläger. Ein Handschuh. Es gibt Catcher, Pitcher und Läufer. Das ist unwichtig. Wichtig ist nur, es ist ein Kampf der Giganten. Das absolute Spektakel.“
„Wer hat denn öfters gewonnen?“
„Sicher nicht die Mädchen von den Yankees.“
In solchen Momenten stimmten ihn Gerrits Schikanen traurig. Trotzdem war er ihm dankbar dafür, nach der Schule nicht nach Hause zu müssen. Während des Radfahrens und auf ihren Entdeckungstouren konnte er vergessen, für seine Mutter den flotten Meister zu spielen. „Aber wo hat mein flotter Meister denn gesteckt?“, fragte sie und weinte, nachdem sie sein Fernbleiben bemerkt hatte. Melvin schluckte seinen Ärger und den Kummer hinunter, und nachdem sie sich wieder fing, glaubte er, sogar Stolz aus ihrer Stimme zu hören. „Ach, es tut mir leid. Was würde ich nur ohne dich tun?“
Er machte den Abwasch, trug den Müll an die Straße und räumte die Flaschen und Gläser weg, während Mutter ihre Sendung schaute. Sie konnte selbst nicht mehr viel tun, weil sie nur apathisch rumsaß, und Melvin fragte sich, ob sie eines Morgens einfach als alte Frau aufgewacht war oder wieso er ihren schleichenden Verfall nicht mitbekommen hatte. Melvin kümmerte sich um sie, weil er sie immer noch liebte. Andererseits fürchtete er sich vor den Momenten, wenn sie sich nicht mehr unter Kontrolle bekam.
Sogar die Polizei musste mit einem Streifenwagen vorgefahren. Ein Beamter befragte sie lange in der verrauchten Küche. Donner grollte und das blaurote Licht lief wie Wasser über die Tapete, während sie den Mann anschrie. Später schnürte ihm das Wimmern aus ihrem Zimmer die Kehle zu. In der Finsternis unter der Bettdecke lauschte er ihr bis tief in die Nacht. Unsicher, ob er sich zu ihr legen sollte. Vielleicht brauchte sie nur die Wärme seiner Hand auf ihrem Bauch, und alles würde besser werden.
Aber dann kam ihm in den Sinn, dass sie wegen ihm an einer Krankheit litt, die sie als postnatale Depressionen bezeichnete. „Weil du anders aus mir herausgekommen bist, als ich es mir gewünscht habe“, flüsterte sie. Er drehte sich zur Seite, die Hände auf den Ohren. Seine Augen fixierten die rotglimmenden Ziffern des Weckers und er wartete, bis der träge Schlaf zu ihm unter die Decke kroch.

„Hat dein Alter jemals Geld geschickt?“, fragte Gerrit. Sie hockten vor dem Eingang der Brauerei auf einem Schutthaufen. Der Rucksack lag zwischen seinen Beinen und er fummelte darin herum. Melvin hörte Glas gegeneinanderklappern. „Keine Ahnung“, antwortete er und betrachtete sein Rad, das an der verwitterten Mauer der Brauerei lehnte. Er wollte jetzt über möglichst wenig nachdenken. Wieso war ihm das Klappern der Flaschen zuvor nicht aufgefallen? Er hätte eine Ausrede finden und zuhause bleiben können, flotter Meister hin oder her.
„Meiner jedenfalls nicht. War eines Tages einfach weg. Ma hat ihn vermisst gemeldet. Der wurde nie gefunden. Selbst die Bullen standen vor einem Rätsel. Ich glaube, der ist einfach abgehauen, so wie deiner.“
„Was hast du da?“ Die Frage platzte aus Melvin heraus, als hätte er die Luft angehalten. Mit einem Grinsen löste Gerrit das Zugband und holte zwei Bierflaschen aus dem Rucksack. Die Schrift auf den Etiketten war unleserlich, die Buchstaben verschnörkelt und in einer fremden Sprache geschrieben. Vielleicht ist es Amerikanisch, überlegte Melvin. Vielleicht ist es weniger stark.
„Ich hab meiner Alten ein ganzes Sechserpack geklaut.“
„Cool.“
„Die merkt das eh nicht.“
Gerrit hatte bereits in Amerika Deutsch gelernt, aber seine breite Aussprache verriet seine Herkunft aus einem fernen Land. Einmal ergriff Melvin die Chance, es ihm heimzuzahlen, und mit aller Überzeugung, die er aufbringen konnte, sagte er: „Wenn du sprichst, dann hört sich das an wie ein Breitmaulfrosch. Etwa so: Quuuaaack.“
„Der ist nicht schlecht“, hatte Gerrit eingestanden und ihn in die Seite geboxt. „Pass bloß auf, dass ich Dana nicht erzähle, dass du eine alte Heulsuse bist.“
Gerrit holte einen Flaschenöffner aus dem Seitenfach des Rucksacks. Setzte die Zähne an den Kronkorken und hebelte die erste Flasche auf. Danach hielt er sich den Hals unter die Nase. „Riecht gut. Schonmal Bier probiert?“ Flüssigkeit schwappte im braunen Glas und heller Schaum floss außen herab, als er die Flasche im Schutt verkeilte.
„Ich hab gehört es soll sehr bitter sein“, sagte Melvin. „Hat deine Mutter das aus Amerika mitgebracht?“ Seine Stimme zitterte. Er sprach zu hastig und Gerrit roch Nervosität hundert Meter gegen den Wind. Aber er ging nicht darauf ein und machte sich ans Öffnen der zweiten Flasche. Melvins Flasche. Er hörte das Ploppen und der Kronkorken klinkerte über den Schutt und verschwand zwischen zerschlagenen Steinplatten. Gerrit lachte und sein Gesicht leuchtete im letzten Abendlicht. Feierlich streckte er ihm die geöffnete Flasche entgegen.
Melvin legte die Finger um ihren Bauch, fühlte die Kühle des Glases. Er presste den Daumen dagegen. Der Schmerz war eine willkommene Betäubung. Ständig klaubte er an der Nagelhaut, bis sie Risse bekam und es blutete. In der Schule machte er es ohne Bewusstsein, die Hände unter dem Pult, kalter Schweiß an ihren Innenflächen, während Herr Kleboth an die Tafel schrieb. Er verstärkte den Druck gegen das Glas, als Gerrit sein Bier aus dem Schutt zog und den ersten Schluck trank. „Na mach schon, du Pussy. Ist auch gar nicht bitter!“
Melvin roch zögernd an der Öffnung. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase, der ihn an Mutter erinnerte, wie er sie manchmal morgens im Nachthemd am Küchentisch vorfand, der Kopf auf der Platte, Flaschen und Dosen verteilt auf dem Boden. „Wie hast du das an ihr vorbeigekriegt?“
„Was? Das ist doch scheißegal. Trink jetzt!“
Gerrit lachte. Melvin schaute in die dämmernde Nacht hinaus. Insekten zirpten im Unterholz. „Tut mir leid“, sagte Gerrit. „Komm wir stoßen an!“ Melvin hielt ihm die Flasche entgegen. „Nicht so, Dummkopf!“ Gerrit lachte wieder, doch diesmal anders, dass es klang, als würde der vorherige Schluck noch in seiner Kehle gurgeln. „Mädchen und Biere stößt man unten an, weiß doch jeder.“

Gerrit trank schnell. Zufriedengestellt fürs Erste, nachdem Melvin sich überwunden hatte, einen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Das Bier schmeckte herb und zitronig. Die bittere Note erinnerte ihn daran, dass flotte Meister für ihre Mütter da waren und mit ihren Freunden keinen Alkohol nach der Schule tranken. Vielleicht hatte sie in der Jugend denselben Fehler gemacht und Melvin wusste nur zu gut, wohin das führte. Beim zweiten Schluck musste er würgen.
Bestimmt war sie um diese Zeit mit einer halben Fertigpizza im Schoß und einem Faxe Extra Stark auf dem Sofa eingeschlafen. Es lief Boston Legal, ihre Lieblingsserie, von der sie alle Folgen mit dem VHS-Rekorder aufnahm. In einem Regal neben dem Fernseher stapelten sich die Kassetten. Die meisten hatten Staub angesetzt, nur ein paar wenige sah sie sich öfters an. Eine davon liebte sie ganz besonders.
Es ging um eine Frau, deren Mann das gemeinsame Kind entführte, da er vor Gericht einen Sorgerechtsstreit verloren hatte. Mutter verstand nichts davon, sie schaute diese Folge so oft, weil zwischen ihr und dem Entführervater eine Art Verbindung entstand. Der Mann schauspielerte meisterhaft, aber seine Rolle war düster und trübselig. Durch seine Bildschirmtränen brach Mutters affektloses Verhalten für einen Moment auf und sie lächelte, oder legte Melvin sogar ihre Hand auf den Kopf. Melvin konnte trotzdem nicht sagen, ob er ihn mochte. Am meisten störte ihn, dass der Vater in der Folge gleich hieß wie er. Melvin.
„Und wie findest du’s?“, fragte Gerrit. „Den ersten Schluck Alkohol vergisst man nicht. Der bleibt einem für immer im Gedächtnis.“
Melvin zwang sich zu einem Lächeln, verlagerte sein Gewicht auf dem Schutthaufen. Etwas stach ihn in den Hintern. Vielleicht steckten Nägel oder sonst gefährliche Gegenstände in dem Müll. „Ich find’s ganz gut. Wie oft hast du denn schon getrunken?“
„Ganz gut, was? Ich frag dich in zehn Jahren nochmal.“
„Hängen wir dann immer noch zusammen rum?“ Zarte Flügel entfalteten sich in Melvins Brust, begannen sachte zu schlagen und die ersten, zögerlichen Vibrationen fluteten Wärme unter sein Blut. Gerrit antwortete: „Wenn dich deine Mutter bis dahin nicht erdrückt hat, sicher.“
„Die macht sowas nicht.“ Melvin rieb mit dem Daumen über die Flaschenöffnung, presste dagegen, sagte nichts. Ihm war heiß und kalt zugleich und er spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen erhoben.
„Was ist überhaupt los mit der?“ Gerrits Frage bohrte sich in seinen Kopf und die Flügel Melvins Brust zerfielen, als hätten sie Feuer gefangen. „Die geht ja gar nicht mehr raus. Die macht ihr Leben abhängig von dir. Das würd mir gehörig auf den Sack gehen.“
„Sie ist krank.“
„Und da hängst du lieber mit mir ab, statt nach ihr zu schauen, oder wie?“
Melvin schnappte nach Luft. Vielleicht konnte Gerrit die Reaktion nicht sehen, vielleicht war es schon zu dunkel. Doch Gerrits Blick fand den seinen und da verstand Melvin, es war wieder einer dieser Momente, wo er die schrecklichen Gefühle in ihm weckte. Gerrit wusste genau, was er tat. In seinen Augen sah er die Flügel verbrennen, lichterloh, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. Mit seiner Zunge und den Händen fing er die tote, graue Asche auf. Das war Gerrits Lieblingsspiel.
„Wenn ich mir’s recht überlege, war das wahrscheinlich gar nicht dein erster Schluck. Die Alte hat doch schon gesoffen, da warst du noch in ihrem Bauch drin!“ Er rieb sich über sein T-Shirt. Dann lachte er und wischte die Bemerkung weg. „Hey, du weißt doch, ich verarsch dich nur!“
Melvin wandte sich ab. „Lass uns mal in die Ruine gehen“, schlug er vor. Das Sprechen fiel ihm schwer. Der Mund benommen vom Alkohol, seiner Unsicherheit oder beidem. Vielleicht hatte Gerrit recht und er war deshalb so anders. Weil Mutter ihn angesteckt hatte. Er wollte nach Hause gehen, sich ins Bett legen und schlafen, erst wieder aufwachen, wenn die Welt eine andere war.
Doch er konnte seinen Blick nicht vom schwarzen Rechteck in der Mauer abwenden. Es dehnte sich aus und begann schwach zu pulsieren. Melvin stellte sich vor, wie die Öffnung tief in einen verwinkelten Schlund hineinführte, warm und fleischig und atmend. Wie ihm ein muffiger Geruch entgegenschlug. Je weiter er in das Loch hineinging, desto kleiner wurde er, Zähne und Haare fielen ihm aus, bis seine Beinchen und Füßchen nur noch Stummel waren, und er vornüberstürzte, zurück in die Finsternis des Mutterleibs.

Gerrit hatte an alles gedacht. Er leerte sein Bier, rülpste und entnahm dem Rucksack eine Taschenlampe. Knipste sie an und ließ den Kegel über die grauen Wände der Brauerei schweifen. Über verwitterte und abgebröckelte Quader. In Ritzen glänzte feucht der Schimmel. Dann holte er aus und schmetterte die Flasche gegen den Stein.
„Bin leer“, sagte er und grinste. „Willst auch noch eins?“
„Ich hab noch.“
Zwischen Regenwolken das schwache Leuchten des Mondes, als würde Melvin ihn durch den Flaschenboden seines Biers betrachten. Nieselregen fiel und es war so still, dass er die Tröpfchen auf dem von der Sonne aufgeheizten Schutt zischen hörte. Als sie durch die Öffnung ins Innere der Brauerei traten, knirschten die Scherben unter ihren Schuhen.
Melvin drehte sich noch einmal um, blickte auf die Silhouette des Waldrandes und über die dunklen Wiesen und Felder zu den Lichtern des Dorfs. Kleine Laternen in der Nacht, schwebend zwischen Traum und Wirklichkeit. Er wollte ihnen folgen, zurück unter freien Himmel, den Hügel hinab durch das Dickicht, aber da war Gerrit, der ihn am Arm packte und tiefer in die Nacht entführte. Irgendwo knackte laut ein Ast und ein kleines Tier huschte durch die Dunkelheit davon.
„Wow“, lenkte Gerrit ihn ab. „Sieh dir mal den ganzen Scheiß hier an.“
Der Kegel der Taschenlampe beleuchtete drei große und runde Pfannen aus Kupfer. Rostige Fässer standen herum. An einer Wand lehnte eine Apparatur auf metallenen Beinen. Daneben hing ein schiefes Schild, die Buchstaben kaum leserlich: Schrotmühle. Schmutzige blaue Bierkästen waren bis unter die Decke gestapelt. Im Licht der Lampe schwebten Staubpartikel. Melvin stellte seine Flasche auf ein morsches Holzregal und folgte Gerrit tiefer in den Raum.
Durch ein Loch in der Decke tropfte Wasser. Das stetige plink! beim Auftreffen auf einem der Bottiche war das einzige Geräusch. Vor einem blieb Gerrit stehen, klopfte mit dem Finger gegen das Kupfer. Ein hohles Geräusch erklang und Melvin schauderte. „Wie lange das Bier hier drin wohl reifen musste?“, fragte Gerrit und umrundete den Bottich. „Vielleicht hat deine Alte ja noch eine Flasche, die hier hergestellt wurde. Eine volle meine ich. Das wäre doch geil.“
„Ja“, sagte Melvin. „Aber ich glaube, das Dorf war schon vor meiner Geburt kaputt. Sie hat mir mal davon erzählt.“
„Nun, wenn ich’s mir recht überlege, wird es wohl schwierig, bei deiner Ma überhaupt noch eine volle Flasche zu finden“, murrte Gerrit, lachte aber gleich darauf wieder. „Sehen wir uns das genauer an.“
An der Seite des Bottichs fand er eine runde Klappe, deren Griff er erreichen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. „Halt mal“, sagte er und reichte Melvin die Taschenlampe. „Ich will sehen, was da drin ist.“
Melvin tat wie ihm geheißen. Mit einem rostigen Quietschen schwang die Klappe auf. Gerrit griff die Ränder der Öffnung und zog sich hoch, doch er schaffte es nicht, bis in den Bottich hineinzublicken. Er schaute Melvin an. „Komm, ich heb dich hoch“, sagte er. „Gib mir die Lampe zurück.“
„Ich weiß nicht ... Was soll da drin sein?“
„Jetzt sei nicht wieder so ein Schisser. Ich lass dich nicht fallen. Das ist doch megaspannend? Hör mal.“
Gerrit klopfte erneut gegen die kupferne Wanne. Durch die Echos klang es, als würde ihm jemand aus dem Inneren des Bottichs antworten. Klopf. Klopf-Klopf. „Ich glaube, da ist einer drin.“
„Was?“
„Stell dir vor, vielleicht hat sich dein Vater hier versteckt und wir finden ihn. Dann kannst du ihn morgen bei der Polizei anzeigen. Haha!“
„Der kommt nicht wieder“, sagte Melvin und gab Gerrit die Lampe.
„War ja auch nur Spaß.“ Gerrit legte die Lampe auf den Boden, kniete sich hin und formte mit seinen Händen eine Räuberleiter. „Los jetzt, sonst haut er noch ab!“
Unsicher stand Melvin mit einem Fuß auf Gerrits verschränkte Finger. Mit einem Ruck hob dieser ihn hoch und Melvin bekam die Öffnung mit beiden Händen zu fassen. Dann sah er in den Bottich. Im Inneren waberte eine undurchdringliche Schwärze und ganz flüchtig konnte er süßlichen und schalen Biergeruch unter dem Staub der Jahre wahrnehmen. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber auf dem Grund des Bottichs lag ein regungsloser Schatten.
Plötzlich wurden Melvins Füße kräftig nach oben gedrückt und er verlor seinen Halt an den Rändern der Klappe. Er war zu überrascht, um zu schreien. Kopfüber purzelte er in die finstere Wanne und schlug sich den Kopf an. Die unsanfte Landung jagte stechende Blitze durch seinen Rücken. Panisch tastete er durch die Dunkelheit. Fand einen Schuh, darüber eine Hose, in dem ein Bein steckte, eine Jacke samt Körper. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. „Gerrit?“, fragte er in die Stille. „Hier drin ist wirklich jemand ... Ist er tot?“
Gerrit antwortete nicht. Melvin tastete weiter, erfüllt von fiebriger Panik. Der Körper war zu klein für einen Erwachsenen. Es handelte sich um ein Kind. Melvin blickte nach oben zur Öffnung und Gerrit starrte ihn daraus an, bleich und ohne eine Miene zu verziehen. „Hilf mir raus“, flehte Melvin und schlug wild um sich, wollte weg von dem Kind, aber der Bottich war zu eng, sodass er den kleinen Körper immer irgendwo berührte. Er stemmte sich gegen die Wände, streckte Gerrit die Arme entgegen. Doch dieser verfolgte nur weiter stumm seinen Kampf.
Melvin brach in Tränen aus. Auf der Brust des reglosen Kindes saß eine Heuschrecke. Sie sprang hoch, entfaltete ihre Flügel, schwirrte unstet vor Gerichts Gesicht. Melvin verfolgte sie mit verschleiertem Blick. Im Restlicht der Taschenlampe schimmerte ihre Membran regenbogenfarben. Dann schlug Gerrit die Klappe zu.

Teil II – Um Mitternacht in schwelenden Hallen

Das Erste, an das sich Melvin erinnern konnte, waren die Heuschrecken. Er fing sie mit einem Marmeladenglas. Über den Sandkasten war eine löchrige Plane gespannt. Er löste einen der Gummizüge, öffnete die Plane einen spaltbreit und schüttelte das Glas aus. Danach verschloss er den Sandkasten wieder.
Als kleiner Junge tollte er gerne durchs hohe Gras. Jeden Sommer hoffte er, Bauer Friedrich würde die Wiese nicht mähen. Er war ja schon alt und vielleicht vergaß er das Mähen eines Tages. Wenn das Gras richtig hoch stand, barg es Geheimnisse und allerlei Wunderlichkeiten. Er fand Fetzen von Kinderzeichnungen oder Figuren aus Blechdosen, eine selbstgebastelte Spielzeugpistole, einmal sogar ein Rehkitz, das auf wackligen Beinen vor ihm flüchtete. Er träumte von einem Ort, an dem er zugleich wach war und schlief.
Wenn die Sonne in der Wiese versank, glaubte er, ein Gesicht zwischen den Halmen zu sehen. Es lag immer im Schatten, gerade so, dass er es nie richtig erkennen konnte. Schlief seine Mutter schon am Nachmittag ein, zog es ihn sofort ins hohe Gras und obwohl er sich fürchtete, fühlte er sich dort seltsam frei und verbrachte den Abend, bis es dunkel wurde. Blieb er zu lange fort, rannte er durch die nächtliche Wiese, bis er nicht mehr wusste, aus welcher Richtung er gekommen war. Das über die Gräser laufende Mondlicht lenkte ihn ab und er blieb atemlos stehen, weil er noch nie etwas so Schönes gesehen hatte. Und im Zentrum des hohen Grases gab es eine Lichtung. Ein kahler Fleck matschiger Erde und eine Pfütze, in der sich die Sterne spiegelten. Dort lebten die Heuschrecken.
War die Wiese gemäht, lag das vertrocknete Gras langweilig in aufgehäuften Reihen. Vor allem konnte Melvin dann das Ende erahnen, dahin sehen, wo das nächste Feld begann, und das nahm ihr allen Zauber. Die Wiese neben ihrem Haus wuchs ungewöhnlich schnell und hoch. Selbst als er älter wurde, blieb dieser Eindruck, auch wenn er es manchmal als die Fantasie eines kleinen Jungen abtat, weil sein Streunen durch die Wiese zur Seltenheit wurde. Der flotte Meister hatte bald seine Pflicht zu erfüllen.
Bauer Friedrich nannte er den Insektentöter. Er hörte nicht mit dem Mähen auf. In Melvins Magen staute sich ein heißer Zorn. Ein Zorn, der über Wochen und Monate und Jahre so heiß wurde, dass Melvin erneut mit Marmeladengläsern loszog und Insektenschutz zum Thema seiner Vorträge machte. Herr Kleboth gefiel das meist, in der dritten und vierten Klasse lobte er ihn öfters, aber die Schüler rümpften ihre Nasen und nannten ihn einen Sonderling und Insektenfreak. Sein damals einziger Freund Alfons tat so, als bemerke er seine besondere Faszination nicht. Bis Gerrit in das Dorf zog und Melvins Nachbar wurde. Damit änderte sich alles.

Vielleicht war es einen Tag oder eine Woche vor Gerrits Ankunft, dass Melvins Mutter ein Kreuz ins Wohnzimmer hängte. Er hatte ihr beim Einschlagen des Nagels helfen müssen, weil sie selbst zu kraftlos war und ihn nicht gerade halten konnte. An manchen Abenden stand sie schwerfällig vom Sofa auf und befahl ihm, das Kreuz zu weihen. Nicht selten musste Melvin sie an den Händen nehmen und mit aller Kraft aus den Polstern ziehen, und dabei fühlten sich ihre Finger kalt und klamm an, als wäre kein Blut mehr in ihnen.
Danach holte Melvin ein Bier aus dem Kühlschrank. Die untersten drei Fächer waren stets gefüllt mir Sechserpackungen, obwohl Mutter oft über das Geld klagte. Er mochte das Zischen nicht, wenn er die Flasche öffnete. Mit einem Schluck Bier im Mund stellte er sich dann vors Kreuz, während Mutter ein Gebet murmelte. Manchmal stützte sie sich dabei an seiner Schulter ab, damit sie nicht zu fest auf der Stelle schwankte. „Spei auf das Kreuz!“, verlangte sie keifend. „Spei auf das Kreuz und weihe dieses Haus!“
Kaum hatte Mutter feste Nahrung im Magen, drehte sie durch. Eine qualvolle Spirale, die Melvins Herz wie im Schraubstock zerdrückte. In ihrem Kopf lösten sich die Gedanken aus dem Nebel und all die Enttäuschung brach aus ihr heraus. Melvin verstand das nicht, nur die Ursachen. Deshalb achtete er darauf, nicht zu üppige Portionen zu kochen. Aber dann maulte sie, ihr flotter Meister hielte sie am Hungerhaken und fresse selbst wie ein Mähdrescher. „Gottlob ist dein Vater fort“, wetterte sie. „Der hat immer die ganze Küche leergefressen. Hast du eindeutig von ihm geerbt. Sei froh, ist er abgehauen, bevor du ihn kennengelernt hast.“
Wenn er nicht schlafen konnte, schlich er über die Treppe ins Wohnzimmer. Vorbei an seiner schnarchenden Mutter, und in der Dunkelheit berührte er das Kreuz, strich mit den Fingern über das spröde Holz. Bei diesen Berührungen erschien ihm der Mann aus dem hohen Gras. Er lächelte ihm zu, sein Gesicht nun strahlend hell, und er war sich sicher, dass er durch die dichten Halme zu ihm ins Wohnzimmer sah, direkt in ihn hinein und die Flügel in seiner Brust zum Erwachen brachte.
In einer wolkenlosen Nacht, als der Mond das Kreuz leuchten ließ und Mutters Mund weit offen stand, sie schnarchte wie ein Bär, bemerkte Melvin das fahle Gesicht am Fenster. Im Gegensatz zu dem Mann zwischen den Halmen wirkte es jugendlich und unglaublich real. Jemand beobachtete ihn, die Nase an die Scheibe gedrückt. Dieser Jemand klopfte gegen das Glas und grinste. So lernte er Gerrit kennen.

In der Schule waren sie sich schon ein paar Mal begegnet, aber Gerrit schien ein Eigenbrötler zu sein, der wie Melvin nicht viele Freundschaften pflegte.
„Ist doch scheißegal, was die anderen denken“, erklärte er, Wochen später als sie gemeinsam über den Pausenhof schritten, ihre identischen Ranzen über den Schultern. Aber da wusste Melvin noch nicht, dass Gerrit oft Dinge sagte, nur um sie später gegen ihn zu verwenden. „Ich pfeif auf die Wichser und das solltest du auch tun.“
„Ja“, sagte Melvin. In diesem Augenblick fühlte er sich stark. Spürte die Flügel in seiner Brust, als wäre Gerrit die Reinkarnation des Mannes zwischen den Halmen. Sie falteten sich auf, begannen sachte zu sirren und ein Summen erfüllte ihn bis hinauf in den Hals, dass ihm ganz warm davon wurde. Seine Stirn und die Wangen glühten, als hätte er Fieber und er versank in dieser Wärme, dankbar mit offenen Armen. Doch er rechnete nicht damit, dass Dana und eine ihrer Kolleginnen die Glastüren aufstießen.
„Die ist echt scharf auf dich“, sagte Gerrit und zeigte auf Dana. „Die solltest du mal ansprechen.“
„Wirklich?“
„Hundertpro. Die schaut doch jetzt schon wieder zu dir rüber.“ Gerrit klopfte ihm auf die Schulter und lächelte aufmunternd. „Jetzt geh schon zu ihr!“
Melvin wollte das nicht. Unsicherheit zerfraß ihn, verschluckte die zuvor verspürte Stärke. Er konzentrierte sich auf die zarten Flügelschläge, atmete ein und aus. Bedacht leichten Schrittes erklomm er die Treppenstufen zum Eingang der Schule, wo Dana und ihre Kollegin die Köpfe zusammensteckten und über irgendetwas kicherten.
Bevor er sich bemerkbar machen konnte, stoben die Doppeltüren auf, knallten gegen die Wand, dass das Glas schepperte, und Schüler drängten aus dem Gebäude auf den Pausenhof. Dutzende, Hunderte. So viele, dass er den Überblick verlor. Sie rissen Melvin und Dana und ihre Kollegin mit sich, trieben sie die Treppe hinunter.

Auf dem Pausenhof herrschte unglaubliches Gedränge. Melvin wurde hin- und hergeschubst. Hände schlugen ihm auf den Rücken und Fäuste boxten ihn in die Seite. Jemand rammte ihm den Ellenbogen in den Bauch, dass er fast zusammenklappte und unter dem Pulk begraben worden wäre. Die Schulglocke schrillte eindringlich.
Die Gesichter der Schüler nur verzogene und verschwommene Konturen, schwarze Löcher anstelle von Augen und Mündern, leblos starrende Masken, die ihn mit ihrer Leere in sich aufsaugen wollten. Nur Gerrit erkannte er eindeutig, doch der wandte sich ab und verschwand zwischen den Schülern. Verstört zwängte Melvin sich durch die Menge, aber er holte ihn nicht mehr ein, auch wenn Gerrit manchmal stehen blieb und zwischen Schultern, Armen und Köpfen einen Blick zurückwarf.
„Sein Vater hat sich im Wald erhängt!“, schrie eine Stimme. „Stand heute Morgen in der Zeitung.“ „Du kannst doch gar nicht lesen“, behauptete eine andere und lachte. „Ich glaube, der ist abgehauen, weil er es nicht mehr aushielt“, vermutete eine dritte. „Seine Mutter ist eine Säuferin!“ Melvin presste die Hände auf die Ohren. Die Schüler traten zur Seite, bildeten einen Korridor, ihr Geschrei nur mehr dumpf und fern, und so erreichte er unverletzt die Glastüren.
Mit seinem ganzen Gewicht presste er sich dagegen, während die Schüler hinter ihm an seinem Schulranzen zerrten. Schließlich schaffte er es, die Doppeltüren aufzudrücken und stolperte in den Klassenraum. Erwachsene hockten in einem Kreis, neben ihnen ihre stummen Kinder. Einige rieben sich nervös über die Oberschenkel oder kratzten sich an Stirn und Handrücken. Verwirrt drehte sich Melvin einmal um sich selbst. Die Doppeltür war einer weißverputzten Wand gewichen, an der die Zeichnungen aus dem gestalterischen Unterricht hingen.
„Suchen Sie sich Hilfe“, sagte Herr Kleboth und machte ein trauriges und angewidertes Gesicht, blickte hilflos in die Elternrunde. Alfons Vater zog einen Rotzklumpen hoch. Mutter hing in ihrem Stuhl, das Erbrochene auf ihrem Kleid stank süßlich stechend nach Bier. „Denken Sie doch an Melvin. Sie allein tragen die Schuld am ... am Zustand ihres Sohnes!“
„Mir ist nur ein wenig schlecht“, stammelte sie und torkelte in den Flur. Dana stand auf ihren Stuhl, ergriff die Lehne. Hüpfend manövrierte sie sich nach vorn, positionierte sich in der Mitte des Kreises. Alle Blicke ruhten auf ihr. Sie zeigte auf Melvin und kreischte: „Du bist so hässlich wie ne Heuschrecke. Lass mich in Ruh!“ Auf einem der Stühle saß Gerrit, die flache Hand unters Kinn gelegt, scheinbar eingeschlafen. Melvin stürmte kopflos an ihm vorbei, seiner Mutter hinterher. Mitten in die verrauchte Küche seines Daheims.

Am Tisch saß Mutter mit verweintem Gesicht. Ihr gegenüber ein Mann in schwarzer Jacke, die Aufschrift POLIZEI zwischen seinen Schultern. „Wir werden die Kinderaufsichtsbehörde informieren müssen, Frau Klein. Das geht so nicht weiter. Ihr Sohn braucht eine Bezugsperson. Ein Vorbild. Jemanden, der sich um ihn kümmern kann. Ich sehe doch, dass Sie dazu nicht in der Lage sind.“
Der Donner grollte und Regen schlug wie eine Furie aufs Dach. „Nein, das können Sie nicht tun“, stammelte Frau Klein. Eigentlich war sie Melvins Mutter, aber gleichzeitig auch nicht und da realisierte er, dass sie wirklich zu einer Greisin geworden war, die keine Ähnlichkeit mehr mit Mutter besaß. Mit jedem Wort des Polizisten schrumpfte sie, eine zusammenfallende Hülle, bis nur noch ein Wirrwarr aus Haut, Haar und Knochen am Tisch sitzenblieb. „Ich kriege das hin. Ich kann das. Geben Sie mir noch etwas Zeit.“ Ihr Kiefer klapperte beim Sprechen. „Es ist nur eine Phase, das verspreche ich Ihnen! Nehmen Sie ihn mir nicht weg. Er ist doch mein flotter Meister und ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll.“
„Wurden Sie ihrem Sohn gegenüber jemals gewalttätig?“
„Nein. Niemals!“
„Wir werden Sie in psychologische Obhut übergeben müssen. Gleich morgen früh kommt jemand vorbei. Okay, Frau Klein? Danach entscheiden wir weiter. Ein Internat – zumindest bis es Ihnen besser geht – wäre eine sichere Option für Melvin. Er braucht jetzt ein stabiles Umfeld. Verstehen Sie?“
„Ja“, flüsterte der Hautsack und eine bodenlose Traurigkeit überfiel Melvin beim Hören dieser schrecklich alten und brüchigen Stimme. Knochen fielen aus dem Hautsack, polterten zu Boden und zerfielen zu grauem Staub, beschmutzten die Stiefel des Beamten. Hunderte Heuschrecken stoben aus der leeren Hülle und zerfetzten sie in einer Wolke. Die Insekten schwirrten wirr durch die Küche, verdunkelten das Licht. Stoben auf das gekippte Fenster zu. Ihre Flügel blitzen und schimmerten in allen Farben und der Staub regnete wie Asche auf den Küchentisch. Unter dem Fensterbrett sammelten sich die Heuschrecken, die gegen das Glas geflogen waren. Hilflos zuckten sie mit ihren Beinchen. Mutters Stimme schwand unter dem Brummen des Schwarms. „Ja, okay, ich verstehe, das ist gut für ihn ...“
Melvin wollte etwas sagen, aber er konnte nur nach Luft japsen. Der Polizist erhob sich, legte eine Karte auf den Tisch und dankte für den Kaffee. Dann ging er mitten durch den Schwarm zur Tür und zog sie hinter sich zu. Der Mutterstaub wirbelte auf und gelang in Melvins Hals. Er hustete und keuchte. Unter dem Tisch kroch Gerrit hervor, hinterließ Schleifspuren und Handabdrücke, seine Kleidung und das Gesicht grau gepudert.
Er leckte einen Finger an, wischte mit ihm durch den Staub, durch die Asche, die Asche aller verbrannten Flügel, und steckte ihn dann in den Mund. „Ja“, sagte er. „Ja, das ist perfekt. Ihm wird es dort gefallen.“ Würgend brach Melvin zusammen, spürte den harten Aufprall auf den Dielen bereits nicht mehr.

Er erwachte und lag unter einem der Kirchenbänke. Die Luft war stickig vom Weihrauch. Das Kirchenschiff erfüllt von den Schatten des Zwielichts. Regen prasselte gegen die Buntglasfenster. Ein tiefes Murmeln erfüllte die leere Halle, als hätte sich die Krypta in einen unterirdischen Fluss verwandelt.
Melvin robbte unter der Bank hervor, verwirrt und verloren in sich selbst. Staubstreifen und Spinnweben blieben an seinem T-Shirt kleben. Vor dem Altar kniete jemand. Kerzen tauchten die Gestalt in diffuses Licht und Melvin erkannte, dass es sich bei der Gestalt um einen Erwachsenen handelte. Der Mann trug eine blaue Baseballkappe und hielt den Kopf gesenkt, wie im Gebet versunken. Hinter dem Altar bewegte sich ein Schemen.
Eine kleine Hand, die eine Kerze hielt und mit zitternder Flamme weitere entzündete. Dann blies der Schemen die Kerze aus und die kleine Hand griff nach oben, öffnete die Tür des Tabernakels. Melvin kauerte sich zwischen die Bänke. Das Kirchenschiff erstreckte sich so weit, bis es sich in vollkommener Schwärze verlor. Die Halle schwankte vor seinen Augen, dehnte sich aus und er fühlte sich, als schwebe er durch endlose dunkle Korridore.
Das Rattern von schweren Ketten dröhnte durch das Kirchenschiff. Aus der Finsternis der Decke senkte sich das hölzerne Kreuz. An den Enden des Querbalkens war es mit Eisen beschlagen. Es verschwand hinter dem Altar und kam mit einem dumpfen Poltern zu liegen. Melvin spürte, wie die Erde unter ihm erbebte. Der kniende Mann verharrte regungslos. Dann hörte Melvin ein schleifendes Geräusch, Stein auf Stein, etwas Schweres, das zwischen den Bänken über die Fliesen gezogen wurde.
Mit Entsetzen beobachtete Melvin, wie Gerrit schwer atmend auf den Altar zuschritt, in seinen Händen der Stiel eines Vorschlaghammers, dessen steinerner Kopf er hinter sich über den Boden zerrte. Vor den Stufen des Altars hielt Gerrit inne, drehte sich zu Melvin und nickte ihm zu. „Dann machen wir mal Nägel mit Köpfen“, sagte er und grinste wie in jener Nacht, als sie sich kennengelernt hatten.
Der kniende Mann erhob sich und legte etwas auf den Altar. Die blaue Kappe der New York Yankees. Melvins Kappe. Dann verschwand er, dorthin, wo das schwere Kreuz abgesenkt worden war. Gerrit folgte ihm. Der Kopf des Hammers schlug bei jedem Schritt schwer gegen die Stufen. Sein Gesicht glänzte schweißüberströmt unter dem Schirm seiner Red-Sox-Kappe. Er sagte: „Los jetzt. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.“

Auf der marmornen Mensaplatte lagen unterarmlange Nägel. Dicker als Melvins Handgelenke. „Da ist ein Fach“, sagte Gerrit. „Mach es auf.“
Mit klammen Fingern zog Melvin das Reliquienfach auf. Bierflaschen kullerten gegeneinander. Er nahm eine davon in die Hand. Das Glas eiskalt gegen seine Haut. Erinnerte ihn daran, dass dies kein Traum war, dass dies alles wirklich geschah, weil er die Kälte fühlen konnte, weil sie real war. „Und jetzt schlag den Korken ab!“, verlangte Gerrit.
„Aber wie?“, stammelte Melvin und wollte die Flasche fallenlassen, bevor sie an seinen Fingern festfror.
„Bist du doof, oder was? Klemm den Korken da auf die Kante und schlag feste drauf!“
Gerrit ließ den Stiel des Hammers in seiner Hand auf- und abwippen. Hinter ihm legte sich der Mann auf das Kreuz. Ganz langsam und bedacht. Er breitete die Arme aus und legte die Fußgelenke übereinander. Derweil versuchte Melvin die Flasche aufzukriegen. Mehrmals schlug er auf den Korken, bis seine Faust taub wurde. Das Blut an seinen Fingern bemerkte er kaum. Dann schaffte er es. Der Korken fiel ab und klinkerte über die Fliesensteine.
„Jetzt nimmt einen Nagel“, befahl Gerrit.
„Ich will das nicht.“
„Heulsuse, Melvin ist ne Heulsuse“, äffte Gerrit. „Du hast dir immer sein Bild angesehen. Hast so getan, als mache es dich glücklich. Aber in Wahrheit bist du wütend. Wütend darüber, dass du alleingelassen wurdest.“ Seine Stimme rollte durch das Kirchenschiff, der Hall lagerte Wort über Wort und am Ende klang es, als spräche er aus hunderten Kehlen gleichzeitig.
„Das stimmt nicht.“
„Stimmt nicht, stimmt nicht. Natürlich stimmt es. Ich bin der Einzige, der für dich da ist, hast du das jetzt endlich begriffen? Allen anderen bist du schnurzpiepegal.“
Melvin verschüttete Bier, als er mit zitternden Fingern nach einem der Nägel griff. Er war viel schwerer als vermutet. Ein Gewicht, dass an seinen ermatteten Muskeln zerrte. Er vermochte es kaum zu stemmen und musste die Flasche auf dem Altar abstellen, um beide Hände freizuhaben. Dann schleppte er ihn unter größter Anstrengung zu Gerrit hinüber.
„Wieso müssen wir das tun?“
„Verstehst du es immer noch nicht? Lass endlich los.“
Melvin nickte stumm, obwohl er nicht wusste, was genau er loslassen sollte.
„Setz ihn da auf das Gelenk und halt still.“
„Der Hammer ist doch viel zu schwer.“ Melvin spürte Tränen auf seinen heißen Wangen. In ihm schlugen die Flügel wild und panisch durcheinander. Ein Gefühl, als würde er auseinandergerissen, innerlich kahlgefressen und in einer schmerzlosen Leere zurückgelassen. Treibend in lichtlosem Raum.
„Setz ihn auf!“
Melvin hob den Nagel und drückte die Spitze auf die überkreuzten Fußgelenke.
„Mit deinem ganzen Körper verdammt!“
Der Blick des Mannes war noch oben in die Schwärze gerichtet. Selbst als Melvin sich mit dem Oberkörper auf den Nagelkopf stemmte und das erste Blutrinnsal über das Kreuz auf die Fliesen tropfte. Melvin drückte so lange, bis er den Nagel ohne Anstrengung mit einer Hand senkrecht halten konnte. Abwesend strich er mit der anderen Hand über das Holz. Da hob der Mann den Kopf und sein strubbeliges Haar hing ihm in die Stirn, verdeckte seine Augen, aber sie waren da, leuchtend und warm und hell. Das Lächeln erkannte er sofort. Er war der Mann aus dem hohen Gras.

Die hohen Buntglasfenster zerbarsten. Ein Scherbenregen ging auf die Bänke nieder, den Altar, das Kreuz und die beiden Jungen. Funkelnd schlitterten sie über den Boden oder blieben in Melvins und Gerrits Haaren hängen. Eine besonders lange und scharfe Scherbe schnitt Melvin in die Wange und er spürte das warme Blut über seinen Hals laufen. Es war ihm egal.
Augenblicklich wurde das Kirchenschiff von einem mächtigen Summen und Brummen erfüllt, als sich abertausende Heuschrecken ihren Weg durch die nun offenen Fenster bahnten. Über dem Kreuz sammelten sie sich zu einem Schwarm, der hin und her zuckte. Fasziniert schaute Melvin ihnen zu. Aus Gerrits Gesicht sprach reiner Abscheu. „Was ist das?“, fragte er.
„Heuschrecken“, sagte Melvin und zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er. Hatte der Mann aus dem hohen Gras sie gerufen? Waren sie hier, um ihm zu helfen? Je mehr Insekten sich über dem Kreuz sammelten, desto stärker schlugen die Flügel in Melvins Brust.
Sobald der Schwarm alle Heuschrecken in sich aufgenommen hatte, flog er zur rechten Kirchenseite, wo er seine Gestalt veränderte. Über der Kanzel bildete er eine monströse Form mit Dutzenden länglichen Auswüchsen, die Melvin an die zuckenden Beinchen der sterbenden Heuschrecken unter dem Küchenfenster erinnerten. Aus der unförmigen Erscheinung wurde schließlich eine entfernt menschenähnliche Silhouette, mit Körperpartien, die er als Kopf, Rumpf, Arme und Beine differenzieren konnte.
„Halt den Nagel gerade!“, schrie Gerrit und holte ihn zurück in die Wirklichkeit. „Sonst hau ich dir die Hand oder den Arm zu Brei!“
„Du bist sowieso zu schwach, den Hammer zu schwingen.“
„Was sagst du da?“
„Du hast mich schon verstanden.“ Melvin war selbst überrascht ob der Festigkeit seiner Stimme. Da war nichts mehr, die Angst und die Verzweiflung wie weggeblasen, als hätten die Heuschrecken ihn von seinen Lasten befreit, allein mit ihrer Präsenz seinen inneren Aufruhr besiegt. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Für einmal in seinem Leben hatte er die Überhand, konnte die Dinge nach seinem Empfinden steuern, das spürte er ganz deutlich.
„Du behinderter Insektenfreak“, keifte Gerrit und seine Stimme bekam einen Bruch, klang jetzt so, wie Melvins Stimme immer geklungen hatte. Kraftlos. Jeglichen positiven Emotionen beraubt. Die Stimme eines Verlierers. „Halt den beschissenen Nagel gerade!“
Gerrit griff den Stiel mit beiden Händen. Seine Knöchel traten weiß hervor und er lehnte sich zurück auf den rechten Fuß. Mit verbissener Miene holte er Schwung für den ersten Schlag. Melvin hielt den Nagel nicht länger und ließ ihn umkippen. Der Mann auf dem Kreuz lächelte immer noch.
„Du warst es die ganze Zeit“, sagte Melvin und sah Gerrit an.
„Halt den Nagel! Halt den Nagel! Halt den Naaaag-“
Gerrit schwang den Hammer und ließ seinen zentnerschweren Kopf heruntersausen. Holz splitterte und barst. Er schlug erneut zu. Keuchend und schnaufend, unmenschliche Laute, völlig außer sich. Stein schlug auf Metall. Stein schlug auf Fleisch. Feiner Sprühregen legte sich auf Melvins Gesicht. Stein schlug auf Holz. Stein schlug auf Stein und Funken sprühten. Gerrits Schreie wurden hysterischer. Melvin spürte die Präsenz der Heuschrecken. Hörte ihre Brummen, fühlte das Zucken des Schwarms, das Mahlen ihrer Mandibeln. Er faltete die Hände. Manifestierte den Schwarm. Lauter. Stärker. Mächtiger. Bis er ihn komplett erfüllte. Melvin schloss die Augen.

Er konzentrierte sich, wartete darauf, dass er besser sehen konnte. Die Konturen der Gär- und Lagertanks schälten sich aus der Dunkelheit. Das Schlagen des Hammerkopfs dröhnte noch in seinen Ohren. Die Taschenlampe flackerte und strahlte dann mit voller Stärke, als würde sie ihm den Weg leuchten.
Er bemerkte, dass er Bier in seinem Mund hatte. Melvin spie es an den Bottich. Im Licht der Taschenlampe lief die Flüssigkeit glänzend über das Kupfer. „Ich weihe dieses Haus“, sagte er, holte Anlauf und schmetterte die leere Flasche gegen den Bottich.
„Hör auf damit“, wimmerte eine Stimme. Gerrits Stimme. Er war im Innern des Läuterbottichs gefangen und konnte nicht mehr hinaus. Melvin würde so lange warten, bis er zu einem Gespenst geworden war, ein Geist in seinem Kopf, der in Vergessenheit geriet. Vielleicht verirrte sich eines Tages ein Wanderer hierher und fand ihn, seine Leiche. Der Wanderer würde die Polizei alarmieren und die Beamten würden sich durch das Dickicht zur alten Brauerei hochkämpfen und alles mit ihren gelben Bändern absperren. Aber das war ihm egal. Wenn das geschah, wäre er längst nicht mehr hier.
„Lass mich raus“, flehte Gerrit. „Wir sind doch Freunde. Ich nehme alles zurück, was ich getan habe. Es war nicht böse gemeint!“
„Das sagst du immer. Ich glaube dir nicht. Ich habe dir nie geglaubt.“
„Ich schwöre es. Ich schwöre es!“
„Halt die Klappe!“, schrie Melvin. Er schlug mit den Knöcheln gegen das Kupfer, um Gerrits Schwüre und seine Verzweiflung nicht mehr hören zu müssen. Spürte die Vibrationen im Bottich, nahm sie über die Hand auf in seinen Körper, in der Brust die ermattenden Schläge der Flügel, und es fühlte sich gut und befreiend und leicht an, als er mit aller Kraft dagegen hämmerte und sich Gerrits Wimmern in den Echos verlor.

Melvin torkelte. Ihm war schwindelig und seine Beine weich und wie aus Gummi. Hinter dem Rechteck des Eingangs glomm ein fahles Licht. Er zögerte, drehte sich noch einmal um. Lauschte. Da war kein Geräusch. Nichts. Nur eine Stille, als hätte die Nacht das ganze Universum verschluckt.
Er würde gehen. Nicht zurück ins Dorf, nicht zurück zum flotten Meister und seiner kranken Mutter. Er hatte all das und die Schule und die Kirche und die zerfallene Brauerei ein für alle Mal in dem Bottich eingeschlossen. Er würde Gerrits Rad im Gebüsch verstecken, die Yankees-Kappe hinterherschmeißen und sich in den Sattel seines eigenen Rades schwingen. Weil Gerrit jetzt keine Macht mehr über ihn besaß und er tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Er würde sich ins Haus schleichen, bevor seine Mutter erwachte und ihr einen Brief schreiben.
Danach würde Melvin losfahren, ohne sich umzudrehen. Tief in den Wald und auf der anderen Seite wieder hinaus. Er würde sehen, wohin ihn die Kraft in den Pedalen führte, und er würde so schnell treten, dass sein Rad abhob und er sich zu einer Heuschrecke mit durchsichtigen Flügeln verwandelte, und er flöge weg von der bitteren Nacht, weg von den Ruinen dieses Spätsommers, hinein ins hohe Gras. Wo er bereits das Angesicht des neuen Tages als schwachen Glanz auf den Halmen erahnen konnte.

 

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